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Die Zeit klammerte sich widerspenstig an die Dunkelheit, so erschien es Ganda. Sie wartete schon seit mindestens einer Stunde, wahrscheinlicher sogar die halbe Nacht. Hinter ein Bücherregal geduckt, beobachtete sie die Tür zum Saal des Lichts. Galawayn musste dort herauskommen! Das Treffen der Hüter des Wissens hatte gewiss schon längst begonnen. Es war eine grobe Beleidigung, so viel zu spät zu kommen.

Vielleicht war er ja schon längst fort? Die Gelegenheit, sich allein in seinem Zelt umzusehen, käme gewiss so schnell nicht wieder. Wenn doch nur Ollowain hier wäre! Dieser nichtsnutzige Elf war schon wieder spurlos verschwunden. Doch diesmal würde sie ihn nicht suchen gehen! Ganz sicher nicht! Der Mistkerl würde sich am Ende noch einbilden, dass sie ohne ihn gar nichts wagte. Was hatten er und sein Schwert bei dieser Mission schon geholfen? Gut, einmal abgesehen von der Sache in dieser Gasse in Iskendria ...

Ganda fasste sich ein Herz. Galawayn würde ihr schon nichts tun. Sie würde einfach behaupten, sie habe keinen Schlaf gefunden und ... Nein, das war eine zu dämliche Lüge. Das würde er ihr niemals glauben. Falls er sie tatsächlich entdeckte, würde ihr schon etwas Besseres einfallen. Ihren Kopf aus der Schlinge zu reden, wenn es wirklich darauf ankam, gehörte zu ihren großen Stärken.

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die schwere Tür zum Saal des Lichts. Hastig zog sie sie hinter sich zu. Sie wusste, das dunkle Rechteck vor dem falschen Himmel war im ganzen Saal zu sehen. An die Himmelswand gelehnt, verharrte sie. Nichts geschah. Also war Galawayn doch schon gegangen, bevor sie gekommen war. Vielleicht schlief er auch?

Jetzt nur nichts anmerken lassen! Sie musste sich ganz normal verhalten. Hoch erhobenen Hauptes erklomm sie die große Düne. Als sie den Kamm erreichte, konnte sie das Zelt sehen. Die Seitenwände waren hochgeklappt. Es war leer. Ganda fiel ein, dass sie gar nicht wusste, wo Galawayn seinen Schlafplatz hatte. Was immer der Hüter des Wissens jetzt auch trieb, im Zelt war er nicht.

Von der Höhe der Düne konnte man fast den gesamten Saal überblicken. Die Lutin nahm sich die Zeit, sich sorgfältig umzusehen. Wer immer hierher kam, würde als Erstes ihre Spur im Sand sehen. In einer halben Stunde oder vielleicht auch ein wenig schneller hätte der verzauberte Sand die Spur getilgt. Aber wenn Galawayn vorher zurückkehrte ...

Ganda streckte die Hand vor, sodass die Handfläche zur Decke wies. Leise flüsterte sie die geheimen Namen der Winde. Dann blies sie sacht über ihre Handfläche. Ein Luftzug löschte ihre Spur im weichen Sand.

Als sie das Zelt erreichte, verwischte sie ein weiteres Mal ihre Spuren. Ein törichter Verzweiflungsakt! In diesem Saal, der vorgaukelte, eine Wüste zu sein, gab es keine Verstecke, es sei denn, man vergrub etwas im Sand. Einen Gedanken lang quälte sie die Vorstellung, dass Galawayn wie ein Ameisenlöwe sei: Tief am Grund eines Sandtrichters lauerte er mit seinen tödlichen Beißzangen. Und wer einmal über den Rand des Trichters getreten war, für den gab es kein Entkommen mehr, der rutschte unaufhaltsam seinem Verderben entgegen.

Das sind kindische Ängste, schalt sie sich. Die Wahrheit ist, dass der Hüter des Wissens einen Abend lang nicht hier war und sie in Ruhe das geheimnisvolle Buch untersuchen konnte. Es lag auf dem niedrigen Tisch im Zelt. Daneben ruhten die Handschuhe.

Ganda leckte sich nervös die Schnauze. Wie für sie hingelegt, dachte sie. Wieder blickte sie sich um. Sie war allein! Was konnte schon geschehen? In ein Buch zu blicken, war doch ungefährlich.

Die widerlichen Handschuhe packte sie nicht mehr an. Wer wohl die Haut seiner Hände dafür gegeben haben mochte?, fragte sie sich erneut. Und warum tat man so etwas? Wofür brauchte man lebendige Handschuhe?

Vorsichtig klopfte sie mit dem Knöchel gegen das große Buch. Das dunkelbraune Leder des Einbands war erstaunlich weich. Fast schluckte es das Geräusch des Klopfens. Ein Schauder überlief die Lutin. Sie spürte die Macht des Buches, sie schien Ganda willkommen zu heißen.

