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»Gemach, gemach, Meister Chiron«, beeilte sich Ollowain zu sagen. »Verzeiht die etwas vorschnelle Zunge meiner Gefährtin. Ist nicht Großmut eine der edelsten Tugenden der Weisen? Seid nachsichtig mit Ganda. Und vergebt auch mir, wenn ich die Neugier der jungen Lutin teile. Was haben die Alben getan? Sind uns Schriften von ihnen erhalten geblieben?«

Der Kentaur stieß einen tiefen Seufzer aus, doch der Ärger mochte nicht aus seinem Antlitz weichen. Mit peitschendem Schweif wandte er sich um. »Die Alben haben angeregt, hier in den Trümmern der Zerbrochenen Welt einen Hort des Wissens zu errichten. Sie wählten diesen Ort für unsere Bibliothek, weil er weitab aller Schlachtfelder Albenmarks liegt, und banden ihn ein in ihr Netz der goldenen Pfade. Schriften haben die Alben uns nicht hinterlassen. Doch es gibt Schriften von den ersten Kindern, die sie erschufen. Von jenen, die den Gedanken der Alben noch nahe waren. Doch sind diese Texte so voller abgründiger Rätsel, dass sie sich dem Leser kaum zu erschließen vermögen. Ja, selbst die Bücher, in denen die Gedanken der Alben verwahrt sind, öffnen sich nicht jedem.« Er bedachte die Lutin über die Schulter hinweg mit einem boshaften Blick. »Es heißt sogar, dass diese Bücher jene strafen, die sie berühren, ohne dem höheren Wohl zu dienen.«

Märchen, dachte Ganda bei sich. Solche Geschichten zu verbreiten war billiger, als seine Schätze ausreichend gut bewachen zu lassen. Sie hatte einmal ein Mondsteincollier gestohlen, von dem es hieß, jeder Dieb, der es berühre, werde binnen drei Tagen sterben. Zugegeben, sie hatte nach dem Diebstahl einen unangenehmen Durchfall bekommen, doch das war wohl eher auf das allzu üppige Festmahl zurückzuführen, mit dem sie ihren Erfolg gefeiert hatte, als auf den Todesfluch.

»Hier sind wir nun.« Chiron war vor einer unscheinbaren Tür stehen geblieben. »Hinter dieser Pforte findet ihr die Schriften, die sich mit den Geheimnissen der Alben befassen. Und ihr werdet Meister Galawayn begegnen, dem Hüter des verborgenen Wissens.«

Der Kentaur bedachte Ganda mit einem vieldeutigen Lächeln.

»Wenn ihr die Freundlichkeit hättet, noch zu warten, bis ich mich entfernt habe, wäre ich euch sehr verbunden. Mir ist der Saal hinter jener Tür ein wenig unangenehm.«

»Wie meinst du das?«, fragte Ollowain.

»Ich habe erst vor ein paar Tagen einen anderen Gast hierher gebracht.« Er nahm sich die Zeit für einen abfälligen Blick in Gandas Richtung. »Irgendeinen Kobold, einen unbedeutenden Wicht, der Galawayn etwas berichten sollte. Doch nun entschuldigt mich. Ich ziehe mich zurück.«

»Wir danken dir dafür, dass du uns hierher geleitet hast, Chiron von Alkadien. Und dein Wunsch ist uns Befehl.« Chiron verbeugte sich so formvollendet, wie das einem Kentauren möglich war, und hatte es dann auffällig eilig, sich zu entfernen.

Vorsichtig tastete Ganda über das grobe Holz der Tür. Sie spürte die Aura starker Magie, doch schien der Zauber nicht gegen jene gerichtet zu sein, die den Saal jenseits der Pforte betreten wollten.

Ollowain griff nach dem schweren Türknauf. »Gibt es da etwas, wovor wir uns hüten sollten?«

»Eine unmittelbare Bedrohung kann ich nicht feststellen«, erwiderte Ganda ausweichend. »Der Ort hinter der Tür ist von Magie durchdrungen. Aber sie scheint ungefährlich zu sein.«

»Dann wagen wir es!« Der Schwertmeister öffnete das Tor. Schmerzend helles Licht stach in ihre Augen. Ganda riss den Arm hoch, um sich zu schützen, und taumelte zurück. Selbst Ollowain stöhnte leise.

Halb rechnete die Lutin mit einem Angriff oder zumindest mit einer Donnerstimme, die sich beschwerte, dass man ihre Ruhe störte. Stattdessen vernahm sie leises Flötenspiel. Mit tränenden Augen blinzelte sie in das helle Licht. Was sie sah, mochte Ganda nicht glauben. Kurz hinter der Tür versperrte eine Sanddüne die Sicht, über der sich ein klarer, wolkenloser Himmel spannte. Einen Herzschlag lang glaubte Ganda, ein Tor der Albenpfade habe sich geöffnet. Manchmal war es nur ein Schritt hin zu einem anderen Ort. Man konnte die Dunkelheit des Nichts, das man durchquerte, gar nicht sehen. Aber das hier war anders. Es gab keine Kraftlinien ...

