»Es war nicht meine Niederlage. Wir ...« Skanga bemühte sich, ihren plötzlichen Zorn im Zaum zu halten. Er wollte sie wütend machen, warum auch immer. »Wir sind wieder gekommen, und seither sind es die Elfen, die flüchten. Wir waren besiegt, aber nicht vernichtet. Mein Volk ...« Skanga brach ab. Branbarts Aura hatte ihre Farbe verändert. Das Blau war gänzlich verschwunden und flammendem Rot gewichen. Der König sprang auf. Etwas war in seiner Hand. Das pulsierende Licht der Aura ließ nur undeutlich erkennen, was er hielt.
Skanga bückte sich nach ihrem Stab. Branbart trat ihr vors Knie. Sie taumelte zur Seite. Das Lichtgeflecht des magischen Kokons flackerte einen Herzschlag lang. Der Zauber! Sie biss die verbliebenen Zähne zusammen, sodass sich die Stümpfe ins weiche Fleisch ihrer Kiefer gruben. Wenn der schützende Zauber verging, wären sie tot. Sie hatte sich von diesem dreimal verfluchten Yingiz hereinlegen lassen! Wie bei einem jungen Weibchen, dem zum ersten Mal der Duft eines brünstigen Kriegers in die Nase stieg, hatte die Schattengestalt mit heuchlerischen Worten ihre Sinne verwirrt. Nie war es dem Yingiz darum gegangen, wie sie sich gefühlt hatte, als ihr Volk vertrieben worden war. Er hatte sie nur ablenken wollen, damit sie nicht bemerkte, wie ein anderer Flüsterer Branbarts Zorn immer mehr aufstachelte und dem König seine Angst nahm.
»Du tust mir Unrecht!«, spottete die Stimme in ihrem Kopf. »Ich hege aufrechtes Interesse an dir und deinen Gefühlen, Schamanin. Ich werde dich kennen lernen, durch und durch, sobald ich dein Lebenslicht in mich aufgenommen habe. Nicht mehr lange, Weib, und du gehörst mir.«
Branbart zerrte sie zu Boden und rammte ihr ein Knie in den Leib. Skanga spürte, wie sich die gebrochenen Rippen verschoben. Sie keuchte vor Schmerz.
»Du bringst uns beide um, Branbart! «, stieß sie hechelnd hervor. »Begreif das doch!«
»Du hast mich dazu verführt, meine Krieger hierher zu bringen, alte Vettel. Es ist deine Schuld, dass mein Heer verloren ist. Dafür wirst du büßen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Viel zu lange habe ich deinen geflüsterten Lügen gelauscht!« Seine Rechte hob sich.
Skanga sah den langen Mammutbeindolch als einen Schatten, der sich undeutlich gegen das pulsierende Licht der Aura des Königs abhob. Mit der Linken tastete die Schamanin nach dem Albenstein, während sie die Rechte hob, um den tödlichen Stoß abzuwehren. Es gab nur noch einen Weg ...
»Ja, du hast Recht. Bring ihn um! Er ist ein Narr. Du wärst deinem Volk eine viel bessere Herrscherin als dieser verrückte König«, flüsterte der Yingiz in ihren Gedanken. »Fass dir endlich ein Herz. Du weißt doch schon lange, dass Branbart der Fluch deines Volkes ist. Bring ihn um! Du kannst es!«
Das Blau der Angst leuchtete in der Aura des Trollkönigs. Hatte auch er die letzten Worte gehört? Sprach dieser verfluchte Yingiz gleichzeitig zu Branbart?
Skanga schloss die blinden Augen. Ihre Hand umklammerte den Arm des Königs, doch reichte ihre Kraft bei weitem nicht aus, um ihn niederzuringen. Unerbittlich senkte sich der Mammutbeindolch ihrer Kehle entgegen.
Leise murmelte die Schamanin die verbotenen Worte der Macht. Ihr wurde kalt. Die Macht des Albensteins fegte die Stimmen der Yingiz aus Branbarts Bewusstsein. Nun war sie die Stimme in seinem Verstand.
»Hör auf, mein Gebieter! Sie sind der Feind! Nicht ich! Sie sinnen einzig auf unsere Vernichtung.« Sie konnte die blinde Wut des Königs spüren. Er verschloss sich vor ihr. Der verdammte Trottel glaubte den Yingiz.
Ihr Armgelenk knackte. Nur Augenblicke noch, und der Dolch würde ihre Kehle treffen. Sie konzentrierte sich auf den Arm des Königs. Branbart ließ ihr keine andere Wahl. Einen Herzschlag lang spürte Skanga jugendliche Kraft.
»Tu es!«, rief die Stimme in ihrem Kopf. »Er ist der Fluch deines Volkes! Töte ihn endlich.« Sie zögerte. Wenn Branbart im Nichts starb, würde er niemals wiedergeboren werden. Sie könnte einen neuen König unter den Trollen erwählen. Oder sie könnte selbst nach der Macht greifen ... Es gab so vieles, das die Krieger in ihrer tumben Art verdarben. Niemand würde sich ihr in den Weg stellen, wenn sie die Herrschaft an sich riss.