Doch die Lutin blieb skeptisch. Sie legte den Kopf auf die Tischplatte und betrachtete das Buch eindringlich. An den Rändern der beiden Messingbänder, die den Folianten wie Fesseln umschlossen, hatten sich Staub und Grünspan gesammelt. Auch die feinen Spiralmuster der Messingbeschläge waren fast unter Grünspan verschwunden. Kein Schriftzug war in das Leder geprägt. Nichts gab einen Hinweis auf den Text, der sich zwischen den dicken Buchdeckeln verbarg. Es schien, als sei der Verfasser ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass man wusste, worum es in diesem Buch ging.

Merkwürdig waren auch die grauen Bruchsteine, die in die Messingbänder eingelassen waren. Bei einigen der Steinsplitter entdeckte sie eingravierte Linien, doch keiner war größer als ihr Daumennagel. Ganda hatte das Gefühl, man könne diese Steine zusammenfügen, wenn man sie aus ihren Fassungen brach. Die Bruchkanten der Stellen, die fünf parallele Linien zeigten, passten zusammen. Wahrscheinlich war es mit dem Rest genauso.

Ganda griff nach dem Buch, um es umzudrehen und sich die Rückseite anzusehen. Ein kurzer, stechender Schmerz fuhr in ihre Handflächen. Ein Schmerz, wie man ihn spürt, wenn man sich den Ellenbogen unglücklich stößt.

Perlmuttenes Licht umspielte die grauen Steine. Mit einem metallischen Seufzer klappten die Bronzebänder auseinander, und das Buch schlug auf. Die Wege der Alben, von Meliander, Fürst von Arkadien, stand in schnörkeliger Handschrift auf der Titelseite. Rauschend blätterten die Seiten weiter. Flüchtig sah Ganda Bilder von Schattengestalten, die zwischen goldenen Stangen hervorquollen.

Die Lutin kniff die Augen zusammen. Ihr war plötzlich schwindelig. Erst als das Rauschen der Pergamentseiten endete, wagte sie es, wieder zu blinzeln. Sie blickte auf ein Bild, das eine weiße Brücke zeigte. Ein enthaupteter Krieger, ganz in Weiß und mit dem Schwert in der Hand, trat auf die Brücke. Er trug seinen Kopf unter dem Arm.

Der Himmel war voller Schatten, die durch einen Riss im Firmament quollen und sich streckten, um den Mond zu verschlingen. Auf der anderen Seite der Brücke erhob sich eine weiße Festung. Im Schatten des Tores standen zwei weitere Gestalten. Eine von ihnen schien Krallen statt Finger zu haben. Acht feine Silberstriche leuchteten im Dunkel, etwa dort, wo ihre Hände sein sollten. Der Zweite Schatten ließ nur erraten, dass es sich wohl um einen Elfen handelte. Besondere Eigenarten erschlossen sich auch bei aufmerksamer Betrachtung nicht. Der Tag, an dem das Herzland fällt, stand unter dem Bild. Und was Ganda auf der gegenüberliegenden Seite las, erfüllte sie mit kalter Angst. Dort war von einem lebenden Toten, der erst im Tod ein Leben fand, die Rede. Meliander, dem Autor, gefiel es wohl, sich so verworren auszudrücken. Ganda wollte gerade umblättern, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten sah. In den Himmel jenseits der großen Düne war ein rechteckiges Loch gestanzt. Die Tür zum Saal des Lichts stand offen ...

Klatschend schlug das Buch zu. Mit einem klagend schleifenden Laut schlossen sich die Bronzebänder. Ganda sprang auf. Sie rannte zur Rückseite des Zeltes und weiter in die falschen Dünen hinein. Wie lebendig griff der verzauberte Sand nach ihren Füßen, als sei er mit dem im Bunde, der gerade den Saal des Lichts betreten hatte,

Mit einem Sprung hechtete Ganda über den Kamm einer flachen Düne. Wenn sie sich tief duckte, war sie hier außer Sichtweite. Sie spürte den Sand unter ihrem Leib dahinfließen. Die Fährte, die vom Zelt zu ihrem Versteck führte, verschwand.

Ganda wagte es nicht, den Kopf zu heben. Jeden Augenblick rechnete sie damit, Galawayns Stimme zu hören. Sie hätte einfach sitzen bleiben sollen, dachte sie. Hätte sie sich eine der Schriftrollen aus dem hölzernen Ständer genommen, dann hätte sie so tun können, als sei sie zurückgekehrt, um weiter zu arbeiten. Aber der schwarze Spalt im falschen Himmel war dem Riss im Himmel des Bildes so ähnlich gewesen. Ohne dass es eine vernünftige Begründung dafür gab, war sie sich sicher, in tödlicher Gefahr zu sein.

Der Sand unter ihr glitt auseinander. Langsam bildete sich eine flache Kuhle in der Flanke der Düne. Ganda presste die Wange fest in den Sand. Am liebsten wäre sie ganz darin verschwunden, so wie die Urnen mit den geheimen Schriften, die Galawayn hier versteckte. Jeden Augenblick rechnete sie damit, dass ein Schatten auf sie fiel und sie die spöttische Stimme des Hüters der Geheimnisse hörte.