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»Was ist denn mit Kleos passiert?«

»Bücherschlag«, murmelte der Minotaur undeutlich.

»Bücherschlag? Was ist das?«

»Das ist die direkte Folge davon, dass die Fürsten Albenmarks unsere Bibliothek seit einigen Jahrhunderten in sträflichster Weise vernachlässigen.«

Der Schweif des Kentauren peitschte aufgeregt, während er sprach. Sein Pferdeleib hatte schneeweißes Fell; auch die Haut seines Oberkörpers war ungewöhnlich blass. Ein üppiger Vollbart reichte ihm bis weit auf die Brust hinab. Ein schmales Stirnband aus roter Seide bändigte das volle Haupthaar. Das Gesicht des Kentauren war von tiefen Falten durchzogen. Zwei strahlende Augen beherrschten das Greisenantlitz. Sie hatten die Farbe von frisch vergossenem Blut.

»Viele unserer Buchregale sind nicht direkt aus dem Fels geschlagen«, fuhr er in tadelndem Tonfall fort. »Das wäre die sicherste Art, Bücher zu verwahren, aber es fehlt uns an Steinmetzen. Also sind die meisten Regale aus Holz, das uns die Hure Valynwyn in ausreichendem Maße zukommen lässt. Sie hat uns auch Menschensklaven geschenkt, aber denen ist die Bibliothek nicht zuträglich. Sie werden schon nach kurzer Zeit wahnsinnig. Was wir hier bräuchten, wären ein paar hundert Kobolde, die uns die Regale in Ordnung bringen. Wir haben hier Holzwürmer. Schimmel zum Glück nicht, dafür ist die Luft zu trocken.« Er klopfte sich auf die Brust und hustete. »Obwohl trockene Luft den Lungen weit weniger zuträglich ist als unseren Büchern und Schriftrollen. Aber ich schweife ab. Man weiß nie, wie schlimm es mit den Holzwürmern ist. Manchmal sieht man in den Regalbrettern nur ein paar Löcher, aber in der Tiefe sind sie schon hoffnungslos zerfressen. Wenn es so weit ist, dann genügt manchmal eine geringfügige Erschütterung des Bodens, und ein Regal stürzt unter der Last seiner Bücher in sich zusammen. Eine Erschütterung wie von Kentauren- oder Minotaurenhufen. Ihr leichtfüßigen Elfen werdet nur sehr selten vom Bücherschlag getroffen.«

»Du willst mir doch nicht erzählen, Kleos sähe so aus, weil ihm ein paar Bücher auf die Schultern geprasselt sind.«

»Ein paar Bücher«, polterte der Kentaur los. »Der Weise schweigt lieber, als über Dinge zu reden, von denen er keine Ahnung hat. Aber offensichtlich bin ich hier an einen Krieger und nicht an einen Weisen geraten.« Der Pferdemann bedachte das blanke Schwert, das Ollowain noch immer in der Hand hielt, mit einem missbilligenden Blick. »Wir haben Regale, die vierzig Schritt hoch sind und in denen so viel Holz steckt, dass man eine Galeere daraus bauen könnte. Kannst du dir vorstellen, wie du aussiehst, wenn dir eine Galeere auf die Schultern fällt? Ganz zu schweigen von den tausenden von Büchern. Das ist es, was wir einen Bücherschlag nennen, Krieger. Es ist wie eine Lawine. Wir haben fünf Tage gebraucht, um Kleos zu befreien. Er war so zwischen Büchern eingequetscht, dass er sich nicht bewegen konnte. Seine rechte Hüfte und sein rechtes Knie waren zerschmettert. Ganz zu schweigen von seinem Schädel. Und während er hilflos dalag, sind ihm wohl Holzwürmer in die Nase gekrochen. Er muss schrecklich gelitten haben.« Der Kentaur senkte die Stimme. »Seitdem ist er ein wenig seltsam.«

»Kleos‘ Ohren sind noch gut!« Der stierköpfige Hüne schnaubte. »Und Kleos zerstampft Würmer!« Seine Nüstern blähten sich erneut, und er schnupperte an Ollowain. »Du bist sicher, dass du keine Würmer an dir trägst? Manchmal verstecken sie sich auch in einem. In der Nase oder in den Ohren.«

Der Minotaur zerrte am Turban des Schwertmeisters und blickte ihm mit seinem gesunden Auge ins Ohr.

»Ganz sicher«, entgegnete Ollowain und schob sein Schwert zurück in die Scheide.

»Kleos war vor seinem Unfall der Hüter des Wissens in einem ganzen Abschnitt der Bibliothek. Es gibt wohl niemanden mehr in Albenmark, der sich in den Geheimnissen der Braukunst so gut auskennt wie Kleos einst. Aber der Bücherschlag hat ihn wie gesagt durcheinander gebracht. Seitdem wacht er hier am Tor.«

»Und Kleos wacht über die Würmer!« Der Minotaur stapfte witternd in Richtung des Mosaiks, bei dem sich der Albenstern befand.

