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Guido entzündete eine Öllampe und zog die schweren Holzläden vor die Fenster. Dann stieg er langsam die steile Stiege hinab. Die Kammer unter der Schreibstube war völlig dunkel. Hier lagerten die Schriften des Refugiums. Es war eine wundervolle Sammlung. Mehr als dreihundert Bücher! Die größte Bibliothek des Königreichs, wahrscheinlich sogar der Welt!, dachte der Ordensbruder stolz. Ein Schatz, kostbarer als eine Kammer voll Gold. Welch ein Gottesgeschenk war die Schrift! Sie erlaubte, noch nach Jahrhunderten von der Weisheit der Ahnen zu zehren. Und sie trennte Lüge und Wahrheit. Wie viele verschiedene Geschichten gab es schon jetzt über den Tod des heiligen Guillaume?

Bruder Jules, der einzige zuverlässige Augenzeuge des grausamen Mordes, hatte ihnen von dem Verbrechen der Elfen und dem tapferen Heldenmut Guillaumes berichtet. Doch welchen Unsinn erzählte man sich im Volk! Dort hieß es, Tjured habe drei Engel auf feurigen Schlachtrössern gesandt, um den Leib des Heiligen zu holen. Andere behaupteten, die Krieger des Königs hätten sich in den Straßen der Stadt eine regelrechte Schlacht mit den Elfen geliefert, bei der sogar eine Gruppe heidnischer Barbaren aus dem Fjordland mit gefochten hätte. Welch ein Unsinn! Dabei war es nicht einmal ein Menschenleben her, dass Guillaume ermordet worden war. Und da es inmitten der blühenden Stadt Aniscans geschehen war, hatte es hunderte Zeugen gegeben. Dennoch war es nur dem Glücksfall zu verdanken, dass Bruder Jules, der damals noch ein Kind gewesen war, die Bluttat miterlebt hatte. So gab es tatsächlich jemanden, dessen Bericht man trauen konnte.

Guido strich sanft über ein dickes, in rotes Schweinsleder gebundenes Buch, das in einem Regal dicht bei der Stiege stand. Es war die Lebensgeschichte des heiligen Guillaume. Guido hatte sie niedergeschrieben, um die Wahrheit bis in die fernste Zukunft zu tragen. Fast ein Jahr hatte er sich Zeit genommen, um den Text mit wundervollen Miniaturen zu illustrieren.

Der Ordenspriester seufzte. Auf kein anderes Werk in seinem Leben war er so stolz. Er war der Sohn eines Baumeisters und hatte das Handwerk seines Vaters erlernt. Zu seinen frühesten Erinnerungen gehörte, wie er mit seinem Vater hoch auf dem Baugerüst eines Tempelturms stand und über das Häusermeer einer Stadt hinwegblickte. Er hatte mitgeholfen, ein Dutzend Häuser Tjureds aus schwarzem Basalt zu errichten, an dem die Jahrhunderte vorübergehen konnten, ohne Spuren zu hinterlassen. Drei Tempeltürme hatte er selbst als Baumeister entworfen. Doch selbst wenn diese mächtigen Bauwerke längst zu Staub zerfallen waren, würde jedes Kind Gottes noch die wahre Lebensgeschichte des heiligen Guillaume kennen. Dieses Buch war geschaffen, um seine Geschichte bis ans Ende der Zeit zu tragen, dachte Guido stolz. Und würde er selbst in diesem Augenblick vom Tod dahingerafft, so könnte er zufrieden gehen, denn sein Werk im Dienste Gottes war verrichtet.

Guido atmete tief ein und genoss den Geruch von Staub und Leder. Den Duft der Bücherstube. Dann stieg er hinab und ging durch den gemauerten Trockenraum für Schinken und Würste, bis er die Pforte erreichte, die zum großen Speisesaal des Refugiums führte.

Er traf im selben Augenblick ein, in dem Bruder Jules, umringt von einer Schar von Ordensbrüdern und -schwestern, durch das hohe Tor am anderen Ende des Saals kam. Freudige Stimmen und Gelächter hallten von den dicken Mauern wider. Bruder Jules hatte diesen späten Frühlingstag in einen Feiertag verwandelt.

Selbst Bruder Jacques, der sich im Winter bei einem unglücklichen Sturz beide Füße gebrochen hatte und seitdem an Krücken gehen musste, stemmte sich von seinem Sitz hoch und humpelte Jules entgegen. Die vielen Monde des Sitzens hatten Jacques zu einem dicken, mürrischen Mann gemacht, dessen gallige Bemerkungen alle im Refugium fürchten gelernt hatten. Doch davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Sogar auf seinem Gesicht zeigte sich ein Lächeln.

