»Du musst den Wachen das Kupfertäfelchen zeigen. Das ist unser Passierschein«, raunte Ganda.
Ollowain war an der Reihe, doch statt das Tor zu durchschreiten, war er stehen geblieben und starrte den Priester an.
Der Wachmann stellte eine Frage.
»Nun mach schon«, drängte Ganda.
Ollowain drückte dem Krieger das Kupfertäfelchen in die Hand. Sie wurden durchgewunken und pflichtgemäß mit Wasser besprengt. Auf eine Spende für den Gott des Glatzkopfs verzichtete er, was ihm einen bösen Blick des Priesters einbrachte.
Hinter dem Tor erstreckte sich eine breite, ordentlich gepflasterte Straße bis tief ins Herz der Stadt. Der Schwertmeister war überrascht zu sehen, wie groß Iskendria war. Die hohe Hafenmauer hatte das Häusermeer vor seinen Blicken verborgen. Nach Norden hin stieg ein flacher Hügel an. Dort standen prächtige Paläste und Tempelanlagen. »Ich hoffe, die Königin hat dir gesagt, wohin wir gehen sollen.«
»Du wirst mir wohl vertrauen müssen.« Ihr unverschämtes Grinsen unterstrich das Paradoxon, solche Worte aus dem Mund einer Lutin zu vernehmen. Sie deutete zu den Hügeln.
»Wir müssen dorthin. Emerelle hat mir den Weg beschrieben. Da gibt es ein großes Handelskontor. Eine Elfe, die sich als Menschenweib verkleidet, leitet es. Sie heißt Sem-la. In ihrem Haus, verborgen in einem Kellergewölbe, liegt der Albenstern, der uns in die Bibliothek führen wird.«
Ollowain ergab sich in sein Schicksal; er war der kleinlichen Streitereien müde. »Geh voraus und zeig mir den Weg. Und dann erzähl mir endlich die Geschichte, die du dem Hauptmann der Wachen aufgetischt hast.«
Ganda räusperte sich. »Wissen macht einen nicht immer glücklicher. Das ist doch völlig belanglos.«
»Nicht für mich.«
»Dann schwöre mir, dass du nicht zornig wirst. Ich wollte dich davor bewahren.«
»Rede endlich!«
»Du musst erst schwören.«
Was dachte diese Lutin sich eigentlich? Dass er in wilder Raserei mit dem Schwert über sie herfallen würde? »Ich schwöre, dass ich nicht zornig werde und dich nicht schlagen werde oder dir irgendein anderes Leid zufüge. Und jetzt rede.«
Gandas Augen blitzten verschlagen. »Gut. Du giltst als der Ehrenhafteste unter den elfischen Schwertfuchtlern. Ich stelle mich also unter den Schutz deines Eides. Es ist übrigens dieselbe Geschichte, die ich dem Kapitän der Galeere über dich aufgetischt habe.«
Von Märchen, Gottesbräuten und einer Verbannten
Der Elf hielt sich so steif, als habe man ihm das Schwert in den Allerwertesten geschoben. Welch ein überheblicher Bastard! Aber seinem Eid konnte man gewiss trauen.
Ganda überlegte kurz, ob sie ihre Geschichte noch weiter ausschmücken sollte, verwarf den Gedanken daran aber wieder. Auf die Vorgeschichte ging sie nicht weiter ein. Wenn er darum wüsste, würde er sich weniger ärgern, und er war irgendwie süß, wenn er mit seinem Zorn rang.
»Ich habe den Seeleuten erzählt, dass wir zum Volk der Söhne Zeynels gehören«, begann Ganda im verhaltenen Tonfall der blinden Märchenerzähler von Tanthalia. »Das ist ein bedeutender Nomadenstamm, der tief im Süden über die großen Handelswege durch die Wüste wacht und dort alle Oasen beherrscht. Du bist Arban ben Chalasch, der Verbannte. Hübscher Name, nicht wahr?«
Sie blickte zu ihm auf. Jedes Mal musste man den Kopf in den Nacken legen, wenn man mit einem Elfen sprach. Nie kamen sie auf die Idee, dass es für die Lutin vielleicht angenehmer wäre, wenn man sich zum Reden setzte. Ollowain hob eine Braue.
