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Sie war so durcheinander, dass sie schon gehorchen wollte, als sie erkannte, was der ehemalige Hüter des Wissens aufgehoben hatte. Es war eine Hand.

Ganda wurde es übel. Sie sah auf ihren linken Arm. Das Zwielicht bewahrte sie davor, allzu deutlich zu erkennen, was geschehen war. Der Arm endete in einem Stumpf. Es war ihre Hand, die Kleos aufgehoben hatte.

Obwohl Ganda deutlich den Stumpf sah, weigerte sie sich, das Offensichtliche anzuerkennen. Ihre Hand ... Wieso ...

»Den Arm!«, forderte Kleos barsch. »Du ...« Der Minotaur wirbelte herum. Metallisches Kreischen drang in Gandas Ohren. Funken stoben, wo Stahl auf Stahl schlug.

Beängstigend schnell wirbelte der Klingenstab. Ollowain duckte sich weg. Ein Hieb, der ihm gegolten hatte, spaltete die schwere Platte eines Lesepults. In tödlichem Tanz umkreisten der Minotaur und der Elf einander.

Dieser Kleos brauchte keine Krücke mehr. Ganda bezweifelte, dass der alte Kleos jemals mit solchem Geschick gekämpft hatte. Auch wenn sie es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, war sie sich sicher, dass dieser Minotaur blaue Augen hatte. Es war so gekommen, wie Ollowain es vorhergesagt hatte. Ihr Feind diktierte ihnen ihre Züge. Sie waren aus dem Spiel. Der Mörder hatte gewusst, dass sie hierher kommen würden.

Ganda bemerkte erst jetzt, dass sie in einer dunklen Pfütze saß. Ihr Armstumpf schmerzte nur wenig. Es war seltsam. Sie konnte ihn ohne Abscheu betrachten. Irgendwie erschien es ihr so, als sei das nicht wirklich ihr Arm. Ihr Arm endete in einer Hand! Dieses verstümmelte Ding gehörte nicht zu ihr!

Unbeholfen riss sie einen Streifen vom Saum ihres Kleides. Sie musste die Blutung stillen.

Polternd stürzte ein schweres Stehpult zu Boden. Der Minotaur versetzte dem Pult einen Tritt; schlitternd glitt es über den glatten Boden. Statt auszuweichen, sprang Ollowain auf das Stehpult, hielt mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht und war mit einem Satz auf einem der anderen Pulte.

Kleos stieß seinen Klingenstab ins Leere, schwang ihn in weitem Kreis zurück und wehrte gerade eben noch einen Rückhandschlag ab, der auf seinen Nacken gezielt hatte. Schnell wie Trommelschlag ertönte der Klang des Stahls.

Ganda war ganz benommen. Zu lange hatte sie sich darin verloren, den beiden zuzusehen. Sie musste diesen Arm versorgen, auch wenn sie den Stumpf nicht als einen Teil von sich akzeptierte. Sie hatte schöne Hände gehabt ...

Mit einiger Mühe schaffte es die Lutin, den Stoffstreifen um den Stumpf zu wickeln. Sie musste ein Ende mit den Zähnen festhalten, um den Verband straff zu ziehen.

Sofort war der Stoff blutdurchtränkt. Jetzt meldete sich der Schmerz. Selbst die leichteste Berührung der Wunde war wie ein Stich mit einem glühenden Messer. Die Lutin begann zu zittern. Ihre Zähne klapperten. Es war viel kälter geworden.

Aus den Augenwinkeln sah Ganda, wie der Minotaur versuchte, den Elfen mit einem ungestümen Angriff in die Enge zu treiben. Schlag folgte auf Schlag, schneller als das Auge zu folgen vermochte. Plötzlich stieß der Kopf des Minotauren herab. Ollowain wich den tödlich spitzen Hörnen aus, aber Kleos‘

Stirn rammte gegen seine Schulter. Der Schwertmeister taumelte. Ein Schlag nach seinen Beinen zwang den Elfen zu einem hastigen Sprung, der ihn noch mehr aus dem Gleichgewicht brachte.

Der Minotaur stieß einen wilden Triumphschrei aus und setzte nach. Doch wo jeder andere gestrauchelt wäre, fand Ollowain das Gleichgewicht wieder. Sein Schwert beschrieb einen silbernen Bogen. Ein dumpfes Knacken war zu hören. Dann fiel eines der Hörner des Minotauren zu Boden. Ollowain hatte es dicht am Kopf abgetrennt.

Kleos wich ein wenig zurück. Ein Wort der Macht ließ auf einen Schlag alle Öllampen im Lesesaal aufflammen. Jetzt erst sah Ganda den dünnen Schnitt auf der Brust des Stiermanns. Es war keine tiefe Wunde, aber als Ganda die Verletzung sah, war sie überzeugt, dass Ollowain siegen würde. Zugleich sah sie all das Blut auf dem Boden um sie herum.