Jules schloss Bruder Jacques in die Arme. Und dann hob er ihn hoch, als sei er ein Kind. Jules war ein stattlicher Mann, doch alle im Speisesaal hielten den Atem an, denn um Jacques zu tragen, musste man wahrlich stark wie ein Ochse sein. Behutsam setzte der Wanderer Jacques in dessen Stuhl. Dann kniete er vor ihm nieder, und seine Hände strichen über die verdrehten, geschundenen Füße, die Jacques den Dienst aufgekündigt hatten.

Jules stöhnte. Tränen rannen ihm über die Wangen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und es schien, als erleide er in diesem Augenblick die Qualen des Martyriums des heiligen Guillaume.

Guido eilte durch den Saal, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Es war totenstill geworden. Der Miniaturenmaler kannte etliche der Geschichten, die man sich über den Wanderer erzählte, doch bislang hatte er sie als das Geschwätz übereifriger Ordensbrüder und -schwestern abgetan, die Jules am liebsten schon zu Lebzeiten zu einem Heiligen gemacht hätten.

Ein trockenes Knacken war zu hören, ein Laut, bei dem man bis ins Innerste erschauderte. Jacques stöhnte. Seine Hände krallten sich in das Holz seines Sitzes. Staunend sah Guido, wie der Wanderer dessen linken Fuß richtete. Dann legten sich seine großen, von der Sonne gebräunten Hände um den rechten Fuß. Wieder erklang das schreckliche Knacken. Jacques stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus. Auch der Wanderer zitterte. Sein Antlitz war von Schweiß bedeckt. »Bitte erhebe dich, Bruder«, sagte er mit schwacher Stimme.

Jacques weinte. Unsicher stemmte er sich auf seinen Krücken hoch. Als er mit dem rechten Fuß auftrat, spiegelte sich fassungsloses Staunen in seinen Zügen.

»Gib mir die Krücken«, sagte Jules mit warmer Stimme. »Ich weiß, du wirst sie in deinem Leben nie wieder brauchen.« Er sagte das mit der Bestimmtheit eines wahren Heiligen, der um die Pläne Gottes wusste. Eines Auserwählten unter den Lebenden.

Einem Augenblick stummen Staunens folgte unbeschreiblicher Jubel. Guido drängte sich nach vorne. Auch er wollte Jules berühren, wollte dem lebenden Heiligen seine Bewunderung zeigen.

»Lasst uns beten und Tjured für dies Wunder danken!«, tönte die Stimme des Abtes. Lucien hatte die Arme gehoben und versuchte, dem Tumult Einhalt zu gebieten. Doch er musste die Brüder und Schwestern noch dreimal zur Ruhe ermahnen, bis es endlich stiller wurde.

»Ich bin kein junger Mann mehr, Jules«, sagte der Abt feierlich. »Ich habe vieles in meinem Leben gesehen. Manche hier wissen um die Taten meiner Jugend. Taten, auf die ich heute nur noch mit Scham zurückblicken kann, denn ich war einer aus der Schar der Stierköpfe des Königs Cabezan. Und ich habe meine Hände in das Blut Unschuldiger getaucht ...«

Seine Schultern bebten. Lucien rang mit den Tränen. »Ich war Zeuge eines Wunders und habe mich versündigt. Und ich danke Gott, dass ich noch einmal Zeuge seines Wirkens werden durfte.«

Einen Herzschlag lang tauschten Jules und der Abt einen Blick, den Guido nicht zu deuten wusste. Es schien ihm, als warne der Wanderer den Abt stumm, weiter zu sprechen.

»Ich danke euch für euer Lob und eure Freude, die mein Herz erwärmt«, sagte Jules sodann. »Doch vergesst nicht, ich bin nur das Gefäß, in das Gott seine Kraft fließen lässt. Lobt ihn und beschämt mich nicht. An diesem Tag seid ihr Auserwählte unter den Kindern Gottes. Euch ist es bestimmt, zu Zeugen seiner Kraft zu werden. Doch nun lasst uns gemeinsam das Brot brechen und uns an den Gaben Gottes laben. Wie leicht vergisst man im Überfluss, dass Speise und Trank ein Geschenk sind, das Tjured uns jeden Tag gewährt. Feiern wir Gott mit einem Mahl zu seinen Ehren.«

Es war der Abt selbst, der Jules zur Tafel geleitete und darauf bestand, dass dieser seinen Platz einnahm. Lucien ließ sich darauf zur Rechten des Wanderers nieder und reichte ihm das frische, dampfende Brot, das eilig aus der Küche gebracht wurde. Es herrschte eine fröhliche Stimmung an der Festtafel.