Skanga wusste, dass sie sich nicht darauf einlassen durfte. Sie musste sich den Yingiz widersetzen, oder sie würden die Herren ihrer Gedanken werden! Kam sie ihnen nur einen Schritt entgegen, dann würde sie ihre willenlose Dienerin werden, so wie Branbart ihr Sklave geworden war. Und dennoch mochte sie sich dem Gift ihrer Worte nicht zu verschließen. Ihr Herz .... Sie spürte seine müden, schweren Schläge. Es war erschöpft. Es sehnte sich danach zu ruhen.
Kalte Angst übermannte Skanga. Waren das noch ihre Gedanken? Ihr Herz war nicht müde! Ihr Blut fühlte sich zäh an, wie kaltes Bratenfett. Es verharrte in ihren Adern, denn ... Skanga keuchte auf. Denn ihr Herz schlug nicht mehr! Das gaukelten sie ihr nur vor, das konnte nicht sein! Diese Macht konnten sie doch nicht haben! Ihr Kokon schützte sie. Es durfte nicht...
Der Schamanin wurde schwindelig. Mit beiden Händen umklammerte sie den Albenstein. »Bitte helft mir!«, flüsterte sie, um jedes Wort ringend. Ihre Lippen waren jetzt wie Stein, schwer und taub. Sie wollten keine Silbe mehr preisgeben.
Das war nicht sie! Erinnere dich daran, wer du bist!, ermahnte sie sich. Sie war schon oft besiegt worden, aber sie hatte dennoch nie aufgegeben. Ihr Herz würde auch nicht einfach aufgeben, ihr den Dienst verweigern ... Das war Trug! Das konnte nicht sein! Wenn sie starb, dann auf einem Schlachtfeld, durchbohrt von Lanzen und Schwertern ihrer Feinde, der verfluchten Elfen, die ganz Albenmark ihre Art zu leben aufzwangen. Sie waren wie ein dichtes Dornengestrüpp, und alle anderen Albenkinder hatten sich in diesem Dickicht verfangen. Die Dornen bestimmten, wie weit man sich bewegen konnte, und wer gegen die engen Grenzen aufbegehrte, der spürte sie in seinem Fleisch. In Albenmark konnte man nicht einmal mehr frei atmen! Skanga war zutiefst überzeugt, dass es ihr Schicksal war, Emerelles Tyrannei zu brechen. Sie hatte es schon gewusst, bevor die Trolle in die Verbannung getrieben worden waren. Und in all den ungezählten Jahren, die seitdem verstrichen waren, hatte sie ihr Ziel niemals aufgegeben. Sie würde nicht gestatten, dass ihr Herz jetzt aussetzte. Das war nicht sie!
Die Schamanin reckte sich, dass ihre Gelenke krachten. Sie konnte wieder frei atmen! War auch das eine Falle, oder hatte sie den Bann der Yingiz gebrochen? Der Kokon, der sie vor den bösen Geistern aus der großen Leere schützte, hatte sich ausgedehnt. Er war weit wie eine der himmelhohen Hallen, die das Elfenvolk der Normirga in die Berge der Snaiwamark geschlagen hatte. Klares, blaues Licht umgab sie. Und nicht weit vor ihr leuchtete ein goldener Pfad.
Skanga griff sich an die Brust. Sie spürte ihr Herz schlagen. War all dies nur der letzte Traum einer Sterbenden? Ganz gleich, sie würde ihren Weg gehen. Nicht darüber nachdenken... Zweifel, sie waren das Gift der Yingiz. Selbst wenn all dies nur Trug war, dann würde sie bis zuletzt ihr Ziel verfolgen.
Skanga half dem wimmernden König auf. Als er sich bewegte, begann seine Wunde wieder zu bluten. Noch immer steckte ihm der Dolch in der Schulter. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Wie ein geprügelter Hund kam er ihr vor.
Skanga spürte die Kraft der Magie, als sie den goldenen Pfad erreichten. Das war keine Illusion! Sie waren den Yingiz entkommen. Mit jedem Schritt, den sie tat, spürte sie ihre Kräfte zurückkehren. Sie waren gerettet.
