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Mit den Fingerspitzen strich sie über das weiche Leder. Nicht einmal Ollowain könnte das Buch unter seinen Gewändern verstecken, ohne dass es auffiele.

Hellblaues Licht troff von den grauen Steinen. Erschrocken zog Ganda die Hand zurück. Was hatte sie getan? Hastig stellte sie sich so, dass sie mit ihrem Leib das Buch vor den Blicken ihrer Begleiter abschirmte, falls einer der beiden in ihre Richtung schauen sollte.

»Hör auf damit!«, flüsterte sie beschwörend. »Ich lass dich ja hier liegen. Ich werde dich nie wieder anfassen. Nur hör auf!«

Das blaue Licht hatte eine eigentümliche Wirkung auf den Folianten. Er wurde durchscheinend. Deutlich konnte die Lutin jetzt die Tischplatte durch das Buch hindurch sehen.

»Sofort aufhören! Lass das ... Bitte!« Sie wollte nach dem Buch greifen, doch ihre Finger glitten durch es hindurch. »Verflucht!«

Ganda blickte über die Schulter.

Im selben Augenblick sah Ollowain von den beiden Toten auf.

»Ist irgendwas?«, rief der Elf.

»Alles in Ordnung!«, rief Ganda. »Alles bestens. Mir geht es gut!« Jetzt sah auch Reilif zu ihr hinüber. Klar, bei dieser Antwort wäre sie auch stutzig geworden.

»Bitte, Buch! Hör auf mit dem Unsinn!«, flüsterte sie. »Ich werde nie mehr auch nur daran denken, dich zu stehlen. Aber bitte, bitte werde wieder ein normales Buch!«

Inmitten des durchscheinenden Schemens erschien ein dünnes Lederriemchen, an dem eine einzelne, schillernde Feder hing. Die Zeichnung der Feder erinnerte an den Einband von Melianders Buch, sie wies mattgraue Flecken auf, die den Steinchen ähnelten. Ein bläuliches Licht umspielte die Feder und verschwand dann in den kleinen grauen Flecken.

Zögerlich streckte Ganda die Hand aus. Sie griff durch den Schemen des Buchs und konnte die Feder berühren. Sie war real, kein Trugbild. Die Lutin leckte sich nervös über die Schnauze. Wollte das Buch, dass sie es von hier fortbrachte? Wie sonst sollte dieses Zeichen zu verstehen sein? Sie dachte an die Worte des weißen Kentauren. Daran, welche Strafe auf den Diebstahl eines Buches aus der Bibliothek stand. Vielleicht würden die Hüter des Wissens ihnen das Buch freiwillig mitgeben? Zögernd betrachtete sie die Feder.

Nein, die Hüter des Wissens waren Gefangene ihrer Vorschriften und Rituale. Sie würden niemals gestatten, dass ein Buch die Bibliothek verließ. Entschlossen nahm sie die Feder und band sie mit dem Lederriemchen um ihren Hals, als sei sie nur ein harmloser Talisman. Die Zukunft Albenmarks stand auf dem Spiel! Sie konnte nicht anders handeln, auch wenn dies bedeutete, dass die Hüter des Wissens ihren Kopf fordern würden.

Ollowain und der Hüter des Wissens kamen jetzt zu ihr hinüber. Ganda fluchte. Reilif durfte auf keinen Fall merken, was geschehen war. Das Buch auf dem Tisch sah nun nicht länger durchscheinend aus. Die Lutin tastete danach, doch ihre Finger glitten widerstandslos durch den Buchdeckel. Eine Illusion! Sie musste den Hüter des Wissens von diesem verdammten Buch ablenken. Eilig trat sie aus dem Zelt.

»Geht es dir wieder besser, Ganda?«, fragte Reilif höflich.

»Mir ist ein wenig schwindelig«, log die Lutin glatt. »Ich brauche wohl etwas Ruhe.«

»Kannst du mir kurz die Schriften zeigen, die Galawayn dir vorgelegt hat?«

Ganda stöhnte. »Mir geht es wirklich nicht gut.«

Ollowain sah sie besorgt an.

»Es dauert nur einen Augenblick.« Reilif duckte sich unter einer der hochgeschlagenen Zeltwände hindurch und trat ein. Er ging geradewegs auf den Tisch zu.

Ganda setzte ihm nach. »Da ist eine Schriftrolle, die neu hinzugekommen ist, seit ich das letzte Mal hier war. Sie sieht so aus, als sei sie etwas Besonderes.« Sie nahm die Rolle mit den schwarzen Siegeln und reichte sie Reilif.

