Выбрать главу

»Erschießt zuerst die Lutin!«, befahl Kleos.

Der Anführer der Kobolde blinzelte nervös. »Ihr hört auf mein Kommando«, sagte er. »Kleos ist ...«

»Ein Hüter des Wissens!«, unterbrach ihn der Minotaur zornig. »Wie ihr seht, bin ich von den Verletzungen, die ich mir beim Bücherschlag zugezogen habe, wieder genesen. Die Lutin hat eine kostbare Schriftrolle aus der Halle des Lichts gestohlen. Ihr kennt die Gesetze der Bibliothek. Bücher und Schriften, die einmal hierher gelangt sind, verlassen Iskendria nie wieder. Dies ist ehernes Gesetz. Wer dagegen verstößt, ist des Todes.«

Ollowain begann zu laufen.

»Alles hört auf mein Kommando!«, rief Kleos.

»Er ist ein Lügner und Mörder!« Ohne auf Ganda zu achten, legten die Kobolde Bolzen in ihre Armbrüste. Ihr Anführer machte keine Anstalten mehr, Kleos den Befehl streitig zu machen.

»Weg hier!« Ollowain hob Ganda hoch. Dabei gab er sich Mühe, den Armbrustschützen, so gut es ging, die Sicht auf sie zu versperren. Die Lutin konnte gerade noch über die Schulter des Elfen blicken. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie etwas falsch machten.

Etwas stimmte nicht.

»Legt an!«, kommandierte Kleos, und die Kobolde hoben ihre Armbrüste an die Schultern.

»Ausrichten!«

Ganda hatte den Eindruck, dass Kleos gar nicht wollte, dass sie erschossen wurden. Er wollte etwas anderes. Er hätte doch schon längst befehlen können zu schießen. Warum tat er das nicht? Sie sah, wie einer der Kobolde unter dem Gewicht seiner Waffe zu zittern begann. Man zielte nicht so lange mit einer Armbrust. Dazu waren diese Waffen zu schwer!

Ollowain trat durch das Tor.

Ganda spürte einen Sog. Er war kaum wahrnehmbar. Eine fremde Kraft. Der Pfad aus der Bibliothek hinaus war manipuliert. Wohl verborgen zwischen der Magie der Alben gab es einen neuen Zauber.

Der Schwertmeister schien nichts zu bemerken.

Das Tor hinter ihnen begann sich zu schließen. Viel schneller als üblich! Deutlich sah Ganda nun Kleos blaue Augen. Sie hatte es gewusst! Der Minotaur lächelte.

Jetzt, wo sie mit allen Sinnen darauf achtete, spürte sie den fremden Zauber deutlich. Sie waren in seiner Gewalt, so lange sie den Pfad nicht verließen. Das war es, was ihr Feind gewollt hatte!

Gandas Mund war jetzt staubtrocken. Sie zitterte immer heftiger. Es war tödlich kalt! Sie musste an das Falrach-Brett denken. Der Schwertmeister hatte Recht behalten. Sie waren aus dem Spiel. Ihr Feind hatte den Wurf um den nächsten Zug gewonnen.

Zweites Buch

Die Rebellen

Bruder Jules

Bruder Guido fügte der Miniatur einen letzten Pinselstrich hinzu und vertiefte den Schatten im Faltenwurf des Gewandes. Zufrieden betrachtete er das Bild des heiligen Guillaume. Es zeigte den Märtyrer unmittelbar vor seinem Tod, als er von den Elfen an die Eiche gebunden wurde.

»Deine Elfen sehen wirklich zum Fürchten aus.« Eine leichte Hand legte sich auf seine Schulter. »Wenn man deine Bilder betrachtet, könnte man meinen, du seiest Augenzeuge gewesen an jenem schrecklichen Tag. Sie erscheinen wie ein Abbild der Wahrheit. Das ist eine große Gabe.«

Guido spielte nachdenklich mit seinem Knebelbart. »Ich weiß nicht, Bruder Abt. Die spitzen Ohren, die ihnen wie Hörner durch das lange Haar lugen, die bleichen Gesichter, die an Tote erinnern, und die großen dunklen Augen ... Das ist ja gut und schön. Aber jeder malt sie so. Ich möchte ihnen noch etwas Dämonisches geben. Ich dachte daran, sie noch etwas dünner zu machen und ihre Glieder ein wenig länger darzustellen, als man das von uns Menschen kennt. Sie sollten noch fremder wirken. Vielleicht kann man ihrer Blässe auch mehr Tiefe geben, wenn man mehr dünne Schichten Farbe aufträgt.«

»Ach, Guido, du bist der beste Miniaturenmaler in unserer Schreibstube, aber du machst dich der Sünde der Eitelkeit schuldig, ganz zu schweigen von den Sünden, um die du nicht wissen kannst. Im Übrigen brauchst du dreimal so lange wie jeder andere Schreiber hier, um eine Miniatur zu vollenden.«

»Aber meine Bilder sind auch schöner als die aller anderen«, begehrte Guido auf.