Bald schon erreichten sie einen Albenstern. Ein Wort genügte, und ihr öffnete sich ein Tor. Noch ein Schritt .... Wolkenloser Himmel spannte sich über Skanga. Sie stand in einem Steinkreis auf einem Hügel mit sanft ansteigenden Flanken. Deutlich zeigte sich das Land ihrem magischen Auge. Sie spürte die Kraft des Steinkreises und den Frieden, den dieser Ort atmete. Hier war lange kein Blut mehr vergossen worden. Sanft streichelten die Strahlen einer gnädigen Frühlingssonne ihre Haut. In weiter Ferne verschmolzen Grasland und Himmel zu einer unscharfen Linie. Dazwischen erstreckten sich flache, lang gezogene Hügel. Und gleich Inseln erhoben sich kleine Waldstücke aus dem Grasland, umspielt von einer Aura aus weißem Licht. Dazwischen, wie Gemmen, die verschiedenfarbigen Auren der Tiere. Größer hätte der Gegensatz zur beklemmenden Finsternis des Nichts nicht sein können! Skanga wusste nicht, wo sie waren. Der klare Himmel gehörte zu Albenmark und nicht in die Welt der Menschen, da war sie sich sicher. Doch die Landschaft war ihr fremd. Hier war sie nie zuvor gewesen.
Branbart zog die Nase hoch und sammelte den Rotz mit einem gurgelnden Geräusch in seinem Mund. Er spuckte aus.
Skanga drehte sich zu ihm um. Das Tor zu den Albenpfaden hatte sich schon wieder geschlossen. Nur der Steinkreis verriet, dass sich Kundigen an diesem Ort das wunderbare Wegenetz der Alten öffnen mochte.
Branbart stand gebeugt. Die Rechte umklammerte den Dolch in seiner Schulter. Er hielt den Kopf abgewandt und wich ihrem toten Blick aus. Der König stank nach dem kalten Schweiß unterdrückter Schmerzen und nach Blut.
»Ich habe mich wohl wie ein Narr benommen«, stieß er knurrend hervor.
»Du bist ein großer Krieger, Branbart. Aber gegen die Schatten bist du so hilflos wie ein Welpe, der einem hungrigen Bären begegnet.« Jetzt endlich sah er zu ihr auf. Skanga erkannte an seiner Aura, dass ihm der Vergleich mit dem Welpen nicht gefallen hatte, auch wenn er sich Mühe gab, seine Wut im Zaum zu halten.
»Du musst jetzt ruhen«, sagte sie sanft. »Ich kann dir einen leichten Schlaf schenken.« Skanga streckte die Hand vor, um ihn an der Stirn zu berühren. Ein Wort würde genügen, um ihn einschlafen zu lassen. Doch der König zuckte vor ihr zurück.
»Du musst mich nicht fürchten. Alles, was geschah, habe ich allein getan, um dich zu schützen. Das weißt du doch.«
»Ja.« Branbart hatte ein wenig zu lang mit seiner Antwort gewartet, um noch glaubwürdig zu klingen.
»Du hast eine große Seele, mein König. Es ist dir bestimmt, über dein Volk zu herrschen, so wie es mir bestimmt ist, dich zu beschützen. Ich habe dir immer treu gedient, das weißt du.«
Das Rot von Branbarts Aura wurde blasser und ging in ein schlammfarbenes Braun über, die Farbe des Zweifels. Geräuschvoll zog der geschundene Krieger die Nase hoch und spie einen Klumpen Rotz aus. Bei einem unsinnigen Duell, geboren aus einem Wortgeplänkel bei einem Saufgelage, hatte der König einen schweren Schlag gegen die Stirn erhalten. Direkt an der Nasenwurzel waren die Knochen zersplittert. Die Schamanin hatte trotz all ihrer Kraft viele Wochen gebraucht, um die Verletzung zu heilen. Branbart war stark, er hatte das Fieber überstanden und die Schmerzen. Doch durch die Verletzung troff seine Nase. Ein nicht enden wollender Strom aus zähem Schleim vergällte ihm das Leben. Alle paar Augenblicke musste er die Nase hochziehen und ausspucken. Und nachts wurde er immer wieder hustend wach, voller Panik, der Schleim könne ihn ersticken. Branbart hatte all das überlebt, doch der Schleim hatte seinen Stolz erstickt. Ständig glaubte er, dass man hinter seinem Rücken über ihn spottete. Längst umgab er sich nur noch mit Kriegern, die ihm nach dem Mund redeten. Aber er war trotz allem ein tapferer Krieger geblieben. Während der Schlachten der Trollkriege hatte man ihn stets in der vordersten Reihe kämpfen sehen. Skanga befürchtete, dass die Yingiz ihm nun auch noch die Tapferkeit genommen hatten.
Branbart brauchte sie mehr denn je. »Wir werden in die Snaiwamark zurückkehren und ein neues Heer aufstellen«, sagte die Schamanin voller Zuversicht.