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»Guido!«

Der Ordensbruder seufzte, trat an das Fenster und betete stumm um Geduld, um die immer gleiche Litanei über sich ergehen zu lassen.

Die Schreibstube lag im obersten Stockwerk des Turms, der sich an das Hauptgebäude des Refugiums anlehnte. Nur der schmucklose Tempelturm war höher. An jeder Seite der Schreibstube gab es drei große Fenster. So herrschte zu jeder Tageszeit gutes Licht, wenn der Himmel sich denn erbarmte und die Sonne nicht hinter grauen Wolkenschleiern verborgen war. Es war ein guter Ort zum Arbeiten, vielleicht die schönste Kammer im ganzen Refugium. Guido war sich darüber im Klaren, wie viele seiner Ordensbrüder ihn darum beneideten, dass er hier sein Tagwerk verrichtete.

Der Miniaturenmaler stützte sich auf das Sims des Fensters auf. Der honigfarbene Stein war warm vom Licht der Abendsonne. Die Stunde der Dämmerung war angebrochen. In der Ferne erhoben sich in den tieferen Tälern schon die Schatten der Nacht, während sich der Himmel im Westen noch mit zartem, blassblauem Licht schmückte. Ihr Refugium lag auf einer Felsnase, die weit aus dem steilen Südhang des Mons Gabino ragte. Es war nicht sehr groß. Gerade einmal einunddreißig Ordensbrüder fanden hier ihr Auskommen. In vielen Jahren mühsamer Arbeit hatten sie Terrassen in den Fels geschlagen, und die Erde, in denen ihre weit über das Königreich Angnos hinaus berühmten Rebstöcke wurzelten, war Korb für Korb von Maultieren hier hinaufgeschafft worden. Gottesblut nannten die Heiden ehrfürchtig den Wein, der von den goldenen Hängen des Mons Gabino stammte. Und Guido wusste, dass sich sein Abt durchaus auch der Sünde der Eitelkeit schuldig machte, wenn es um den Wein ging.

Lucien deutete mit einer weit ausholenden Bewegung den Hang hinab. Auf den Treppen, die aus dem Fels geschlagen waren, konnte man blau gewandete Ordensbrüder mit breitkrempigen Strohhüten sehen, die dem Refugium entgegeneilten.

»Sieh dir unsere Weggefährten auf dem Pfad zu Tjured an.«

Lucien war in den pathetischen Ton verfallen, den er bei seinen Predigten so gerne anschlug. Guido war oft sehr ergriffen, wenn er dem Abt bei ihren morgendlichen Zusammenkünften im Rundtempel lauschte. Doch es war etwas ganz anderes, wenn man so einer Predigt allein zuhören musste und dabei noch derjenige war, um den sich alles drehte.

»Sieh unsere Brüder, wie sie zu uns streben, gebeugt von einem Tag voller Mühsal in Staub und Hitze. Hast du einmal ihre Hände betrachtet, Guido? Zerschunden sind sie von der harten Arbeit am Weinberg. Und wenn ihre Hände bluten, dann legen sie einen feuchten Lappen darum und machen weiter. Und welches Lob erhalten sie? Und welchen Lohn? Ein Teller mit einem einfachen Mahl und ein Becher mit verdünntem Wein, das ist ihr Gewinn nach einem solchen Tag. Und klagen sie deshalb? Nein! Sie sind zufrieden mit dem Leben, wie Tjured es ihnen geschenkt hat.«

Guido dachte daran, wie oft er schon mit hinaus auf den Weinberg gegangen war, wenn jede Hand benötigt wurde. Stets rief man ihn oder Bruder Martin, wenn es eine Arbeit zu erledigen gab, die besondere Kraft erforderte. Er dachte auch an die vielen Nachstunden, die er im Kerzenlicht an seinem Stehpult verbrachte, wenn die anderen unten im Speisesaal saßen und sich von Lucien aus dem Leben der Heiligen vorlesen ließen.

»Ich sehe dir an, wie du dich vor meinen Worten verschließt, Bruder.« Der Abt lächelte, und ein Netzwerk tiefer Falten umgab sein grünes Auge. »Nur weil du die blaue Kutte der Tjuredpriester trägst, bist du kein besserer Mensch. Und auch nicht, weil du Miniaturen malen kannst, die so wunderschön sind, dass einem das Herz aufgeht, wenn man sie betrachtet, oder die einem Schauder der Furcht über den Rücken jagen, wenn es Bildnisse der grausamen Elfen sind. Was dir fehlt, ist die Gelegenheit, Zwiesprache mit Gott zu führen. So wirst du auch wieder zur Ehrfurcht vor den einfachen Dingen des Lebens finden, und du wirst ...« Lucien hielt inne und spähte aus dem Fenster. Auf dem Weg vom Pinienwald kam eine hochgewachsene Gestalt, die von einigen Ordensbrüdern umringt wurde. Andere schwenkten ihre Strohhüte ausgelassen zum Gruß, als sie den Fremden sahen.

