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»Vergrabe dich nicht in Selbstvorwürfen, Ollowain!« Die Stimme ließ den Schwertmeister auffahren, obwohl ihr warmer Klang ihm in den letzten Tagen wohl vertraut geworden war. In der Tür zu Gandas Kammer stand eine Gestalt in langer schwarzer Kutte, das Gesicht im Schatten einer Kapuze verborgen. Als Ollowain ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war Meister Reilif ihm wie ein lebendes Abbild des Todes vorgekommen. Und ausgerechnet diese düstere Gestalt war es, die sich wie kein anderer unter den Hütern des Wissens auf die Leiden des Leibes und der Seele verstand. Seine magischen Kräfte waren nur schwach, er konnte keine Wunder vollbringen. Doch sein Wissen suchte seinesgleichen. Es gab tausende Bücher und Schriftrollen über Heilkunst, Anatomie, Gifte und Krankheiten in der Bibliothek. Hunderte davon kannte er auswendig. Er war der Überzeugung, dass der Alkohol, der Ganda zum Verhängnis hatte werden sollen, sie letztlich gerettet hatte, weil sich das Gift in ihrem Körper nicht so schnell ausgebreitet hatte, wie es eigentlich hätte geschehen müssen.

Ollowain war hingegen der Meinung, es habe daran gelegen, dass die Knochenviper eigentlich schon lange tot gewesen war und ihr Gift deshalb an Kraft verloren hatte. Mit finsterer Magie war ihr Leben eingehaucht worden, um ein anderes Leben zu vernichten.

»Du hast jetzt seit fünf Tagen und fünf Nächten nicht geschlafen, Ollowain. Was glaubst du, wie lange du noch durchhalten kannst? Ganda ist außer Gefahr. Erlaube mir, dich bei deiner Wacht an ihrem Lager abzulösen.« Reilif sprach mit leiser, freundlicher Stimme, die in scharfem Gegensatz zu seinem unheimlichen Äußeren stand. Doch Ollowain traute ihm nicht. Nie war Reilifs Gesicht ganz zu sehen. Außer Kinn und Mund blieb alles im Schatten seiner Kapuze verborgen.

Der Schwertmeister hatte inzwischen eine Vorstellung von ihrem Feind. Es musste ein Magier sein, der die verderbten Zauber der Gestaltwandlung beherrschte. Eine Spielart der Magie, die fast überall in Albenmark mit Abscheu betrachtet wurde und mit Acht und Bann belegt war. Gandas Worte über die Devanthar hatten ihn auf diese Spur gebracht, und es gab eine Reihe von Hinweisen, die seinen Verdacht stützten. Deshalb konnte er ihr Lager nicht verlassen. Ihr Feind vermochte jede denkbare Gestalt anzunehmen. Wer wusste schon, ob der Hüter des Wissens wirklich Meister Reilif war? »Ich komme zurecht«, antwortete der Elf müde. »Ich danke dir für dein Angebot.«

Reilif seufzte. »Ich hoffe, dir ist klar, wie töricht du dich verhältst. Ich weiß um deine Furcht. Irgendwann wirst du jedoch wieder jemandem vertrauen müssen, Ollowain. Was du tust, ist edel, aber unvernünftig. Ebenso wie es edel und unvernünftig war, die Wunde des Schlangenbisses aufzuschneiden und zu versuchen, das Gift herauszusaugen. Damit hast du dich nur beinahe selbst umgebracht.«

»Mir geht es gut«, beharrte der Schwertmeister mit tonloser Stimme.

»Ja, weil du Glück hattest. Gifte bringen einen Elfen nicht so schnell um wie eine Lutin.«

»Bitte, Meister, ich will darüber jetzt nicht reden.« Ollowain fühlte sich viel zu erschöpft, um einem Streitgespräch gewachsen sein. Alles, was er wollte, war, allein gelassen zu werden.

Statt zu gehen, trat der Hüter des Wissens an Gandas Lager. Er setzte ein Hörrohr auf ihre Brust und lauschte den Schlägen ihres Herzens. Dann strich er über ihr Fell und zuletzt über die kleine schwarze Fuchsnase.

»Es geht ihr immer noch nicht gut. Wir sollten über einen Aderlass nachdenken. Damit leiten wir weiteres Gift aus ihrem Körper und geben ihrem erschöpften Leib Gelegenheit, die Harmonie der Säfte wieder herzustellen.«

Gandas Augenlider flatterten. »Niemand ... wird mir Blut abzapfen«, murmelte sie benommen. »Ich ... habe Durst.«

Unendlich erleichtert erhob sich Ollowain. Auf dem Tisch stand jetzt eine Karaffe mit Wasser. Der Elf füllte ein Glas. Er musste Ganda stützen, denn die Lutin war zu schwach, um sich aus eigener Kraft zum Trinken aufzurichten. Die Anstrengung ließ sie tief seufzen. Reilif verneigte sich sehr förmlich vor der Lutin. »Du gestattest, dass ich mich vorstelle, Ganda aus dem Volke der Lutin. Mein Name ist Reilif. Es tut mir sehr leid, was vorgefallen ist.«

Ganda, die sich offenbar erst jetzt bewusst wurde, dass sie völlig nackt war, zog ihre Decke hoch.

