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Der sonst so griesgrämige Jacques stand auf und sang aus voller Brust ein Lied zu Ehren Gottes. Jacques hatte eine schöne, tiefe Stimme, und Guido war zu Tränen gerührt, seinen Ordensbruder so glücklich zu sehen. Das Einzige, was ihn während des Mahls betrübte, war der Anblick Mariottes. Seit sie vor zwei Jahren ins Refugium gekommen war, war er ihr verfallen. Nie hatte er eine Frau von solcher Schönheit gesehen. Ihr Haar war golden wie die Lichtbahnen, die an einem schönen Sommertag durch das Laubdach eines dichten Waldes fielen. Ihre Lippen waren rot wie Walderdbeeren, voll und sinnlich, und so verführte ihn ihr Anblick während des gemeinsamen Essens zu den verrücktesten Tagträumen. Oft schon hatte er den Becher beneidet, dem es vergönnt war, von diesen Lippen berührt zu werden. Manchmal, wenn sie das Geschirr abspülten, stand er dicht neben Mariotte und atmete ihren Duft. Sie roch wie die Pinienwälder, die sie durchstreifte, wenn sie nach Kräutern und Pilzen für die Vorratskammern des Refugiums suchte.

Letzten Winter hatte der Abt entdeckt, dass Guido sich erlaubt hatte, auf einer seiner Miniaturen der Mutter des heiligen Guillaume Mariottes Antlitz zu geben. Zur Strafe für diese Sünde hatte Guido in der Eiseskälte drei Tage barfuß gehen müssen. Doch Mariottes Bild hatte er nicht übermalen müssen...

Teigtaschen, gefüllt mit weißem Käse, gebratener Paprika, Zwiebeln und Lammfleisch wurden aufgetragen. Doch Guido hatte keinen Blick für diese Köstlichkeiten. Er betrachtete Mariotte und wünschte sich, dass sie ihn nur ein einziges Mal so ansehen würde, wie sie Bruder Jules ansah.

Jules schien ihre Bewunderung gar nicht zu bemerken. Die Augen aller waren auf ihn gerichtet und er scherzte mit seinen Nachbarn bei Tisch.

Dann stand er auf. Schlagartig wurde es still im Speisesaal.

»Liebe Schwestern, liebe Brüder. Ich danke euch von ganzem Herzen für dieses freundliche Willkommen. Mein Herz quillt über vor Freude, und ich muss euch sagen: Ich bewundere die Arbeit, die ihr im Refugium vollbracht habt, das zu einer Oase inmitten der Wüstenei der Berge erblüht ist. Und doch ist es bei all unseren Mühen Tjured, der letztlich über unser Schicksal entscheidet. Euch scheint er zu lieben, so reich, wie ihr beschenkt wurdet, und ich möchte euch bitten, mit mir gemeinsam zur Mitternacht eine Messe im Allerheiligsten auszurichten. Lasst uns unsere Freude dem Himmel entgegenrufen, meine Schwestern und Brüder. Lasst uns Gott zeigen, dass auch wir ihn lieben. Feiern wir ihm zu Ehren!«

Der Vorschlag sorgte für einige Aufregung, und selbst Lucien gab seine Zurückhaltung auf, als beratschlagt wurde, wie man Gott danken sollte.

Die Mitternachtsmesse

Verdrossen blickte Guido durch die offene Tür zum Nachthimmel auf. Der Mond war gerade hinter den Wolken hervorgekommen und tauchte das Refugium in silbernes Licht. Deutlich zeichnete sich der Schattenriss des Tempelturms gegen den hellen Himmel ab. Wieder verschwand eine kleine Gruppe seiner Ordensbrüder durch das hohe Portal, verschluckt von dem finsteren Turm.

Guido biss die Zähne zusammen, so stark war sein Wunsch zu fluchen. Es war nicht mehr lange bis Mitternacht. Missmutig beobachtete er den dünnen Faden aus Sand, der durch das Stundenglas rann. Bald würde die feierliche Messe beginnen. Wahrscheinlich waren jetzt schon alle unten im Allerheiligsten. Nur er saß hier und wartete, weil der Abt entschieden hatte, ihn für seine Eitelkeit büßen zu lassen. Es war ungerecht, bestraft zu werden, weil man seine Arbeit mit Hingabe verrichtete! Dann würde er in Zukunft eben genauso dahinstümpern wie die anderen Miniaturenmaler, dachte er zornig und wusste zugleich, dass ihn der Abt dann bestrafen würde, weil er nicht all sein Können in den Dienst des Refugiums stellte.

In jeder anderen Nacht hätte er den Tordienst einfach abgesessen. Ja, er hätte sich wahrscheinlich am Glanz der Sterne erfreut und die Stille genossen. Es gab schlimmere Strafen als eine durchwachte Nacht. Doch heute war das anders. Im Refugium herrschte eine Aufregung wie in einem Bienenstock vor dem Flug der jungen Königin. Alle bemühten sich nach Kräften, die Dankesmesse zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Ganze Bündel von Kerzen waren zum Allerheiligsten hinabgetragen worden, um die Höhle taghell zu erleuchten. Eben noch hatten die Ordensschwestern im Kräutergarten gesungen und ihre Lieder für die Messe eingeübt. Mariotte war die Vorsängerin des kleinen Frauenchors. Ihre Stimme war so schön, dass einem ganz weh ums Herz wurde, wenn man ihr lauschte. Doch die Sängerinnen waren gegangen, und Guido hätte sich nicht einsamer fühlen können, wäre er der einzige Mensch in diesem schroffen Bergland gewesen.

