Aber dies war die letzte Schlacht, berichtigte sich Skanga in Gedanken. Sie konnten nicht verlieren. Welche Möglichkeiten blieben Emerelle, gegen die Flut von Trollkriegern anzukämpfen? Der Albenstein des Elfenvolkes verlieh ihr schreckliche Macht. Sie würde ein paar Hundert ins Verderben stürzen. Vielleicht brachte sie sie durch ein Trugbild vom goldenen Pfad ab und ließ sie ins Nichts stürzen?
Skangas knotige Hand schloss sich um den Stein, den sie verborgen zwischen unzähligen Amuletten trug. Sie würde ihr Volk vor der Elfenkönigin schützen. Auch sie hatte Macht, dachte sie trotzig. Sie war es gewesen, die das Volk der Trolle aus der Verbannung nach Albenmark zurückgeführt hatte.
In den zwei Monden, die seit der Schlacht um Phylangan vergangen waren, hatten sie die Snaiwamark, ihre alte Heimat, vollständig in Besitz genommen und ihr Heer neu aufgestellt. Es waren vor allem die jungen Krieger, die den Krieg weiter fortsetzen wollten, um sich einen Namen zu machen. Und auch Branbart, ihr König, dachte nicht daran, Frieden zu suchen. Sein Hass gegen Emerelle war maßlos. Einst hatte die Elfenkönigin ihn und alle anderen Trollfürsten von der Shalyn Falah, der weißen Brücke an der Grenze zum Herzland, in den Tod gestürzt. Fünfmal war Branbart seitdem wiedergeboren worden und König gewesen. Es war sein Fluch, dass er die Vergangenheit nicht vergessen konnte. Jahrhunderte hatte er sich nach Rache an Emerelle gesehnt. Jetzt wollte er keine Stunde mehr warten! Die Gefahr, noch einmal durch das Nichts zu gehen, hatte keinen Schrecken für ihn, so sehr hasste er die Elfenkönigin.
Skanga wäre es lieber gewesen, wenn das Trollheer einfach nach Süden gezogen wäre. Zwar mochte es Jahre dauern, bis sie auf diesem Wege ins Herzland vorstießen, aber wer sollte sie letztlich aufhalten? Ihr Volk war stark, und die übrigen Völker der Albenkinder waren zu zerstritten, um ihnen auf Dauer Widerstand leisten zu können. Ja, vielleicht würden sie sogar Verbündete finden?
Die Zeit der Elfen war vorbei; ihre drei schweren Niederlagen hatten das deutlich gezeigt. Sie waren das jüngste der Völker Albenmarks, und sie herrschten, seit die Alben, die großen Träumer und Schöpfer aller Welten, ihre Kinder verlassen hatten. Das war schon immer ungerecht gewesen, und es konnte gewiss nicht der Wille der Alben gewesen sein! In welcher Familie herrschte der Jüngste der Erben? Die Elfen hielten sich als Letztgeborene für die vollkommensten Geschöpfe. Doch nun hatte die Dämmerung ihres Zeitalters begonnen! Das Licht der Elfen verblasste. Und wenn sie sich nicht unterwarfen, dann würden sie vernichtet werden.
Skanga blickte durch das Tor ins Dunkel. In warmem Gold erstrahlte der Weg, der vor ihnen lag. Sie sah ihn anders als die Scharen der Krieger, die ihm noch folgen würden. Ihr magisches Auge erkannte seine wahre Beschaffenheit. Er war wie ein dickes Seil aus hunderten Fasern gedreht. Nur die Alben verstanden es, Magie zu solch wunderbaren Zaubern zu weben.
Die Begeisterung, mit der die jungen Krieger ihren Angriff führten, hatte etwas Ansteckendes. Sie konnten heute siegen! Warum noch Jahre warten?
Skanga stieß den Stab steil in die Luft. »Vorwärts, meine Kinder, wie es euer König befiehlt! Schneller! Ich führe euch ins Herz der Verderbnis. Zur Königsburg Emerelles!«
An der Seite Branbarts reihte sie sich in die Schar der Angreifer ein.
Der Schritt durchs Tor erforderte den meisten Mut. Man verließ festen Boden, um auf einen Pfad zu treten, der aus nichts anderem als Licht bestand. Hunderte Male hatte Skanga es schon getan, und doch war es immer wieder aufs Neue ein Kampf, sich dem Zauber der Alben anzuvertrauen. Die Schamanin wusste besser als alle anderen, was es bedeutete, ins Nichts zu gehen, in jene Dunkelheit, die jenseits des dünnen Gespinstes aus Magie lag.