Lucien murrte unwillig, kniff die Lider zusammen, spähte angestrengt in Richtung der Menschentraube, die sich um den Wanderer gebildet hatte, und murrte wieder. »Mein Auge ist so trüb wie unser Fischteich, wenn ihn im Herbst der Frost geküsst hat. Was geht da vor sich? Ist er es?«

Der Fremde war noch zu weit entfernt, um sein Gesicht erkennen zu können. Er trug die blaue Kutte der Ordensbrüder. Seine Kapuze hatte er zurückgeschlagen, und man sah deutlich sein rabenschwarzes Haar. »Ja, ich glaube, es ist Bruder Jules.«

Der Abt blickte zum Himmel hinauf. »Ich danke dir für diese Prüfung, Tjured.« Er seufzte. »Mach die Läden dicht und komm runter. Wir werden heute früher speisen.«

Lucien war ein seltsamer Mann, dachte Guido. Jeder im Refugium freute sich, wenn Jules zu Gast war. Die Brüder und Schwestern hingen gebannt an seinen Lippen, wenn er von den langen Wanderungen erzählte und von den vielfältigen Wundern Gottes. Nur Lucien wurde nie von dieser Begeisterung ergriffen. Vielleicht war er eifersüchtig auf Jules. Vielleicht hatte er auch Angst, der Wanderer könne etwas über seine Vergangenheit erzählen. Es gab viele Gerüchte über Lucien. Es hieß, er sei in seiner Jugend ein Krieger gewesen.

Guido lauschte, bis die schweren Schritte des Abtes auf der Stiege verklungen waren. Dann begann er leise vor sich hin zu pfeifen. Und es war nicht etwa ein frommes Lied, sondern eine beschwingte Weise über ein Mädchen, das stets alles bei sich trug, was es brauchte, um seinen Geschäften nachzugehen.

Der Miniaturenmaler prüfte gut gelaunt, ob die Tintenfässer wohl verschlossen waren, und schnippte dann ein Stück Taubenkot von einem Fenstersims. Gedankenverloren betrachtete er die Berge, und die Erkenntnis der Größe Gottes ließ ihm die Brust eng werden. Voller Inbrunst schenkte er Tjured ein Gebet. Weil die Welt so ein wundervoller Ort war. Weil Gott ihn von Lucien erlöst hatte, dessen einziger Fehler wohl war, dass er sich gern predigen hörte. Und weil Gott ihnen Bruder Jules geschickt hatte. Kein anderer Ordensbruder war so berühmt wie Jules der Wanderer. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen. Dort, wo er Gast war, kehrte Freude ein. Er war ein lebender Heiliger und keiner dieser sauertöpfischen Prediger, die einem den kleinsten Spaß im Leben missgönnten. Nein, er war gänzlich anders. Er machte deftige Scherze, zechte gerne, war zugleich ein Quell niemals versiegender Weisheit und ein Mysterium. Vor zwei Jahren war er einmal hier gewesen und hatte sich für drei Wochen im Allerheiligsten des Refugiums eingeschlossen. Ohne Speisen, ja selbst ohne etwas zu trinken, hatte er diese Zeit verbracht. Und als er von seiner Zwiesprache mit Gott zurückkehrte, da wirkte er frisch und ausgeruht, so als habe es ihm die langen Wochen über an nichts gefehlt. Bruder Tomasin, der versucht hatte, es Bruder Jules in seiner Frömmigkeit gleichzutun, war am vierten Tag ohne Wasser zusammengebrochen. Er war krank geworden und wäre vielleicht sogar an dem bösen Fieber gestorben, das ihn befallen hatte, hätte Jules ihn nicht geheilt, als er aus seiner Klausur im Allerheiligsten zurückkehrte.

Guidos Blick wanderte durch die Schreibstube. Alle Tische waren aufgeräumt. Man fühlte sich geborgen in einer Welt, in der Ordnung herrschte. Er sah zu den fernen Berggipfeln. Selbst so spät im Frühjahr waren die weißen Kappen nicht gewichen. Manchmal, an stürmischen Tagen, sah man den Schnee wie einen Schleier um die Wipfel schweben.

Die näher gelegenen Klippen und Steilhänge strahlten im Abendlicht in einem warmen Rotgold. Wie Nester klammerten sich die Weinterrassen an die Hänge. Der Mons Gabino lag weit entfernt von den Intrigen des Königshofs. Wer hierher wollte, der musste vier Tage lang durch karges Bergland wandern. Ihr Refugium war der Welt entrückt. Es war ein fast vollkommener Ort, um mit sich, seinen Gedanken und der Kunst des Miniaturenmalens in Harmonie zu leben. Der einzige Makel an ihrer wunderbaren Gemeinschaft bestand darin, dass ihnen noch keine Kinder geboren worden waren. Obwohl auch zehn Ordensschwestern zu ihrer Gemeinschaft gehörten, blieb ihnen der Kindersegen verwehrt.