»Ja, ja. Ich erzähl schon weiter. Also, ich habe erklärt, dass du mein Vater bist und dass du der beste Schwertkämpfer unseres Fürsten Karim warst. Wann immer es Zwistigkeiten zwischen den Sippen gab, die Worte nicht mehr beizulegen vermochten, hat er dich geschickt. Und du bist niemals besiegt worden. So mehrten sich von Jahr zu Jahr dein Ruhm und der Reichtum unseres Fürsten. Leider wuchs die Zahl eurer Neider noch schneller. Und da kein Schwert dich zu besiegen vermochte, mussten Worte das Werk vollbringen, für das Stahl zu schwach war. Zunächst versuchte man dich mit den Reizen schöner Sklavinnen zu locken, doch du warst meiner Mutter in so inniger Liebe zugetan, dass auch dieser Versuch, dir zu schaden, keine Früchte trug. Da deine Feinde keine Schwäche bei dir finden konnten, versuchten sie es nun umso verzweifelter bei unserem Fürsten. Und so edel und gerecht Karim auch war, fanden sie tatsächlich einen Punkt, in dem die Taten unseres Fürsten nicht von kühlem Verstand, sondern von heißem Herzen gelenkt wurden. Du musst wissen, edler Vater, unser Fürst war bei all seinen Vorzügen kein sehr ansehnlicher Mann. Ihm gereichte zum Vorteil, dass die Männer unseres Volkes ein bodenlanges Gewand tragen und sich verschleiern, um sich vor dem brennenden Blick der Sonne und dem erstickenden Staub in der Luft zu schützen. Seit einer Krankheit in Kindertagen waren Leib und Antlitz des Fürsten Karim von hässlichen roten Narben entstellt. Desto mehr erfüllte es ihn mit Stolz, dass er die wunderbare Arsinoe zum Weib hatte gewinnen können, von deren gazellenhafter Schönheit man selbst in den Palästen Iskendrias sprach. Hier nun setzten eure Feinde zum tödlichen Stoß an. Sie bestachen die Berater des Fürsten und sponnen ein Netz feiner Lügen um dich und die schöne Arsinoe. Mal hieß es, dein Blick habe einen Herzschlag zu lange auf ihrem wunderbaren Antlitz verweilt, dann tuschelte man, du habest über den Fürsten gespottet, weil er noch immer kein Kind gezeugt habe. Ja, manche munkelten sogar, du seiest ein so treuer Diener, dass du im Geheimen darüber nachdächtest, den Fürsten und seine Gemahlin vom Makel der Kinderlosigkeit zu befreien. So wie Wind und Wüstensand mit der Zeit selbst den härtesten Fels nach ihrem Willen formen, so blieben auch die giftigen Worte auf Dauer nicht ohne Wirkung. So sehr Fürst Karim dir auch vertraute, langsam begann die Saat des Zweifels in seinem Herzen zu keimen. Er schickte dich auf lange Reisen, damit du und Arsinoe nicht am selben Ort weilten. Immer herrischer wurde er in seinen Forderungen gegen seine Nachbarn, immer dünner der Schild seiner Ehre, und immer häufiger fand er einen Grund, dich zu schicken, um seine Händel auszufechten. Manch wackerer Krieger musste sterben, weil Karim fürchtete, dich in seiner — und somit auch Arsinoes — Nähe zu wissen. Wohl niemals wird man erfahren, was dir letztlich zum Verhängnis wurde, ob es der Wille eines übellaunigen Gottes war, ein tragischer Zufall oder ein letzter geschickter Streich deiner Feinde. Es geschah an einem heißen Frühlingsmorgen, dass Arsinoe aufbrach, um in ihrem Oasengarten Einsamkeit und köstliche Kühle zu suchen. Du sahst sie von fern und grüßtest sie. Doch wagtest du dich nicht in ihre Nähe, denn auch du hattest schon von den dunklen Gerüchten gehört, die sich um dich und die schöne Fürstin rankten, und wolltest diesen Geschichten keine neue Nahrung geben. Zumal Arsinoe ohne ihre Dienerinnen gekommen war und es auch sonst niemanden im Garten gab, der hätte bezeugen können, dass dies nicht der Ort eines heimlichen Stelldicheins war. Du wolltest dich gerade entfernen, als Arsinoe einen überraschten Schrei ausstieß. Dann stöhnte sie und sank zu Boden, wie von einem unsichtbaren Dolch gefällt. Alle Vorsicht außer Acht lassend, liefst zu deiner Herrin, und als du sie erreichtest, sahst du noch gerade eben einen Todeskussskorpion im Rosendickicht verschwinden. Das Gift dieser tückischen Bestie lässt sengenden Schmerz durch alle Adern