»Hätte er dem etwas steifen, korpulenten Herrn dort vorne gegolten, hätte ich mich dem Dolch sicher nicht in den Weg geworfen.« Ollowain tastete vorsichtig über sein blutiges Gewand.
Ganda konnte noch immer nicht glauben, was geschehen war.
»Du hast dich zwischen mich und das Messer gestellt? Du kannst mich doch nicht einmal leiden. Du hättest tot sein können. Du hättest ...«
»Hättest, hättest, hättest.« Ollowain winkte ab, als sei nichts weiter geschehen. »Die Klinge hat eine meiner Rippen gestreift. Sie ist nicht tief eingedrungen. Ich bin nicht in Gefahr, verstehst du? Solche oberflächlichen Schnittwunden bluten stark und sehen sehr dramatisch aus, aber im Grunde sind sie nicht der Rede wert. Wenn du mir einen Gefallen tun möchtest, dann verzichte auf weitere Umwege und bring mich zum Hause Sem-las. Ich hätte gern ein wenig sauberes Leinen, um einen strammen Verband anzulegen.« Er knüllte seinen Schleier zusammen und presste ihn fest gegen die Wunde.
»Aber du hast mir das Leben gerettet! Du ...« Der Schwertmeister legte einen Finger an die Lippen und gebot ihr zu schweigen. »Ich habe getan, was Emerelle mir aufgetragen hat –
dich beschützen. Nicht mehr und nicht weniger.« Ganda nickte, aber die Sache war damit längst nicht für sie erledigt. Sie kannte niemand anderen, dem es eingefallen wäre, mit seinem Leib ein Messer aufzuhalten, das für sie bestimmt war. Sie wurde aus diesem verfluchten Elfen nicht schlau. Ja, sie ärgerte sich sogar gehörig darüber, wie er seine Heldentat kleinredete. Da traf sie einmal in ihrem Leben jemanden, der sich benahm wie ein Ritter aus den Liedern der Barden, selbstlos und edel, und dann machte er die Sache kaputt, indem er gleich darauf so tat, als sei es eine Kleinigkeit. Ihr Leben war keine Kleinigkeit! Jedenfalls nicht für sie.
Wütend stapfte sie voran und versuchte sich zu orientieren. Dann hörte sie wieder den düsteren Gesang. Er wies ihr den Weg zum Tempelplatz. Sollte Ollowain doch sehen, was dort vor sich ging! Verstockter Mistkerl!
Mehr und mehr Menschen kamen ihnen entgegen. Der Gesang jenseits der verwinkelten Häuserschluchten wurde leiser und verstummte. Dafür nahm der Lärm in den Gassen zu. Unflätige Lieder dröhnten aus den Tavernen, ein kleiner Junge pries lautstark die Kunststücke seines dressierten Affen.
Die Stadt wirkte plötzlich lebendiger, dachte Ganda. Das war Unsinn, das wusste sie. Und dennoch hatte sich etwas verändert. Die Menschen rings herum wirkten wie erlöst. Ihr Lachen klang heller .... Vielleicht lag es ja auch an ihr? Daran, dass sie wusste, dass der Schrecken für heute vorüber war? Auf einmal zeigte sich Iskendria von seiner besten Seite. Bis morgen erneut ein Priesterzug die prächtige Prozessionsstraße entlangschritt, um Balbar eine Braut zu bringen.
Es dauerte nicht lange, und sie erreichten eine Gasse, an deren Ende der weite Platz gelegen war, der vom hohen Giebel des Balbartempels überragt wurde.
»Du wolltest nicht, dass ich dorthin gehe, nicht wahr?«, fragte Ollowain.
»Richtig«, entgegnete Ganda knapp.
»Und warum?«
»Sie verbrennen dort zu Ehren ihres Gottes kleine Mädchen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, nennen sie das Mädchen Gottesbraut! Dieses widerliche Schauspiel soll eine Hochzeit sein. Ich wollte nicht, dass du das siehst. So wie du dich mit den Katzen im Hafen angestellt hast, fürchtete ich, du könntest durchdrehen. Diese Sorge hatte ich sicher nicht zu Unrecht, oder?«
Ollowain blieb ihr eine Antwort schuldig. An seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er dachte, als sie auf den weiten Platz traten. In dessen Mitte erhob sich eine mehr als zehn Schritt hohe Statue. Sie zeigte einen Mann auf einem Thron, der einen langen, eckig gestutzten Bart trug. Die Arme der Figur waren seltsam angewinkelt und ruhten auf seinem Schoß. Das Götterbild hielt seine offenen Handflächen dem Himmel entgegen. Eine Gruppe Priester machte sich dort zu schaffen; sie waren über eine hölzerne, mit Blumenkränzen geschmückte Rampe hinauf zu den offenen Händen gelangt.
Der Kopf des Götzenbildes war leicht in den Nacken gelegt und der Mund weit aufgerissen, als wolle es etwas dem Himmel entgegenschreien. Dunkler, von rotem Feuerschein umspielter Rauch quoll aus der Öffnung.
