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Der Wolfself löste den Ledergürtel, der ihn mit dem Himmelssteig verband, jener Holzstange, die es ihm erlaubte, mit den Adlern zu fliegen.

Überall im Hof stiegen Rauchfontänen auf. Artaxas und alle Adler seiner Kampfgefährten kreisten jetzt über dem Jagdschloss, von dem Nossew ihnen erzählt hatte. Sie wagten es nicht, ihm zu folgen. Zu erdrückend war die Übermacht der Kobolde. Sie hatten darauf gehofft, die Besatzung zu überrumpeln, die Burg mit ihren Rauchtöpfen in erstickenden Qualm zu hüllen und Leylin zu befreien, während unter den Kobolden Panik um sich griff. Eine Landung mitten unter fünfhundert kampfbereiten Armbrustschützen hingegen war Selbstmord.

Melvyn war es egal, was mit ihm geschehen würde. Aber das Leben seiner Gefährten würde er nicht leichtfertig opfern.

Wolkentaucher spreizte die Flügel und fing den Sturzflug ab. Der dichte Rauch wirbelte in Spiralen über den Hof.

Melvyn sprang vom Himmelssteig. Er rollte sich ab, um dem Aufprall an Wucht zu nehmen. Ein Stich fuhr durch seine verletzte Schulter. Aus der Rolle heraus kam er auf die Beine. Rings herum richteten sich Armbrüste auf ihn. Er ignorierte sie, so wie Hauptmann Madrog ihn ignorierte. Der Kobold ging an ihm vorbei auf die Reihe der Lehnstühle zu.

Der Rauch hatte ein faseriges Tuch vor die Leichen der Fürstenfamilie gezogen. Madrog hob die Hand.

Melvyn ging neben dem Hauptmann in den Rauch. Er sah Shandral, der grässlich zugerichtet war. Dutzende Armbrustbolzen hatten seine Brust durchschlagen. Sein Gesicht war von Geschossen zerfetzt. Melvyn erkannte den Fürsten nur noch an seinem langen, goldblonden Haar. Neben ihm saß sein jüngerer Bruder zusammengesackt in seinem Lehnstuhl. Melvyn versuchte vergeblich, den erstickenden Rauch zur Seite zu wedeln. Leylins Kopf war ihr auf die Brust gesunken. Ihre Hände hatten sich in die Lehnen gekrallt. Doch er sah kein Blut auf ihrem weißen Kleid. Sie zitterte ... Sie lebte!

Melvyn ließ sein Schwert fallen, beugte sich vor und schloss sie in die Arme. »Leylin«, stammelte er immer wieder.

»Leylin!«

Ihre Hände tasteten über seinen Nacken.

»Mein Geliebter?« Ihre Stimme klang zögerlich. Ein Schluchzen ließ ihren Leib erzittern.

»Lass mich die Fürstin sehen, Wolfself«, forderte eine harsche Stimme.

Noch ganz benommen vor Glück, seine Liebste unversehrt zu sehen, gehorchte Melvyn.

Madrog starrte Leylin mit großen Augen an. Er schüttelte den Kopf. Dann lächelte er plötzlich. »Das Volk hat entschieden, der Fürstin das Leben zu schenken! Wo fünfhundert sich einig sind, muss Gerechtigkeit walten. Niemand hat auf die Fürstin angelegt. Sie ist frei zu gehen«, verkündete er mit schnarrender Stimme.

»Danke«, sagte Melvyn. »Danke, Madrog. Ich habe mich in dir geirrt.«

Der Kobold blickte zu ihm auf. »Täusche dich nicht in mir, Elf. Von nun an gibt es keinen Madrog mehr. Ich bin Kommandant Skorpion von der ersten Front zur Befreiung Albenmarks. Wenn wir uns wieder begegnen, werde ich gegen dich kämpfen.«

Der gedrungene Kobold mit seinem nietenbeschlagenen Wams musterte ihn. Er strich sich nachdenklich über den eckig gestutzten Bart und sah zu Leylin. »Unglaublich!«

Er hob den Arm. »Die Waffen nieder, Männer! Die beiden haben freien Abzug. Heute haben wir den Kobolden Arkadiens das Tyrannenjoch von den Schultern genommen und wurden Zeugen, wie das Volk Gerechtigkeit übt. Ihr habt Geschichte geschrieben, Männer. Lasst die beiden Liebenden ziehen!« Melvyn hob Leylin vom Stuhl.

Er strich ihr über die Beine ... Sein Herz setzte einen Augenblick aus zu schlagen. Das war unmöglich! Er wagte es gar nicht, an ihr herabzublicken.

»Dort ist das Tor«, drängte Madrog.

»Es lebe der Skorpion«, riefen einige der Schützen. »Es lebe die Revolution!« Immer mehr der Spinnenmänner stimmten in die Jubelrufe ein.

Am Tor blieb Madrog stehen. »Ich weiß, dass ein großer Trupp Elfen und Kentauren hierher unterwegs ist, und ich denke, es steht in deiner Macht, sie aufzuhalten, Wolfself. Es wäre doch traurig, wenn so ein Tag der Wunder doch noch mit vielen Toten enden würde. Ich werde mit meinen Kriegern noch heute Nacht in die Wälder ausweichen. Ab morgen gehört das Jagdschloss wieder euch ... Bis die Trolle kommen.«

»Ich bin jetzt die Fürstin Arkadiens.« Leylins Worte waren nur ein Flüstern. Sie hielt den Kopf an seinen Hals gepresst. Offensichtlich hatte Madrog sie dennoch gehört. Eine tiefe Falte grub sich zwischen seine Brauen.