Die Lippen des Buchhüters wurden zu einer schmalen, blutleeren Linie. Er schob sich die Schriftrolle in den Ärmel und untersuchte die Ablage mit den übrigen Texten. »Sind dir noch weitere Rollen wie diese aufgefallen?«, fragte er nach einer ganzen Weile. »Lederhüllen mit schwarzen oder goldenen Siegeln?«

»Nein«, antwortete Ganda und drängte sich zwischen Reilif und den Tisch, auf dem das falsche Buch lag. »Stimmt etwas nicht?« Wenn sie nur sein Gesicht besser sehen könnte!

»Diese Schriftrolle hat hier nichts verloren. Sie fällt ... Sie fiel nicht in die Verantwortung Galawayns, und es ist mir unbegreiflich, wie sie hierher gelangen konnte. Sie sollte unter Verschluss sein!«

Ollowain war zum Falrach-Tisch gegangen. Tief gebeugt stand er über der Platte und starrte auf die Figuren.

»Ihr solltet euch wohl Gedanken über die Verwahrung von gefährlichen Texten machen«, meinte Ganda. »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich Emerelle von den Zuständen hier in der Bibliothek berichten werde. Geheime Dokumente werden gestohlen, und es herrscht Mord und Totschlag. Vielleicht sollte man die Bücher, die zu kostbar sind, um sie hier zu lassen, anderswo lagern.«

Reilifs Mundwinkel zuckten. »Wir hatten nicht damit gerechnet ... Was geschehen ist, ist so ungeheuerlich. Ich ... Ich werde die Hüter des Wissens zusammenrufen. Wir werden aus unseren Fehlern lernen, Lutin.«

Ganda machte es keinen Spaß, ausgerechnet denjenigen in die Enge zu treiben, der sich außer Ollowain um ihre Genesung gesorgt hatte. Aber sie musste Reilif von dem falschen Buch fortbringen. Je weiter, desto besser. »Eure Fehler hätten mich beinahe das Leben gekostet. Du wirst doch wohl nicht von mir erwarten, dass ich darüber schweige, wenn ich vor der Königin stehe.«

»Die Bibliothek befindet sich in der Zerbrochenen Welt und unterliegt damit nicht der Autorität der Königin«, wandte der Hüter des Wissens steif ein.

»Entschuldigst du damit eure Fehler?«

Reilifs Mundwinkel zuckten jetzt stärker. »Nein, das tue ich nicht«, sagte er niedergeschlagen. »Es tut mir aufrichtig leid, welches Ungemach dir widerfahren ist. Wenn ich könnte, würde ich ...«

»Findest du die Bezeichnung 'Ungemach' nicht ein wenig untertrieben? Dass ich noch lebe, ist ein glücklicher Zufall. Eine Giftschlange in seinem Bett zu finden, das überschreitet bei weitem das, was ich unter Ungemach verstehe.«

»Gewiss.«

»Was für ein Text ist das?«, herrschte Ganda ihn an.

»Es geht um die finstersten Spielarten der Magie. Ich weiß nicht, was genau hier steht, und freiwillig würde ich es niemals lesen. Schriften, die drei schwarze Siegel tragen, sind durch und durch verderbt. Es geht um Dinge, die einem den Seelenfrieden nehmen, wenn man sie weiß. Sie werden an einem geheimen Ort verwahrt, den nur wir Hüter des Wissens kennen. Diese Schrift sollte umgehend dahin zurückgebracht werden.«

Ganda hätte niemals damit gerechnet, eine so ehrliche Antwort zu bekommen. Sie hatte Reilif wohl mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als er sich bisher hatte anmerken lassen. Und er hatte mehr gesagt, als sie wissen wollte. »Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du die Schriftrolle dahin bringst, wo sie hingehört. Wenn es nach mir ginge, würden solche Texte verbrannt werden.«

»Es genügt jetzt, Ganda«, mischte sich Ollowain ein. »Meister Reilif hat sich entschuldigt. Hör endlich auf mit deinen Beschimpfungen! Es ändert ohnehin nichts mehr.«

Der Hüter des Wissens verneigte sich knapp. »Ihr entschuldigt mich bitte.« In aller Eile zog er sich zurück.

Ganda lehnte sich erschöpft an den Tisch. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sie mussten hier fort. So schnell wie möglich. Müde schloss sie die Augen. Jeder hier in der Bibliothek konnte der Mörder sein. Es war unmöglich abzuschätzen, wie seine wahre Gestalt aussah. Obendrein konnte er sich ja jedes beliebigen Leibes bemächtigen.

»Hast du mir etwas zu sagen?«

Ollowain stand plötzlich vor ihr. Sie musste einen Aussetzer gehabt haben. »Was meinst du?« Er deutete auf ihre linke Hand, die halb in dem falschen Buch versunken war, dem Spiegelbild ohne Substanz.

Ganda seufzte. Wenn sie versuchte, Ollowain zu erklären, was geschehen war, würde ihnen beiden am Ende seine Ehre im Weg stehen. »Das ist jetzt nicht von Belang«, antwortete sie entschieden.