Irgendwo, jenseits der hohen Mauer aus Bruchstein, die das Gelände des Refugiums umfasste, war der Ruf eines Steinkauzes zu hören. Leise flüsterte der Wind in den Dachtraufen.

In der engen Kammer des Torwächters hatte sich die Wärme des Frühlingstages gehalten. Obwohl es nachts immer noch empfindlich kalt wurde, war es hier angenehm. Hin und wieder spähte Guido durch das schmale, vergitterte Fenster, das auf den steilen Pfad blickte, der hinauf zur Pforte des Refugiums führte. Natürlich war niemand zu sehen. Nur wenige Wanderer kamen in diesen Teil der Berge. Dass ein Gast zu so später Stunde an die Pforte des Refugiums kam und um Einlass bat, war mehr als unwahrscheinlich. Guido lebte nun schon seit fünf Jahren hier auf dem Mons Gabino, und er konnte sich nicht erinnern, dass in dieser langen Zeit jemals mitternächtlicher Besuch gekommen wäre.

Ein Schatten löste sich vom Hauptgebäude und eilte mit weiten Schritten dem Pförtnerhaus entgegen. Das Mondlicht ließ die Glatze des Abtes aufleuchten und schmeichelte dessen entstellten Zügen.

Guido schnaubte ärgerlich. Damit war zu rechnen gewesen, dass die hässliche Krähe noch einmal vorbeisah und kontrollierte, ob er hier seiner Pflicht nachkam.

»Ich wache an der Pforte, wie du es befahlst!«, rief er dem Abt entgegen und gab sich auf spöttische Weise wie ein Krieger, der zur Nachtwache eingeteilt war.

Lucien gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. »Das ist jetzt nicht die Zeit für Scherze, Guido. Der Besuch von Jules hat mir die Augen für meine Sünden geöffnet. Vergiss all deine Arbeiten, denn von morgen an wirst du noch einmal an der Vita des heiligen Guillaume schreiben. All die Jahre, die ich zu Tjured gefunden habe, schweige ich nun schon. Doch es wäre falsch, die Wahrheit allein auf den Erinnerungen eines Kindes zu gründen. So sehr ich Bruder Jules auch schätze, der gewiss Großes für die Kirche tut, kann ich nicht länger dulden, dass seine Geschichte um den Tod des heiligen Guillaume als einzig wahrhaftiger Bericht gilt.«

Der Abt fuhr sich mit dem Finger über die grässliche Narbe.

»Ich kenne die meisten Geschichten, die ihr über mich erzählt. Die Wahrheit ist viel schrecklicher als alles, was ihr euch ausdenken könnt. Diese Wunde hat mir ein Fjordländer mit einem Bart rot wie Flammen zugefügt, und es ist ein Wunder Gottes, dass ich diesen Axthieb überlebt habe. Noch heute sehe ich diesen Kerl in meinen Albträumen. Und so sehr es mich beschämt, muss ich gestehen, dass es dieser Heide war, der an jenem Tag für Tjured stritt und nicht ich.«

Das plötzliche Geständnis des Abtes verwunderte Guido. Und was gab es an der Geschichte von Bruder Jules falsch zu verstehen? »Was geschah an dem Tag, an dem Guillaume starb?«

Lucien blickte sich gehetzt um, als befürchte er, belauscht zu werden. »Ich gehörte zu Cabezans Stierköpfen, die nach Aniscans kamen, Guido. Wir sollten Guillaume holen, weil Gott unseren König mit einer grässlichen Krankheit gestraft hatte. Vergiss alles, was du über diesen Tag zu wissen glaubst. Ich war Zeuge der Ereignisse. Es waren nicht die Elfen, die den Heiligen töteten.« Der Abt stockte. »Ich gehöre zu den Mördern. Jede Nacht büße ich in meinen Träumen für die Bluttat. Morgen werde ich dir alles erzählen. Wir müssen die Kirche von der Lüge reinigen. Guillaume ist unser bedeutendster Heiliger. Wir müssen die Legenden um seinen Tod von Lügen reinwaschen, sonst werden schreckliche Dinge geschehen, Guido. Nichts, das auf Lügen begründet ist, kann zu etwas Gutem erwachsen. Jedes Mal, wenn ich bete, habe ich Angst, dass mich ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel erschlagen wird, weil ich die Lüge dulde. Ich bin als ein Sünder zu Tjured gekommen, und all die Jahre habe ich es nicht gewagt, meinen Ordensbrüdern zu widersprechen, wenn es um den heiligen Guillaume ging. Was hätte ich auch sagen sollen? Ihr irrt euch, Brüder! Ich weiß es besser, denn ich gehörte zu jenen, die den Heiligen ermordeten! Ich kann verstehen, wenn Jules sich als Kind eine andere Geschichte zurechtgelegt hat. Die Wahrheit ist zu schrecklich! Und jedes Mal, wenn ich Jules begegne, fürchte ich, dass er mich wieder erkennen könnte. Ich werde mich ihm heute nach der Messe offenbaren. Und morgen wirst du für mich niederschreiben, was wirklich in Aniscans geschehen ist.«