Misstrauisch musterte die Schamanin das weitmaschige Netz aus blauen und grünen Kraftlinien, das sich schützend über den goldenen Pfad wölbte. Blau, diese Farbe der Magie, war Skanga immer verschlossen geblieben. Sie speiste sich aus der Weite des Himmels und der Kraft der Sturmwinde. Für sie war es stets so gewesen, als versuche sie einen Lufthauch zu greifen, wenn sie die Magie des Himmels in ihre Zauber hatte einbinden wollen. Sie spürte die Kraft, und doch war es ihr unmöglich, sie zu binden.
Skanga spähte ins Dunkel jenseits der Pfade. Draußen, in der unermesslichen Finsternis, lauerten die Yingiz. Ein rätselhaftes Volk, das von den Alben einst ins Nichts zwischen den Welten vertrieben worden war. Die Schamanin spürte, dass sie dort waren, doch sie konnte sie kaum sehen. Die Yingiz waren von Furcht einflößender Art. Sie hatten keine Aura.
Alles, was lebte, war von einer pulsierenden Aura aus vielfarbigem Licht umgeben. Die Auren zu sehen, war das Erste gewesen, was Skanga gelernt hatte, nachdem sie ihr Augenlicht verloren hatte. Erst viel später vermochte sie Schatten zu fühlen, wenn vor ihr ein Felsblock oder etwas anderes Unbelebtes aufragte.
Skanga blickte erneut auf das Netz aus blauen und grünen Fäden. Es war zu weitmaschig, fand sie. Und doch hielt es die Yingiz fern. Bald würden sie in Scharen den goldenen Pfad umlagern. Wenn etwas Lebendiges in das Nichts eindrang, dann wurden sie von dessen Aura angezogen wie Nachtfalter von der Flamme einer Öllampe.
Die Yingiz vermochten die Zauber der Alben nicht zu durchdringen, aber wehe denen, die den goldenen Pfad verließen. Die Schattengestalten waren Seelenfresser. Wer hier in der Finsternis zwischen den Welten starb, der würde niemals wiedergeboren werden.
Die Schamanin war ein gutes Stück auf dem Weg gegangen, als sie etwas an der Schulter streifte. Branbart, ihr König, ging dicht hinter ihr. Sie spürte die Wärme der Fackel, die er in der Linken hielt. Ihr Licht konnte die Dunkelheit jenseits der Schutzzauber gewiss nicht erhellen.
Skanga roch Branbarts Angst. Ein säuerlicher Geruch, der sich mit dem Duft nach Met, ungegerbtem Leder und Rauch mischte.
»Dauert es noch lange?«, fragte der König heiser.
»Ja!«, entgegnete sie ungehalten. Tagelang hatte sie versucht, ihm diesen Angriff auszureden. Jetzt war es zu spät, um noch umzukehren. Wenn Branbart seine Krieger nun zurückschickte, dann würde er all sein Ansehen als König verlieren. Niederlagen oder allzu blutige Siege vergaßen Trolle schnell. Feigheit nicht.
Skanga überquerte einen Albenstern, an dem sich vier goldene Pfade kreuzten. Wie ein kunstvoller Knoten waren sie miteinander verwoben.
Sodann deutete sie auf die blasse, rote Flamme, die neben einem Pfad brannte, der nach links führte. Einen ganzen Tag lang hatte sie damit verbracht, den Weg durch das goldene Netz zu markieren. Trotzdem würden gewiss etliche Krieger verloren gehen. Angst machte blind. Aber das spielte keine Rolle. Siege wurden mit Blut erkauft.
Sie waren Tausende, und sie gingen alle hintereinander. Vermutlich waren immer noch nicht alle Krieger durch das Tor auf der Eisebene der Snaiwamark geschritten. Die Letzten würden den Pfad wohl erst betreten, wenn die Schlacht gegen Emerelle schon entschieden war.
»Was ist dort draußen?«, flüsterte Branbart. Der König drängte sich so dicht an sie, dass er ihr mit der Fackel den Nacken versengte. »Ich spüre da etwas. Es ...«
»Erinnerst du dich an das Heerlager bei der Wolfsgrube, am Tag bevor die Eissegler uns angegriffen haben? Dort hat uns ein Geisterwolf besucht, eine üble Kreatur mit einem blutroten Auge. Erinnerst du dich an seine Bosheit und seinen Hass?«
»Ja.« Der König zog die Nase hoch und wollte ausspucken. Unschlüssig blickte er hinab auf den goldenen Pfad, der nicht Erde und nicht Fels war und sie dennoch trug. Dann überlegte er es sich anders und schluckte den Rotz hinunter.
»Stell dir vor, all diese Bosheit sei ein Kieselstein am Meeresufer. Ein Stein, wie sie dort ohne Zahl liegen. Das, was dich hier jenseits des Weges erwartet, ist der Berg, von dem dieser Stein stammt. Denk an das Schlimmste, das dir je widerfahren ist, und sei gewiss, die Schrecken des Nichts werden es bei weitem übertreffen.«