Выбрать главу

Er erreichte den Felsdurchbruch und spähte in die Höhle. Er war überrascht, wie wenig Kerzen aufgestellt waren. Sie reichten kaum aus, um die Dunkelheit zu vertreiben. Verärgert sah Guido, dass man einen weiten, roten Kreis auf den Boden gemalt hatte. Auf die kostbaren Platten aus honigfarbenem Sandstein!

Neben dem kleinen Schrein mit den Zehen Guillaumes waren schwarze Kerzen aufgestellt worden. Dunkle Bußfäden zogen von ihren Flammen der Decke entgegen. Guido war erschüttert. Man würde die Decke neu tünchen müssen, wenn diese Kerzen lange brannten. Jetzt entdeckte er noch einen zweiten Kreis, der mit weißer Kreide gezogen worden war. Alle Ordensbrüder und -schwestern standen dort. Nur Tomasin fehlte. Er hielt sich neben Jules.

Guido suchte unter den Gesichtern nach dem Antlitz von Lucien. Als er ihn entdeckte, war er überrascht. Der Abt lächelte verzückt.

Jules sang etwas in einer fremden Sprache. Guido hatte keine Ahnung, worum es ging, doch die Melodie stimmte ihn melancholisch, und eine bange Ahnung ergriff ihn, dass dieses Lied nicht für Menschen geschrieben worden war.

Die Flammen der Kerzen erzitterten, als habe ein plötzlicher Windstoß nach ihnen gegriffen. Mitten aus dem Höhlenboden wuchs ein Bogen aus goldenem Licht. Nie zuvor hatte Guido etwas so Schönes gesehen. Doch das Licht fasste eine Fläche aus Finsternis ein. Es war, als habe Bruder Jules ein Tor zu dem finsteren Abgrund jenseits der Sterne geöffnet.

Die Stimme des Wanderers veränderte sich. Tief und kehlig klang sie nun. Und sie formte keine Worte mehr. Sie erinnerte an das Knurren eines Hundes, der mit gebleckten Fängen und zitternder Rute bereit stand, jemandem an die Kehle zu gehen.

Seine Ordensbrüder und -schwestern drängten sich nun dicht um Lucien. Alle starrten sie zu Jules und Tomasin. Tomasin, der einst versucht hatte, es dem Wanderer in frommem Fasten gleichzutun, stand leicht vorgebeugt. Jules legte ihm beruhigend die Rechte auf den Rücken. Das Gesicht des Ordensbruders war schmerzverzerrt. Er riss den Mund weit auf und würgte, bis ein Faden aus klebrigem, zähem Licht von seinen Lippen troff.

Der dicke Jacques versuchte zu fliehen. Doch eine unsichtbare Wand hielt ihn wie alle anderen gefangen. Seine Fäuste trommelten gegen das Hindernis, bis ihm Blut unter den Nägeln hervorquoll. Er presste sich mit aller Kraft seines massigen Leibes gegen den Zauberwall, doch es war unmöglich zu entkommen.

Lucien streckte die Arme weit aus, als wolle er alle seine Brüder und Schwestern an sich drücken. Jetzt hämmerten auch andere gegen die unsichtbare Gefängnismauer. Doch die meisten standen einfach nur da und starrten. Der Lichtfaden, den Tomasin erbrach, wand sich wie ein Wurm und kroch der Finsternis unter dem goldenen Lichtbogen entgegen.

»Lass meine Kinder gehen!«, rief Lucien verzweifelt. »Was immer du tun musst, nimm mich!« Der Wanderer schien den Abt nicht zu hören. Oder er wollte es nicht. Noch immer knurrte er, während mit Tomasin eine unheimliche Veränderung vor sich ging. Seine Haut begann zu schrumpeln, als altere er mit jedem Herzschlag um ein ganzes Jahr.

Inmitten der Gefangenen erhob sich eine kristallklare Stimme. Mariotte! Sie sang von Tjured, dem Licht, vor dem alle Schatten vergehen mussten. Und die Verzweifelten hoben ihre Häupter. Luciens volltönender Bass schloss sich dem Lied an. Eine dritte Stimme fiel ein.

