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In aller Ruhe tastete Reilif die beiden Toten ab. Seine blassen, schlanken Finger glitten wie Spinnenbeine über die ausgedorrten Leiber. Dann drückte er dem Kobold auf den Brustkorb, woraufhin Qualbam eine zähe, bräunliche Flüssigkeit aus dem Mundwinkel troff.

»Der Beleuchter ist noch nicht sehr lange tot«, erklärte Reilif und richtete sich auf. »Ich denke, er starb erst vor wenigen Tagen. Was ihn umbrachte, ist schwer zu sagen. Ich konnte keine äußerlichen Verletzungen feststellen. Der Sand hat seinen Leib noch nicht sehr stark ausgetrocknet.« Der Hüter des Wissens deutete nun auf Galawayn. Die Gestalt des Elfen war zusammengekrümmt. Seine Gewänder waren voll von getrocknetem Blut. »Ihn tötete ein Dolchstoß in die Kehle. Dann hat ihm sein Mörder unbegreiflicherweise die Haut von den Händen abgezogen. Der Sand hat Galawayns Leib stark ausgetrocknet. Dennoch habe ich das Gefühl, dass auch er noch nicht länger als einige Tage tot ist.«

»Warum?«, fragte Ollowain.

»Vor zehn Tagen war die letzte Versammlung der Hüter des Wissens. Galawayn saß mir gegenüber. Ich hätte bemerkt, wenn jemand anderes versucht hätte, seine Rolle zu spielen. Offenbar ist der Mörder genau aus diesem Grund gestern der Versammlung fern geblieben. Galawayn fehlte. Unentschuldigt«, fügte er noch hinzu, als verschlimmere diese Tatsache das Verbrechen noch.

»Ich fand nicht, dass er sich sehr auffällig benommen hat«, sagte Ollowain.

Ganda traute ihren Ohren nicht! Dieser Mistkerl, der Galawayns Gestalt angenommen hatte, hatte den Schwertmeister in tiefste Verzweiflung gestürzt, und Ollowain fand das nicht auffällig? Elfen!

»Du kanntest ihn doch gar nicht«, sagte Reilif überraschend scharf. »Wie willst du beurteilen, ob er sich verändert hat?«

»Ich sagte, dass er sich nicht auffällig benahm«, entgegnete Ollowain mit aufreizender Ruhe und kniete neben dem toten Elfen nieder. »Was ist mit seinen Händen geschehen?«

Während der Schwertmeister und Reilif den Leichnam näher betrachteten, zog Ganda sich zurück. Sie war noch sehr schwach auf den Beinen und fühlte sich ein wenig schwindelig. Doch während die Kobolde an der Düne gegraben hatten, hatte sie darauf bestanden, von Ollowain abgesetzt zu werden. Es war ihr plötzlich peinlich gewesen, wie ein Kind getragen zu werden.

Die Hitze im Saal des Lichts machte ihr zu schaffen. Mit unsicheren Schritten zog sie sich zum Zelt zurück. Seit sie erwacht war, war sie mit Ollowain keinen Augenblick allein gewesen. Meister Reilif wich nicht von ihrer Seite. Und dass man seine Augen nicht sehen konnte, machte ihr Angst.

Ganda betrachtete das große Buch mit den Messingbändern, das noch immer auf dem niedrigen Lesetisch lag. Es schien nicht von der Stelle bewegt worden zu sein, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. »Es geht um dich, nicht wahr?«, sagte sie, als könne das verzauberte Buch ihre Worte verstehen. »Du öffnest dich nicht für den Mörder. Deshalb hat er Galawayn die Haut von den Händen abgezogen. Er wollte dich mit den Handschuhen, die sich wie die Hände des Elfen anfühlten, überlisten.«

Die Handschuhe lagen noch immer auf dem Tisch. Angewidert wandte Ganda den Blick ab. Hinter dem durchsichtigen Schleier stand der Falrach-Tisch. Es kam ihr so vor, als stünden auf dem Spielbrett jetzt weniger Figuren. Was mochte der Mörder in den letzten fünf Tagen wohl getan haben? Die Lutin war sich sicher, dass er nicht geflohen war. Sie sah hinüber zu der flachen Düne, die zu Galawayns Grabhügel geworden war. Ollowain und Reilif sprachen noch immer miteinander. Wenn sie nur Reilifs Augen hätte sehen können! Offenbar vermochte der Mörder die Gestalt seiner Opfer anzunehmen. Nur seine Augen schien er nicht verändern zu können.

Gandas Blick schweifte durch das Zelt. Gab es irgendeinen Hinweis? Hatte der Mörder etwas mitgebracht, das auf sein wahres Gesicht hinwies? Hatte jemand, der seine Gestalt verändern konnte, überhaupt noch ein wahres Gesicht? Oder verlor er sich mit der Zeit in all den Körpern, die er gestohlen hatte?