Ollowain sah sie an, als erwarte er eine Erklärung von ihr, doch Ganda konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. Das helle Licht schmerzte nun weniger in den Augen. Sie hatte sich längst zu sehr an die Dunkelheit in der Bibliothek gewöhnt, sodass normales Tageslicht sie blendete.

Zögernd trat sie durch das Tor und erklomm die Düne. Der Schwertmeister hielt sich an ihrer Seite.

Auf dem Kamm der Düne angekommen, breitete sich zu ihren Füßen eine weite Wüstenlandschaft aus. Etwa zweihundert Schritt entfernt stand unter einer einsamen Akazie ein schwarzes Zelt.

Ollowain griff in den Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln. »Eine Illusion ist das nicht.« Ganda blickte zurück. Die Tür zur Bibliothek klaffte wie eine schwarze Wunde im Himmelspanorama hinter ihnen. »Der Sand mag echt sein, die Wüste ist es nicht. Was immer dieser Galawayn noch sein mag, er ist auf jeden Fall ein mächtiger Zauberer. Er muss einen großen Saal mit Sand gefüllt haben. Der Himmel und der Horizont sind Illusion.« Die Lutin schirmte ihre Augen gegen das helle Licht ab. »Aber wo hat er die Bücher, über die er wacht?«

Vor das Zelt war eine weiß gewandete Gestalt getreten und winkte ihnen zu.

»Er wird es wissen.« Mit weiten Schritten eilte Ollowain die Düne hinab.

Ganda folgte ihm zögerlich. In ihren Augen musste man schon ziemlich verrückt sein, wenn man freiwillig sein ganzes Leben in dieser düsteren, fensterlosen Bibliothek verbrachte. Aber das hier? War dieser Saal aus der Sehnsucht geboren, den tristen Bücherwänden zu entfliehen? Oder war der Hüter der Geheimnisse nur noch verrückter als die übrigen Bibliothekare?

Der Fremde legte die Rechte auf sein Herz und verneigte sich höflich vor Ollowain. Der Schwertmeister erwiderte den Gruß. Sie redeten miteinander.

Ollowain deutete zu ihr. Jetzt hat er mich wohl vorgestellt, dachte Ganda. Er ist immer sehr gewissenhaft in diesen Förmlichkeiten.

Der Hüter der Geheimnisse kam ihr entgegen. Er trug ein langes, weißes Gewand wie die Nomaden der Wüste. Er war ein Elf, wie Ollowain. Sein langes, silberweißes Haar trug er offen. Seine Haut hatte einen hellen Bronzeton. Ein gutes, offenes Gesicht, dachte Ganda bei sich.

Sein Lächeln wirkte echt. Die himmelblauen Augen strahlten sie an.

»Du bist die erste Lutin, der ich begegne.« Er lachte auf. »Entschuldige, wenn ich aufgeregt bin, dann bin ich manchmal etwas direkt.« Erneut legte er die Rechte auf sein Herz und verneigte sich nun auch vor ihr. »Willkommen in meinem Heim und meinem Gefängnis, Ganda aus dem Volk der Lutin. Ich freue mich, dich an diesem einsamen Ort begrüßen zu dürfen.«

Er deutete auf das schwarze Zelt, dessen Seitenwände hochgeschlagen waren. »Begleite mich und sei mein Gast.«

»Du bist Meister Galawayn?«, fragte sie misstrauisch. Außer von Angehörigen ihres eigenen Volkes war sie noch nie so freundlich empfangen worden.

Der Elf lachte. Es wirkte erfrischend und ansteckend. »Und schon wieder muss ich dich um Verzeihung bitten. Meine Umgangsformen haben wirklich sehr gelitten. Ja ... du stehst vor Galawayn, dem Hüter der Geheimnisse.«

Ein Schaudern lief Ganda über den Rücken. Sie spürte die Macht des Elfen. Er musste sehr alt sein. Sie suchte in seinem Gesicht nach den Spuren der Jahrhunderte. Doch wie bei Emerelle schienen sie an ihm vorübergegangen zu sein, ohne sichtbare Zeichen hinterlassen zu haben. Nur seine Augen ließen ahnen, wie viel er gesehen haben mochte. Gelassen hielt er ihren kritischen Blicken stand.

»Darf ich dir im Zelt etwas zu trinken anbieten, Ganda? In meinem Volk gehört es zum guten Ton, dass man Gäste zu einem gemeinsamen Mahl einlädt. Viel kann ich freilich nicht bieten, dazu sind die Möglichkeiten hier zu beschränkt.«

»Hast du das alles erschaffen?«

Galawayn lächelte. »Die Halle des Lichts ist wunderbar, nicht wahr?« Er beugte sich zu ihr hinab. »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«