»Glaubst du, du siegst?«, fragte der Minotaur und wehrte einen Stoß ab, der auf seine Hüfte gezielt hatte. »Der Kampflärm wird weit zu hören sein. Gewiss ist schon jetzt ein Trupp mit Armbrüsten bewaffneter Kobolde auf dem Weg hierher. Was glaubst du, auf wen sie schießen werden? Auf Kleos, den sie seit Jahren kennen, oder auf dich und die Lutin?«

Ein ganzer Hagel von Schlägen ging auf den Stiermann nieder. »Mach weiter, Ollowain«, rief er. »Während wir kämpfen, verblutet deine Gefährtin.«

Der Schwertmeister blickte zu ihr hinüber. Sofort griff der Minotaur an. Mit einem heimtückischen Hieb zielte er auf Ollowains Beine. Der Elf wich aus, doch jetzt blickte er schon wieder zu ihr hinüber.

»Mir geht es gut.« Ganda hatte rufen wollen, doch ihrer Stimme fehlte es an Kraft. Sie zitterte erbärmlich.

»Öffne das Tor!«, rief Ollowain und duckte sich.

Ganda schleppte sich zum Albenstern. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und wollte aufrecht gehen, doch stattdessen taumelte sie vor Schwäche. Dicke Blutstropfen troffen aus ihrem Verband und hinterließen eine dunkle Spur auf dem weißen Marmorboden des Lesesaals. Das helle Licht schmerzte Ganda in den Augen. Sie sah Ollowain wieder zu sich hinüberblicken. Warum ließ sich dieser verdammte Elf so sehr ablenken? Das würde ihn noch den Kopf kosten.

Ganda griff nach der Magie der Albenpfade. Wieder schlug Stahl auf Stahl. Es fiel der Lutin schwer, sich auf ihren Zauber zu konzentrieren. Immer wieder blickte sie besorgt zu Ollowain. Der Elf war in der Defensive. Schritt um Schritt trieb Kleos ihn in Richtung des Albensterns.

»Um den Preis von Gandas rechter Hand lass ich euch beide ziehen.« Der Lutin entglitten die Kraftströme der Albenpfade. Unwillkürlich griff sie nach der schillernden Feder an ihrem Hals. Sie war noch da. Obwohl sie direkt auf ihrer nackten Haut lag, spürte Ganda nicht den Zauber, der das Buch umgab. Das war ungewöhnlich. Und es würde sie retten. Auch Kleos würde den Tarnzauber nicht durchschauen können. Der Mörder musste beobachtet haben, wie sich Melianders Buch unter ihrer Berührung geöffnet hatte. Offensichtlich glaubte er, das Buch täuschen zu können, wenn er ihre Hände mitbrachte. Bei dem Gedanken wurde ihr übel. Mit Tränen in den Augen betrachtete sie ihre abgeschlagene Hand.

Reiß dich zusammen, Mädchen, ermahnte sie sich. Es liegt jetzt an dir.

Wieder griff sie nach den Kraftlinien der Albenpfade. Sie tanzten wie sich windende Schlangen. Ganda hatte das Gefühl, dass ihr jemand half. Obwohl sie zitterte und ein pochender Schmerz in ihrem Schädel klopfte, fiel es ihr so leicht wie nie zuvor, den Lichtbogen zu öffnen. Doch irgendetwas war anders als sonst.

»Senkt eure Waffen!«, befahl eine hohe Stimme. Ein recht korpulenter Kobold eilte durch den Mittelgang zwischen den Pulten auf sie zu. Er trug ein rotes Barett, von dem zwei zerzauste Federn hingen. Ein halbes Dutzend kleiner, hagerer Gestalten mühte sich hinter ihm ab, auf die Stehpulte zu steigen. Sie waren mit Armbrüsten bewaffnet, die sie an breiten Lederriemen auf den Rücken geschnallt trugen. Mit ihren schmächtigen Leibern und den tintenbefleckten Fingern wirkten sie so gar nicht wie Krieger. Man sah ihnen an, dass sie Schreiber, Beleuchter und Küchenhilfen waren. Aber in ihren Mienen spiegelte sich grimmige Entschlossenheit. Der Erste schnallte seine Armbrust ab, stellte einen Fuß in den eisernen Bügel der Waffe und begann sie mit Hilfe zweier seitlich angebrachter Kurbeln zu spannen.

»Aufhören!«, rief der Anführer der Koboldschar mit sich überschlagender Stimme. »Im Namen der Hüter des Wissens gebiete ich euch Einhalt!«

Ollowain hatte Ganda jetzt fast erreicht. Nur ein paar Schritte trennten ihn noch von dem schimmernden Lichtbogen. Ganda hätte von den Kraftlinien ablassen können, aber etwas erschien ihr merkwürdig. Unter den vertrauten, machtvollen Zaubern spürte sie wohl verborgen etwas Fremdes.

Das Iskendria der Menschen war nur ein paar Schritte entfernt. Doch dorthin zu fliehen wäre töricht. Die Wächter der Bibliothek würden ihnen leicht folgen können. Ganda wusste, dass sie und Ollowain sich tiefer in das goldene Netz wagen mussten, um einen anderen Weg zu finden. Im Gespinst der sich kreuzenden Albenpfade gab es tausend Möglichkeiten, seinen Weg zu finden. Emerelle war dagegen gewesen, auf einem direkten Weg hierher in die Bibliothek zu kommen, um ihre Mission vor den Yingiz, die draußen in der Dunkelheit des Nichts lauerten, geheim zu halten. Doch nun gab es keinen Anlass mehr zu solchen Winkelzügen. Sie konnten ohne den Umweg über die Welt der Menschen nach Albenmark zurückkehren.