Die Lutin blickte unter den niedrigen Tisch, wo am Tag ihrer Ankunft das Garn und die Walbeinnadel versteckt gewesen waren. Natürlich war dort nichts.

Ihr ging auf, dass das verzauberte Buch vom ersten Tag an im Weg gelegen hatte. Eigentlich hätte sie es zur Seite schieben müssen, um vernünftig an dem Tisch zu arbeiten. Nur ihre Scheu vor der magischen Aura des Folianten hatte sie davon abgehalten. Darauf musste der Mörder gewartet haben. Durch den Schleier hatte er sie die ganze Zeit, während er mit Ollowain gespielt hatte, beobachten können. Er hatte darauf gewartet, dass sich das Buch unter ihrer Berührung öffnete.

Ganda dachte an die wenigen Zeilen, die sie in dem Folianten gelesen hatte. Er durfte nicht in die falschen Hände geraten! Hier in der Bibliothek von Iskendria war er nicht mehr sicher. Ganz gleich, was die eingebildeten Hüter des Wissens für Gesetze hatten: Das Buch musste fort von hier! Aber es war zu groß, um es zu verstecken.

Warum hatte der Mörder es noch nicht fortgeschafft? Er hatte doch fünf Tage Zeit gehabt. Konnte er es vielleicht nicht einmal anfassen? War der Zauber dieses Buches stark genug, um sich zu schützen? Die Vorstellung ließ Ganda zufrieden schmunzeln. Sie malte sich aus, wie den Mistkerl ein Blitzschlag getroffen hatte, als er seine blutigen Finger nach dem Objekt seiner Begierde ausgestreckt hatte. Aber das war sicher übertrieben. Wahrscheinlich war es dem Mörder einfach nur unangenehm, das Buch zu berühren, und es öffnete sich eben nicht unter seiner Hand.

Dennoch konnte der kostbare Foliant nicht hier bleiben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mörder einen arglosen Besucher der Bibliothek fand, der für ihn Melianders Buch aufschlagen konnte.

Ganda bemerkte eine Lederhülle auf dem Holzständer für Schriftrollen, an die sie sich nicht erinnern konnte. Auf dem ledernen Zylinder waren seitlich drei schwarze Siegel angebracht, von denen schmale Pergamentstreifen mit merkwürdigen Runenzeichen hingen. Neugierig nahm die Lutin den Behälter an sich und öffnete ihn. Eine Schriftrolle aus seltsam grauem Pergament glitt hinaus. Es fühlte sich unangenehm zwischen den Fingern an, und Ganda hatte das Gefühl, dass es nicht aus einer Tierhaut gefertigt war. Der Text war in schnörkellosen, kleinen Buchstaben geschrieben. Die letzten Zeilen wurden immer kleiner, und die Buchstaben drängten sich dichter und dichter, als habe der Verfasser unbedingt all sein Wissen auf dieses einzelne Blatt Pergament bringen wollen. Ganda überflog die ersten Zeilen.

»Willst du das Grauen unter deine Feinde tragen und ihren Mut dahinschmelzen lassen wie Schnee im Sommerlicht, dann erschaffe die Shi-Handau. Keine Waffe Albenmarks vermag sie zu töten. Allein die Träger eines Albensteins haben die magische Macht, sie zu bannen. Doch sei gewarnt! Dies ist ein Zauber, der große Macht und eisernen Willen erfordert, sonst werden die Geschöpfe, die du rufst, sich gegen dich wenden. Wähle unter deinen Gefährten einen Mann von unverbrüchlicher Treue aus, der aber dennoch entbehrlich ist. Und suche einen zweiten, der zu dumm ist, um wirklich nützlich zu sein. Dann ...« Es folgten genaue Anweisungen zu Bannkreisen und Zauberformeln. Es ging um Blutmagie. Mit ungläubigem Entsetzen las Ganda, wie ein geisterhafter Hund erschaffen wurde, in dem sich ein Yingiz und der Gefährte von unverbrüchlicher Treue miteinander verbanden. Das war die Gestalt, nach der Galawayn so eindringlich gefragt hatte. Das geisterhafte Geschöpf, das Angst in die Reihen der Verteidiger von Phylangan getragen hatte! War es dem Mörder um dieses Wissen gegangen? Und hatte er die Schriftrolle zurückgelassen, um Ganda zu zeigen, dass er zuletzt triumphiert hatte?

Die Lutin wollte nicht glauben, dass es nicht um Melianders Buch gegangen war. Hastig schob sie die Schriftrolle in ihre Lederhülle und legte sie zurück auf den Stapel. Dann drehte sie sich zu dem niedrigen Tisch um.

Warum war dieses verfluchte Buch nur so riesig und schwer! Ganz gleich, welche Strafe drohte, sie würde es stehlen, wenn es nur die geringste Aussicht gäbe, es unbemerkt aus der Bibliothek zu schaffen.