rinnen, doch seine heimtückischste Wirkung ist, dass es dem Herzen den Mut zu schlagen nimmt. Arsinoe lag hingestreckt vor dir am Ufer eines kleinen Teiches, umgeben von weißen Lilien. Sie hörte schon nicht mehr, wie du sie beim Namen riefst. Und so tatest du, was jeder Aufrechte getan hätte. Du beugtest dich zu ihr hinab, um selbstlos um ihr Leben zu kämpfen. Ein weiserer Mann hätte vielleicht um Hilfe gerufen und eher an seinen Ruf gedacht, doch Weisheit und stolze Ehrenhaftigkeit gehen oftmals nicht Hand in Hand. Als man dich fand, hattest du noch immer nicht aufgegeben, um deine Fürstin zu ringen, und du warst dir sicher, dass ihr Herz wieder zu schlagen begonnen hatte, schwach und unregelmäßig wie der Flügelschlag eines Vogels, der zum ersten Mal seine Fittiche ausstreckt. Doch man zerrte dich von ihr fort. Von Ferne muss es ausgesehen haben, als beugtest du dich wie ein ungestümer Liebender über sie. Arsinoes Kleider waren unschicklich verrutscht, die Brust über ihrem Herzen nahezu entblößt. Trotz all deiner Bitten und Drohungen brachte man dich fort von ihr. Und Arsinoe starb, noch bevor die Sonne den Mittagsstand erreichte. Karims falsche Ratgeber flüsterten ihm ein, sie sei vor Scham an gebrochenem Herzen gestorben. Und er glaubte ihnen. Wind und Wüstensand hatten ihr Werk vollendet. Von dem Mann, der er einst war, war nichts mehr geblieben. Er ließ mich und meine Mutter holen. Und während man Mutter langsam mit einem breiten Seidenschal erdrosselte, musste sie zusehen, wie er dich mit einem glühenden Eisen deiner Männlichkeit beraubte. Auch ließ er deine Zunge kürzen, weil er deine vermeintlichen Lügen nicht länger hören wollte. Er entschied, dass seit Jahren kein wahres Wort von deiner Zunge geformt worden sei, und wünschte, dass in den Tagen, die dir noch blieben, kein deutliches Wort mehr über deine Lippen kommen solle. Und dann befahl er dem Folterknecht, dass er dir eine Narbe für jede einzelne Narbe zufügen sollte, die seinen Fürstenleib zeichnete. Und er ließ seine Gewänder fallen und entblößte seinen geschunden Körper, damit der Folterer sah, wie er seine Arbeit zu verrichten hatte. Selbst in den Augen jenes harten Mannes war für einen Augenblick lang Entsetzen zu sehen. Damit begann ein Martyrium, das viele Tage dauern sollte. Der Folterknecht verwendete seltene Salze, Affenhaar und Rosendornen, um zu verhindern, dass sich deine Wunden schlossen. In manche Wunden legte er sogar schwarzen Onyx, wie ein Goldschmied edle Steine in seine Schmuckstücke einfasst. So sah es aus, als starrten dunkle Augen aus deinem geschundenen Fleisch. Sieben Tage währte diese Marter schon, als dein Peiniger den Fehler machte, dich für einen gebrochenen Mann zu halten. Dafür zahlte er mit dem Leben, ebenso wie Fürst Karim, der den Befehl gegeben hatte, Mutter zu töten und mich zur Sklavin in seinem Palast zu machen, die man nachts zu den Ziegen sperrte, um sie zu demütigen. Auch zwei der falschen Berater des Fürsten erlebten das nächste Morgengrauen nicht. Doch dann mussten wir fliehen, denn deine Wunden hatten dich zu sehr geschwächt, und alle Krieger der Oase waren in hellem Aufruhr und versuchten, dich zu stellen. Männer, die jahrelang deine Freunde waren und die du in den Geheimnissen der alten Schwertmeister unterwiesen hattest, fielen vor deiner Klinge. So flohen wir in die Wüste. Vierzig Tage und vierzig Nächte blieben wir dort, und ich versorgte deine Wunden und lernte, die verstümmelten Worte zu verstehen, die über deine Lippen kamen. Die verräterischen Freunde des Fürsten waren klug genug, vor deinem Zorn zu fliehen. Trotz all der Krieger, die man zu ihrem Schutz aufbot, mochte keiner im Land der Söhne Zeynels bleiben. Unser Volk aber erklärte dich zum Verfemten, und man begann dich zu jagen, so wie du deinerseits ohne Gnade den falschen Ratgebern des Fürsten Karim nachstelltest. Und dies ist der Grund deiner Reise nach Iskendria. Du bist hier, um einem dieser Männer den Kuss deines Schwertes zu schenken.«