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Ganda öffnete die nächste Lederhülle. Auf dem Papyrusstreifen am Verschluss stand: VERWUNDETE SEELEN, AUSZUG AUS DEM VII. KAPITEL VON: DIE WEGE DER ALBEN, VERFASST VON: MELIANDER, FÜRST VON ARKADIEN

Der Text war so düster wie sein Titel. Meliander behauptete, dass die Seelen der Alben in den Kämpfen mit den Yingiz und den Devanthar so verletzt worden waren, dass sie schließlich die Welt, die sie erschaffen hatten, ihren Kindern überlassen mussten, um sich für immer an einen Ort zurückzuziehen, an dem sie nichts mehr an die Düsternis erinnerte, die sie zwar verbannen, aber nicht bezwingen konnten.

Schon wieder so geschraubte Formulierungen! Meinte Meliander mit der Düsternis nun den Zustand der Seelen der Alben oder doch eher die Yingiz? Ganda überflog den Text ein zweites Mal. Hatte sie etwas übersehen? Waren die Alben, obwohl sie gesiegt hatten, zugleich auch die Besiegten? Hatten sie verloren, worum gekämpft worden war?

Die Lutin leckte sich über die Schnauze. Nein, so stand das dort nicht. Das war ihre Deutung. Aus dem Text ging nicht hervor, dass die Alben und die Yingiz um Albenmark gekämpft hatten. Und wenn nicht einmal die Alben die Yingiz bezwingen konnten, wie wagte Emerelle dann zu hoffen, dass es ihr gelingen könnte, die Schatten zu vertreiben, die ins Herzland gekommen waren?

Ganda hatte vor ihrer Abreise allen Blütenfeen geraten, das Herzland zu verlassen. Hoffentlich hatten sie auf ihre Worte gehört. Sie mochten die Nähe der Königin. Die Lutin war überrascht gewesen, dass Emerelle um Mondblütes Tod gewusst hatte. Sie hätte darauf geschworen, dass die mächtige Herrscherin Albenmarks sich einen Dreck um solche vermeintlichen Kleinigkeiten scherte. Aber wenn sie gewusst hatte, was geschah, warum hatte Emereile dann nichts unternommen, um Mondblütes Kind zu retten? Bei all ihrer Zaubermacht hätte das doch ein Leichtes für die Königin sein müssen! Zumindest hätte sie die Blütenfee von ihren Selbstmordgedanken abbringen können. Und sei es, indem sie die Kleine mit einem Schlafzauber belegt hätte. Aber sie hatte in ihrer Burg gesessen und in diese verdammte Silberschüssel gestarrt. Dieses ganze Elfenpack blieb ihr ein Rätsel. Da bauten sie eine Burg, die in ihrer Schönheit ihresgleichen suchte, und fanden nicht einmal einen Namen für diesen Ort. Verrückt. So verrückt wie diese beiden Dickschädel, die an ihrem Spieltisch noch einmal die Schrecken einer Schlacht heraufbeschworen, die längst entschieden war. Wem sollte das nutzen!

Ganda streckte sich. Auf Dauer war es ziemlich ungemütlich, im Schneidersitz auf einem weichen Kissen zu hocken. Ihr Nacken war ganz steif geworden, und die Beine waren ihr eingeschlafen. Vorsichtig reckte sie die Glieder, durch die ein prickelnder Schmerz floss. Ihr linker Fuß stieß gegen etwas, das unter dem niedrigen Tisch verborgen lag.

Neugierig beugte sich Ganda hinab. Es war das Buch mit den Bronzebändern, das ihr schon zuvor aufgefallen war. Auch die Handschuhe waren noch da. Sie lagen zusammengeknüllt auf dem Teppich. Nadel und Faden hingegen waren verschwunden. Wie Galawayn dieses Buch wohl öffnete? Es gab kein Schloss an den Metallbändern und keine Scharniere. Sie lagen wie Fesseln um das Buch. Wozu der Elf wohl die Handschuhe brauchte? In den vergangenen Tagen hatte er sie nie angehabt. Jedenfalls nicht, wenn sie und Ollowain in der Nähe gewesen waren.

Sie nahm einen der Handschuhe auf. Er fühlte sich unangenehm an. Warm, als sei er gerade eben erst getragen worden. Doch das konnte nicht sein. Wie hätte er von ihr unbemerkt unter den Tisch gelangen sollen? Er musste dort schon mindestens so lange liegen, wie sie hier saß und über den Schriftrollen brütete.