Die Priester hoben etwas Längliches, in weiße Tücher Geschlagenes auf und schoben es in den Schlund des Götzenbildes. Was immer sie dort den Flammen übergaben, hatte etwa dieselbe Größe wie sie, dachte Ganda schaudernd.
»Das tun sie jeden Tag?«, fragte Ollowain mit belegter Stimme.
»Ja. Und wenn sie glauben, ihr Gott zürne ihnen, dann feiern sie sogar mehrere dieser Hochzeiten am Tag. Iskendria ist kein sicherer Ort für junge hübsche Mädchen.« Der Elf sah sie eindringlich an. Was dachte er jetzt? Fragte er sich, warum sie ausgerechnet die Gestalt eines kleinen Mädchens angenommen hatte? Sie hatte ja keine Ahnung gehabt ...
»Bring uns fort von hier, Ganda. Ich will keine Stunde länger als notwendig in dieser Stadt verbringen.«
Die Lutin sah sich nach der Säule mit dem springenden Delfin um. Auch wenn der weite Platz Balbar geweiht war, so gab es hier doch auch Statuen anderer Götter. Der Delfin war der Gatte der Meeresgöttin Bessa, ein freundliches Geschöpf. Er half den Steuerleuten, die rechte Fahrtroute durch gefährliche Gewässer zu finden, und viele Geschichten rankten sich darum, wie er Schiffbrüchige rettete. Die Männer auf der Galeere hatten oft von dem Delfingott erzählt.
Endlich entdeckte Ganda das Bildnis des Delfins: Es erhob sich auf ihrer Seite des Platzes. Sie war froh, dass sie nicht an der Balbarstatue vorübergehen mussten. Die erste weite Straße, die hinter dem Bildnis des Delfins vom Platz abzweigte, führte zum Hause Sem-las; so hatte Emerelle es ihr beschrieben.
»Mein Scherz am Hafen tut mir leid«, sagte Ollowain unvermittelt.
Ganda blickte zu ihrem rätselhaften Reisegefährten auf. Aus diesen Elfen wurde man einfach nicht schlau. »Wovon redest du?«
»Von dem Händler für Opfertiere am Hafen. Du wusstest dort schon, dass sie ihren Göttern nicht nur weiße Katzen und Stiere opfern, nicht wahr? Ich hatte keine Ahnung, dass sie auch hellhäutige Mädchen ... Ich ... Es tut mir leid.« Der Schwertmeister hielt den Schleier noch immer auf die Wunde gepresst; der zarte Stoff war voll gesogen mit Blut. Seine Züge waren angespannt. Er litt, aber nicht an der Verletzung. Er wich ihrem Blick aus.
Ein Elf, der sich vor einer Lutin schämte! Von so etwas hatte sie noch nie gehört. Eigentlich hätte er es verdient, sich noch eine Weile mit diesem Gefühl zu plagen, aber aus ihr unbegreiflichen Gründen tat Ollowain ihr leid. Ihr, die noch vor ein paar Tagen ruhig zugesehen hätte, wenn die Trolle Emerelles Burg gestürmt und jeden Elfen geschlachtet hätten, den sie zu packen bekamen.
»Ich weiß es seit dem ersten Tag der Schiffsreise. Der Kapitän und seine Männer ... Sie wollten dich bei Nacht überwältigen und ins Meer werfen. Sie dachten, dass du nach Iskendria reist, um mich dort an die Balbarpriester zu verkaufen. So etwas kommt wohl nicht selten vor. Deshalb habe ich die wilde Geschichte über dich erfunden.«
Sie sah, wie sich die Wangenmuskeln des Elfen spannten. »Du hast es also tatsächlich zu meinem Schutz getan.«
»Wenn du in Betracht ziehen könntest, dass wir Lutin nicht jedes Mal lügen, wenn wir den Mund aufmachen, dann würden wir beide vielleicht besser miteinander auskommen.«
»Wie es scheint, schulde ich dir also noch eine Entschuldigung.« Sein Ton war etwas frostiger geworden. »Es tut mir leid, wenn ich dich ungerecht behandelt habe.« Es war unverkennbar, dass es ihn Mühe kostete, die Worte über die Lippen zu bringen. Sein Gesicht spiegelte keine Reue. Es war ein reines Lippenbekenntnis.
Ganda war froh, endlich das Haus mit der breiten Marmortreppe zu sehen, von dem Emerelle ihr berichtet hatte. »Wir sind angekommen.« Sie deutete die Stufen hinauf. Sem-las Palast wirkte, verglichen mit den anderen Häusern, von außen erstaunlich unscheinbar. Die der Straße zugewandte Front hatte fast keine Fenster. Sie war schmucklos, sah man einmal von einem großen Wandbild ab, das Schiffe mit geblähten Segeln zeigte, umgeben von allerlei Meeresgetier.