Skanga bog den Arm des Königs zurück. Sie beherrschte seine Muskeln und Sehnen, als gehörten sie zu ihrem eigenen Leib. Branbart musste hilflos miterleben, was sie ihm antat. Die Spitze des Dolchs zeigte nun auf seine Brust.
»Nimm das Schicksal deines Volkes in die Hand!«, forderte der Yingiz feierlich. »Sei mutig! Bekenne dich zu deinen geheimen Wünschen.«
Sengender Schmerz ließ Skanga und Branbart zugleich aufschreien. Deutlich spürte die Schamanin, wie die Klinge über Knochen schrammte und Knorpel zerteilte. Hastig zog sie sich aus den Gedanken des Königs zurück.
Fassungslos starrte sie auf den Herrscher, der sich neben ihr zusammenkrümmte. Fast hätte sie dem Yingiz nachgegeben! Im allerletzten Augenblick erst hatte sie den Stoß vom Herzen weggeführt. Das Messer ragte seitlich aus Branbarts Brust. Die Klinge hatte sein linkes Schultergelenk durchbohrt.
»Du hast mich zum Krüppel gemacht«, jammerte der König.
»Verdammte Vettel. Ich hasse dich!«
»War das klug?«, meldete sich die ungeliebte Stimme in ihrem Verstand. »Damit hast du die Entscheidung nur hinausgeschoben. Gesteh dir deine Niederlage ein, Skanga.«
»Du kennst dich mit Niederlagen aus, nicht wahr? So wie uns die Elfen vertrieben haben, ist dein Volk von den Alben davongejagt worden. Nur, dass ihr niemals die Kraft gefunden habt zurückzukehren. Wie kannst du glauben, ich würde mich dir unterwerfen, Yingiz? Ich finde einen Weg! Ich bin es, die sich nach jeder Niederlage wieder erhoben hat und die jeder Rückschlag stärker werden ließ. Du wirst mich nicht besiegen! Mich nicht und auch Branbart nicht!«
Sie erhielt keine Antwort. Etwas hatte sich verändert.
Sie spürte eine pulsierende Macht, irgendwo dort draußen, jenseits des schützenden Kokons. Sehen konnte sie nichts. Ihr magisches Auge war wie geblendet. In dichten Trauben umgaben die Yingiz jetzt den Kokon. Ihre Schatten waren wie Schleier. Vielstimmig erklang ihr Flüstern. Skanga spürte, dass sie sich bemühten, etwas vor ihr zu verbergen. Das Pulsieren ... Ganz in der Nähe musste ein Albenpfad sein!
Die Schamanin führte den Albenstein an ihre welken Lippen und küsste ihn. »Hört ihr mich, ihr Alben?« Sie flüsterte, doch die Yingiz hatten dennoch jedes ihrer Worte verstanden. Vielstimmiges Geschrei erhob sich, schrill und schmerzend. Skanga hatte das Gefühl, als sei ihr Kopf voller sich windender, glühender Würmer.
»Bitte erhört mich, ihr Alben, wo immer ihr auch sein mögt!«
Warmes Blut troff von ihrer Nase und benetzte ihre Lippen.
»Führt mich aus der Finsternis! Erinnert euch, ich bin eines eurer Kinder! Rettet meine Seele! Und wenn ihr nicht mich rettet, so schützt zumindest meinen König!«
Skanga spürte, wie die Yingiz miteinander verschmolzen. Sie bündelten ihre Kraft und unterwarfen all ihre Bosheit einem einzigen Willen.
Skanga hatte das Gefühl, dass eisige Klammern sich um ihre Brust schlossen. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie fühlte sich müde. Selbst das Blut schien langsamer in ihren Adern zu fließen.
»Ruf nicht nach den Alben in unserem Reich!« Es war die Stimme, die schon die ganze Zeit über in ihrem Kopf geklungen hatte. Jetzt mühte sie sich nicht mehr um falsche Freundlichkeit. »Hier haben sie keine Macht. Deine Stunde ist gekommen, Schamanin! Wir sind es müde, mit dir zu spielen. Glaubst du, dein lächerlicher Zauber könnte uns aufhalten? Es bedurfte der Macht der Alben, um die goldenen Pfade zu schützen. Wir können dich nicht berühren. Jedenfalls noch nicht ... Und doch sind wir tief in dir. Wir sind dir näher, als sich Wesen aus Fleisch und Blut jemals kommen können. Sie reiben nur Haut an Haut. Doch wir sind tief in dir, nahe an deiner Seele. So tief, wie du in Branbart gesteckt hast. Du hast seine Kraft gespürt, seine Jugend und seinen Schmerz, als du ihm den Dolch ins Fleisch getrieben hast. Spürst du eigentlich dein Herz? Nein, Skanga, ich bin kein Dichter und Worteschmied. Ich meine es so, wie ich es sage, ganz ohne poetischen Hintersinn. Spürst du dein Herz, altes Weib?«