Ganda strich das zerknüllte Leder glatt. Wozu brauchte man Handschuhe, um ein Buch zu lesen? Und noch dazu Handschuhe, an denen ein Zauber haftete? Was war zwischen den Buchdeckeln verborgen? Vielleicht durfte man die Pergamentseiten nicht berühren? Sie hatte einmal eine Geschichte über ein kleines Büchlein gehört, in dem sinnliche Märchen niedergeschrieben standen. Geschichten, die jeden, der sie las, in Erregung versetzten. Und das hatte nicht allein an den Texten gelegen. Die Seiten des Buches waren mit einem Aphrodisiakum bestrichen worden. Mit einem Zaubertrank, der körperliche Lust weckte. Dieses Liebesgift gelangte über die bloße Haut in den Leib. Je öfter die Hände eine der Seiten berührten, zum Beispiel, wenn man mit dem Finger Zeile für Zeile, die man las, verfolgte — oder zumindest, wenn man umblätterte -, desto mehr Gift nahm man auf, bis man zuletzt vor Lust ohnmächtig wurde. Ganda hatte einen Mond lang vergebens versucht, dieses Buch aufzutreiben. Wahrscheinlich war es nur der Fabulierfreude eines Märchenerzählers entsprungen. Vielleicht sollte sie Meister Gengalos danach fragen? Wenn es in der Bibliothek wirklich alle Texte gab, die jemals geschrieben worden waren, dann müsste sich doch auch dieses Büchlein hier finden lassen. Selbst wenn sie dessen Titel nicht kannte, konnte es ja nicht allzu schwer sein, ein so ausgefallenes Buch zu finden. Es wäre eine angenehme Abwechslung von diesen düsteren und verworrenen Texten über das Nichts und die Yingiz.

Ganda tippte vorsichtig mit dem Zeigefinger gegen die Schnittkanten der Pergamentseiten. Mit einem Aphrodisiakum war dieses Buch bestimmt nicht vergiftet worden. Gewiss brauchte Galawayn die Handschuhe, um sich zu schützen.

Gedankenverloren strich die Lutin über das helle Leder der Innenseite. Weich schmiegte es sich in ihre Hand. Sie spürte die schwache magische Kraft, die den Handschuhen innewohnte. Und etwas beunruhigte sie.

Sie brauchte eine Weile, bis sie sich über diese Unruhe im Klaren wurde. Es war der Handschuh! Es fühlte sich an, als berühre er sie, und nicht umgekehrt. In einer Mischung aus Neugier und Ekel musterte sie das Leder eindringlicher. Die Innenseite der Handschuhe war verstärkt. Die zweite Lederschicht, die Galawayn dort aufgenäht hatte, bestand aus einem einzigen, durchgehenden Stück. Es passte sich der Form des Handschuhs genau an, so wie ...

Ungläubig beugte Ganda sich vor. Sie sah die zarten Wirbel auf den Fingerspitzen. Schlagartig überwog der Ekel die Neugier! Sie ließ den Handschuh fallen. Das Leder auf der Innenseite war die Haut einer Hand. Und sie war immer noch lebendig! Daher rührte das Gefühl, der Handschuh habe sie berührt! Es war keine Einbildung! Er hatte es tatsächlich getan!

Ein wütender Schrei ließ Ganda auffahren.

»Das tust du nicht! Sie wird nicht noch einmal sterben, hörst du!« Den Worten folgte das leise Schaben einer Klinge, die aus ihrer Scheide glitt.

Ganda fuhr herum. Ollowain bedrohte ihren Gastgeber mit seinem Schwert! »Du wirst ihr kein Leid antun. Niemand wird das, solange ich lebe!«

Galawayn hob ganz langsam die Hände. »Es ist doch nur eine Spielfigur«, sagte er beschwörend. »Nur ein Stück Stein, dem ein Künstler eine Form verliehen hat.«

Ollowain streckte den Schwertarm. Die Klinge war weniger als einen Zoll vom Hals seines Gegenübers entfernt. Sie zitterte leicht. »Nenn sie nicht noch einmal ein Stück Stein. Sie lebt, solange die Zauberin nicht geschlagen wird.«

»Ollowain.« Ganda sprach den Namen ihres Gefährten leise und eindringlich. »Du kannst deine Zauberin retten. Bring sie fort von hier.«

Gehetzt blickte der Schwertmeister zu ihr hinüber. Sein Gesicht war fahl und glänzte vor Schweiß. Das lange blonde Haar hing ihm in Strähnen in die Stirn. Er schien Fieber zu haben.

»Tritt zurück«, sagte Ganda beschwörend. »Du musst sie fortbringen und nicht kämpfen.« Ollowain sah wieder zu Galawayn. Schließlich nickte er. »Ja, ich muss sie fortbringen.«

Langsam trat er rückwärts aus dem Zelt. Dann wandte er sich um und begann zu laufen.

Galawayn atmete hörbar. »Er hätte mich getötet.«

»Was hast du ihm angetan?«, fragte die Lutin barsch. Sie schob den dünnen Schleier zur Seite und trat an den Spieltisch. Ganda musste auf Ollowains leeren Stuhl steigen, um das Spielfeld überblicken zu können. Der Schwertmeister schien seine Schlacht verloren zu haben.

Der Hüter des Wissens nahm eine Spielfigur vom Tisch, die in zwei Teile zerbrochen war. Ein großer, weißer Hund.