»Er ist ein wenig schwierig«, flüsterte der Kentaur. »Er hat schon ganze Regale verwüstet, weil er glaubte, Bücherwürmer entdeckt zu haben. Und vor drei Monden hat er den südlichen Speisessaal verwüstet, weil es Nudeln gab, die er für Würmer gehalten hat. Hier, als Wächter beim Albenstern, kann er den wenigsten Schaden anrichten.«

»Kann ihm denn kein Heilkundiger helfen?«

Der Kentaur bedachte den Schwertmeister mit einem durchdringenden Blick. »Ich sagte dir doch schon, man hat uns in Albenmark vergessen. Uns fehlen nicht nur Steinmetzen und Zimmerleute, wir haben auch keinen Heilkundigen hier. Mit dieser Hure Valynwyn meiden wir soweit möglich jeglichen Umgang. Sie mag einmal eine bedeutende Heilerin gewesen sein, aber jetzt ...« Er peitschte wild mit dem Schweif. »Reden wir lieber nicht darüber.

Das regt mich nur zu sehr auf! Dass eine Elfe sich Menschen hingeben kann! Widerlich ... Unnatürlich!« Der Kentaur strich sich über den langen Bart. »Wir haben selten Besuch hier unten in letzter Zeit.«

»Vielleicht liegt das an eurem neuen Wächter. Mich hat er erschreckt.«

»Nein, nein. Kleos ist ganz friedlich.«

»Das steht ihm nicht gerade auf der Stirn geschrieben.«

»Du wirst schon sehen, Fremder ...« Der Kentaur wirkte plötzlich verlegen. »Wie unhöflich von mir«, murmelte er, ohne dass er die blutroten Augen abgewandt hätte. »Ich bin Chiron von Arkadien, seinerzeit Lehrer des Königs von Tanthalia.«

Der Schwertmeister deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Ollowain.«

»Der Ollowain? Der Schwertmeister Emerelles?« Chiron pfiff leise durch die Zähne. Dann musterte er sein Gegenüber vom Scheitel bis zur Sohle. »Ollowain also ... In der Bibliothek gibt es ein eigenes Regalbrett mit Büchern und Berichten über dich. Meister Gengalos wird sich freuen, einen so bedeutenden Gast willkommen zu heißen. Er ist der Hüter des Wissens in diesem Bereich der Bibliothek.«

Kleos schob geräuschvoll einige Tischpulte zur Seite. »Wo ist das Mädchen?«, rief er ärgerlich. »Sie wird doch keine Würmer verstecken!« Ganda trat hinter einem der Pulte hervor und hielt sich dicht an Ollowains Seite.

»Ich habe keine Würmer«, sagte sie freundlich. »Du musst dir meinetwegen keine Sorgen machen.« Ollowain wunderte sich darüber, dass sie nichts unternahm, um den hünenhaften Wächter zu verspotten. Offensichtlich hatte sie beschlossen, in der Bibliothek etwas diplomatischer als sonst vorzugehen, dachte der Elf erleichtert.

Ganda trug zwar noch das perlenbesetzte weiße Kleid, doch hatte sie wieder ihre eigentliche Gestalt angenommen. Ihr Fuchskopf kam Ollowain jetzt sehr befremdlich vor. Er hatte sich an das Gesicht des kleinen Mädchens gewöhnt.

»Das ist ja eine Lutin!«, rief Chiron zutiefst erschüttert. »Du hast eine Lutin hierher gebracht! Wie konntest du nur!«

»Das ist ja ein Kentaur«, äffte Ganda seinen Tonfall nach.

»Und im Übrigen war ich es, die Ollowain hierher gebracht hat. Nur um die Tatsachen klarzustellen.« Sie leckte sich mit ihrer kleinen rosa Zunge über die Nasenspitze und bedachte den Pferdemann mit einem spöttischen Blick. »Ich bin neugierig herauszufinden, wer von uns der Bibliothek hier größeren Schaden zufügt. Eine Lutin, der ein Elf auf die Finger schaut, damit sie keine Bücher klaut, oder ein Kentaur, der große Haufen in den Gängen hinterlässt, weil sein Volk zu dämlich ist, sich auf einem Donnerbalken niederzulassen.«

Bei der Vorstellung von einem Kentauren auf einem Donnerbalken musste Ollowain ein Grinsen unterdrücken. Er räusperte sich verlegen. »Sie meint es nicht, so. Sie ...«

»Doch, doch. Sie meint es genau so«, unterbrach ihn Chiron.

»Sie ist eine Lutin! Und ich hoffe, dass du genau das tun wirst, was sie sagt. Ihr auf die Finger schauen! Bücherdiebstahl ist das schlimmste aller Verbrechen. Diese Bibliothek ist das Gedächtnis unserer Welt. Was alle anderen längst vergessen haben, wir bewahren es. Wer hier etwas stiehlt, der mordet ein Stück der Erinnerung unserer Welt. Ja, solch ein Dieb ist sogar schlimmer als ein Mörder, auch wenn an seinen Händen kein Blut klebt. Ein Mörder löscht ein Leben aus, aber er kann nicht die Erinnerung an sein Opfer löschen. Ein Diebstahl hier vermag hingegen das letzte Wissen über längst vergangene Königreiche zu vernichten. Dann ist es, als hätte es sie niemals gegeben. Und wende jetzt nicht ein, ein Dieb würde seine Beute nicht vernichten. Wenn ein Buch verschwindet und wir nicht mehr wissen, wo es zu finden ist, dann betrachten wir es als vernichtet.«