»Ich möchte mich im Namen aller Hüter des Wissens bei dir entschuldigen, Ganda. Nie zuvor hat jemand aus unseren Reihen versucht, einem Besucher der Bibliothek ein Leid zuzufügen. Mir ist unbegreiflich, was in Meister Galawayn gefahren ist.«

»Es war seine Schlange, nicht wahr?« Reilif nickte mit verkniffenem Mund. »Ja, das Glas, in dem er die Schlange verwahrt hatte, war leer. Ich hätte niemals gedacht, dass er sich mit diesen Spielarten der Magie befasst.« Er hob in verzweifelter Geste die Hände. »Galawayn hat uns auf so vielfältige Weise überrascht ... Ich erkenne in seinen Taten nicht mehr den Mann, der er einst war. Er hat sich aufgeführt, als gehöre er zu den ruchlosen Novizen Alathaias.« Der Hüter des Wissens ließ den Kopf sinken. »Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen.«

»Wo ist Galawayn jetzt?« Gandas Stimme klang schon ein wenig fester.

»Wir lassen ihn überall suchen. Die Albensterne der Bibliothek sind besetzt, und Bewaffnete durchsuchen systematisch alle Säle. Er kann nicht von hier entkommen«, versicherte Reilif.

»Ich muss in den Saal des Lichts!«, verkündete Ganda und richtete sich in ihrem Bett auf. »Wenn ihr bitte so freundlich wäret, mir mein Kleid zu reichen.«

»Das ist jetzt genug. Du bist zu schwach. Du musst erst zu Kräften kommen«, entschied Ollowain. Es war nicht zu fassen! Kaum hatte sie sich genug erholt, um zu reden, schon hatte sie nur Unsinn im Kopf.

»Du könntest mich tragen, Ollowain. Oder willst du mich schon wieder im Stich lassen?«

Der Elf atmete tief ein. Er setzte zu einer zornigen Antwort an, beherrschte sich dann aber doch. Das mussten die Nachwirkungen des Giftes sein. Sie war nicht ganz bei Sinnen. Er sollte Nachsicht mit ihr haben.

Die Lutin schwang die Beine über die Bettkante und verlor das Gleichgewicht. Sie sackte einfach nach vorne weg. Ollowain fing sie auf. »Da siehst du es. Bitte höre dieses eine Mal auf mich.« Ganda sah ihn flehend an. Sie hatte immer noch Angst.

»Wir müssen hier fort«, flüsterte sie. »Wir sind noch immer in Gefahr. Aber bevor wir gehen können, muss ich noch einmal in den Saal des Lichts zurück. Bitte.«

»Wir sind aus dem Spiel«

Obwohl die Gesichter noch teilweise sandverkrustet waren, konnte es keinen Zweifel an der Identität der Leichen geben. In der Düne waren Galawayn und Qualbam III. verscharrt worden. Gandas leerer Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

Einen Augenblick lang fürchtete sie, sie müsse sich erbrechen.

»War etwas verändert bei Qualbam, als er dir begegnete?«, fragte der Schwertmeister leise. Die beiden standen etwas abseits von Meister Reilif, unter dessen Aufsicht drei Kobolde die Leichen ausgegraben hatten.

»Seine Augen.« Der Mund der Lutin war staubtrocken. »Gestern Abend hatte er strahlend blaue Augen. Am Morgen waren sie noch grau gewesen.«

»Das ist alles? Hat er sich nicht irgendwie anders verhalten? Wie ist er gegangen? Gab es eine auffällige Geste? Irgendetwas, das sich sonst noch deutlich unterschied?«

Die Lutin schüttelte den Kopf. Sie starrte in das leblose Gesicht des Kobolds. Er war gestorben, weil sie ihn kannte. Der Mörder hatte gewusst, dass sie Qualbam nicht misstrauen würde, wenn sie ihm begegnete.

Meister Reilif kniete neben den beiden Toten und untersuchte sie.

Verstohlen musterte Ganda die Augen der Kobolde und stellte erleichtert fest, dass sie nicht blau waren. Nur beim Hüter des Wissens konnte man nicht sicher sein. Seine Augen blieben im Schatten der Kapuze verborgen. In seiner schwarzen Kutte sah er aus wie ein lebendig gewordener Schatten. Wie das, was sie bekämpfen sollten. Ein Yingiz.