»Ich werde verbieten, euch zu verfolgen.«

Der Kommandant kratzte sich nachdenklich den Bart. »Wir werden sehen ...«

Er blickte zu Melvyn. »Wenn du verrückter Wolf mir das nächste Mal auf den Kopf springst, dann verspreche ich dir, wird der Skorpion stechen. Es wird wieder sein wie in Feylanviek.« Er schenkte Melvyn ein bärbeißiges Lächeln. Dann drehte er sich um und ging zurück ins Jagdschloss.

Das Antlitz des Unsichtbaren

Die Tür zum Falrach-Zimmer schwang auf. »Kadlin vom Fjordland und der Baumeister Gundaher«, verkündete Hofmeister Alvias steif.

Emerelle war kurz eingenickt. Müde hob sie den Kopf. Sie saß in einem Lehnstuhl vor dem prächtigen Falrach-Tisch, der das kleine Zimmer beherrschte. Gestern hatte das Heer der Trolle die Shalyn Falah erreicht. Nur die breite Schlucht trennte sie jetzt noch vom Herzland. Das Ende stand unmittelbar bevor.

»Man kniet vor der Königin«, hörte sie den Hofmeister flüstern.

»Ich knie vor niemandem nieder!«, entgegnete die junge Frau trotzig, während der Baumeister dem Befehl folgte.

»Man widerspricht nicht dem Hofmeister ...«

Emerelle unterbrach Alvias mit einem Winken. »Lass es gut sein. Wir wissen doch, wie die Fjordländer sind, Alvias.«

»Wenn wir anfangen, Ausnahmen zu machen, bricht das ganze Hofzeremoniell zusammen«, sagte Alvias ruhig, doch in seinen Augen standen Sorge und Zorn.

»Einigen wir uns darauf, dass das Zeremoniell nur für Albenkinder gilt?« Sie war zu müde zum Streiten, ja selbst zu müde, um Befehle zu geben. Und worum ging es überhaupt? Schon morgen um diese Stunde mochten alle Zeremonien des Elfenhofs für immer gestorben sein.

Sie betrachtete Kadlin. Mit dem roten Haar und ihrem trotzigen Blick erinnerte sie das Mädchen an Mandred. Sie trug ein schlichtes, blaues Seidenkleid, das ihr gut stand. In ihren Händen hielt sie ein kleines, abgegriffenes Buch.

»Ich habe von deiner Heldentat gehört.« Die Sprache der Fjordländer ging Emerelle nicht ganz flüssig über die Lippen. Sie hatte sie lange nicht mehr gebraucht.

Ein kurzes Lächeln huschte über das Antlitz der jungen Frau. Sie schien erfreut zu sein, in ihrer Muttersprache angesprochen zu werden.

»Baumeister, erhebe dich. Du hast mir Ehre erwiesen. Es ist genug.« Emerelle hatte sich das Schwert von Kadlin bringen lassen und es gemeinsam mit Alathaia untersucht. Die Waffe hatte nichts Magisches an sich. Sie war nichts Besonderes, im Gegenteil. Sie war aus schlecht verhüttetem Eisen geschmiedet. Im Kampf gegen eine Klinge aus dem Silberstahl der Elfen würde sie in Stücke gehackt werden. Vielleicht war es gerade diese Unvollkommenheit, die den Shi-Handan getötet hatte. Alathaia war der Auffassung, das Schwert sei einem der Menschengötter geweiht und diese fremde Art von Zauber könne kein Geschöpf Albenmarks ergründen.

»Kadlin und Gundaher, ihr hattet den Wunsch, mich zu sehen. Was ist euer Begehr?« Das Mädchen hielt ihr das Buch hin.

»Der Baumeister weiß, woher der Shi-Handan kam. Er kennt den Mann, der ihn erschaffen hat. Sein Name ist Bruder Jules. Er ist ein Tjuredpriester.« Der Baumeister stöhnte. Sein Gesicht war aschfahl geworden, als leide er große Schmerzen.

»Ich bitte dich, sieh dir dieses Buch an.« Gundaher schwankte. Alvias trat vor und fing den Mann auf, bevor er stürzte.

Emerelle erhob sich. Sie umrundete den Falrach-Tisch und kniete nieder. Ihre Hände umfassten die Schläfen des Menschen und hatte Teil an seinem Schmerz. Sie spürte die fremde Macht, die den Baumeister gezeichnet hatte. Und sie spürte die Nähe des Todes. Ein stummes Kräftemessen begann. Emerelle hörte Kadlin sprechen, doch sie konnte dem Sinn ihrer Worte nicht folgen. All ihre Kraft musste sie aufbieten, um dem, was Gundaher töten wollte, zu widerstehen. Ihre Linke umklammerte den Albenstein, den sie auf ihrer Brust trug. Sie spürte, wie sich etwas tief im Kopf des Baumeisters bewegte. Etwas, das durchdrungen war von Magie, Bosheit und Hunger.