»Das meinte ich«, sagte der Abt. »Eitelkeit ist dein Laster. Einem Ordensbruder, der sich und sein Leben Tjured geschenkt hat, steht Bescheidenheit besser zu Gesicht. Jeder hier weiß, dass du bei weitem der beste Maler in der Schreibstube bist. Allein dir wird die Ehre zuteil, die Schriften für das Königshaus zu illustrieren. Genügt dir die stille Freude daran nicht?«

Der Ordensbruder seufzte. »Natürlich hast du Recht. Aber jeder hört es gerne, dass er gute Arbeit geleistet hat. Wie oft stehe ich bis tief in die Nacht bei Kerzenschein an meinem Schreibpult! Wie oft arbeite ich immer noch an meinen Miniaturen, wenn alle anderen Brüder und Schwestern sich längst in ihre Kammern zurückgezogen haben! Und was ist mein Lohn? Mein Bett ist nicht weicher, meine Kutte nicht aus feinerer Wolle. Ich esse dieselben Speisen wie alle Brüder und Schwestern, obwohl ich ihnen in meinem Fleiß ungleich bin. Verdiene ich dann nicht wenigstens ein Lob? Ist das zu viel verlangt, Bruder Abt?«

Während er sprach, wusch Guido die dunkelblaue Farbe aus dem dünnen Pinsel, mit dem er am liebsten malte. Dann befeuchtete er Daumen und Zeigefinger mit der Zunge und formte die Marderhaare sorgfältig wieder zu einer feinen Spitze.

»Komm zu mir, Guido«, sagte der Abt und ging zum Südfenster hinüber. Lucien war ein alter glatzköpfiger Mann, über den sich die Brüder und Schwestern des Refugiums die abenteuerlichsten Geschichten erzählten. Trotz seiner Jahre hielt sich der Abt kerzengerade, und sein Rücken war breit und kräftig wie bei einem Schmied. Lucien führte ihr kleines Refugium mit großer Strenge. Kein Vergehen blieb ungesühnt, und er wusste genau, wem er mit welcher Strafe am meisten zusetzte. Doch zugleich war das Herz des Abtes voller Güte. Wer sich ihm anvertraute, der wusste bei ihm seine Sorgen und Ängste wohl verwahrt.

Bevor er auf den Mons Gabino gekommen war, hatte Guido in einem anderen, größeren Refugium gedient. Nur ungern erinnerte er sich daran zurück. Eitles Intrigenspiel hatte das Zusammenleben der Brüder und Schwestern dort vergiftet, Missgunst und Neid hatten den Tag beherrscht. Hier war das anders. Sie waren wie eine große Familie. Alles hatte seine Ordnung, und der Miniaturenmaler wusste, dass dies ihrem Abt zu verdanken war.

Wer Lucien zum ersten Mal begegnete, der musste sich zwingen, nicht angewidert den Blick abzuwenden. Eine grässliche Narbe lief dem Abt quer durch das Gesicht, sie reichte vom Kinn bis zur linken Augenbraue hinauf. Sein linkes Auge war nur noch eine leere Höhle, die sich immer wieder entzündete. Doch am schlimmsten waren die Lippen anzusehen. Wulstig und so dick wie zwei Würste, waren sie gewiss nie ein schöner Anblick gewesen. Doch der Schwerthieb, der den Abt einst getroffen hatte, hatte ihm auch die Lippen gespalten, und sie waren so ungleich verheilt, dass es aussah, als sei eine Hälfte des Mundes einen Finger breit nach oben verrutscht. Auch konnte er durch diese Verstümmlung seinen Mund nicht mehr richtig schließen, und so sah er aus wie ein Raubtier, das drohend die Zähne bleckte.

Guido steckte den Marderhaarpinsel sorgfältig in den angeschlagenen Tonbecher zu den anderen Pinseln. Wahrscheinlich war es auch eitel, wenn man seinen Arbeitsplatz in Ordnung hielt, dachte er ärgerlich. Er ahnte, was für eine Art Predigt ihn erwartete, und hatte es nicht eilig damit, an die Seite des Abtes zu treten. Er rückte die flache Schale zurecht, in der er sein Blau angerührt hatte, dann prüfte er, ob das kleine Kristallgläschen, in dem er den zerstoßenen Aquamarin verwahrte, auch gut verschlossen war. Zu den Geheimnissen seiner Miniaturen gehörte, dass er nur die besten Materialien verwendete und jede Farbe selbst anmischte.