Guido konnte die Macht des Liedes spüren, das sich gegen die finstere Magie des Wanderers stellte. Der Miniaturenmaler wollte hinab, doch seine Füße verweigerten ihm den Dienst. Sie standen still, als seien sie auf der steinernen Stufe festgenagelt. Selbst seine Zunge gehorchte nicht mehr seinem Willen. Er wollte mit seinen Brüdern und Schwestern singen. Er wollte wenigstens seine Stimme mit den anderen vereinen, wenn er schon nicht bei ihnen sein konnte. Doch auch dieser Trost blieb ihm verwehrt.

Der Wurm aus Licht erreichte das Dunkel. Tomasin hatte seine Augen so verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Wie unheimliche Lichter erstrahlten sie in einem Gesicht, aus dem alles Fett geschmolzen war. Jetzt spannte sich seine Haut straff über den Schädelknochen. Sein Kopf erinnerte Guido an die Köpfe längst verstorbener Priester, die er in den steinernen Grüften und den Tempeltürmen der großen Städte gesehen hatte. Doch Tomasin lebte noch. Er versuchte mit verzweifelter Anstrengung seine Arme zu heben. Die Finger griffen nach dem Lichts das aus seinem Leib troff. Sie versuchten vergeblich, es festzuhalten.

Ein hechelnder Laut drang aus der Finsternis jenseits der Pforte aus Licht. Der Schatten wurde lebendig und gebar eine Kreatur, die sich gebückt und lauernd aus der Dunkelheit schob. Schwarz wie eine mondlose Winternacht war sie. Und sie folgte dem Licht, das der Wanderer Tomasin entrissen hatte. Gierig verschlang das Geschöpf der Finsternis den leuchtenden Wurm.

Tomasin hatte es aufgegeben, um sein Lebenslicht zu kämpfen. Seine Kutte war ihm halb von der knochigen Schulter gerutscht. Der stattliche Mann, der Guido noch beim Abendmahl gegenübergesessen hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen.

Eine zweite Kreatur schob sich aus der Finsternis. Eine dritte und vierte folgten ihr in kurzem Abstand. Sie stritten um den Lichtwurm und verschlangen ihn binnen Augenblicken. Zuletzt weinte Tomasin blutige Tränen. Jules löste seinen Bann und ließ den sterbenden Priester zu Boden sinken.

Als die Schattengestalten ihr grausiges Mahl beendet hatten, begannen sie um den großen Kreis zu schleichen, in dem die übrigen Priester gefangen waren. Wo sie versuchten, den Bann zu durchbrechen, griff weißes Licht nach ihren Schattenleibern, und sie zuckten ängstlich zurück.

Jules mieden sie. Guido konnte nicht erkennen, ob sich der Wanderer mit einem Zauber umgeben hatte oder ob etwas an ihm war, das die Kreaturen der Finsternis fürchteten.

Trotzig sangen die Brüder und Schwestern von der Allmacht Tjureds. Guido konnte sehen, dass Mariotte, wie vielen anderen auch, Tränen in den Augen standen. Verzweifelt versuchte er, sich von der Stelle zu rühren. Obwohl er noch immer wie angewurzelt stand, gehorchte ihm zumindest wieder seine Zunge. Er bettelte und fluchte! Er bot Tjured seine Seele zum Tausch gegen das Leben von Mariotte an. Er forderte von Gott, den falschen Ordensbruder in himmlischem Feuer zu verbrennen.

Jules schien mit den Kreaturen zu sprechen. Welchen Pakt schmiedete der Verräter mit der Finsternis? Der Gesang übertönte seine Worte. Nur die Bewegung seiner Lippen verriet, dass er sprach. Und dann deutete er auf den Kreis. Jules zeigte auf Lucien und dann auf Mariotte und zwei andere Ordensbrüder.

Mit einem Ruck, der ihn fast straucheln ließ, kam Guido frei. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang er die Treppe hinab. Er konnte jetzt nichts mehr sehen. Schreie mischten sich unter den Gesang. Was geschah dort unten?

Guido schlug hart mit der Schulter gegen den Felsen, als er sich auf der Treppe vertrat. Er stürzte. Die Treppenstufen schlugen ihn grün und blau. Schützend umklammerte er seinen Kopf, als ein letzter, harter Schlag ihm die Luft aus den Lungen trieb.

Benommen blinzelnd sah er sich um. Er war in der Höhle. Zwei Schritt waren es noch bis zum Bannkreis. Die Schatten waren in den weiten Bannkreis eingedrungen. Noch immer sangen die meisten seiner Brüder und Schwestern, die Häupter in verzweifeltem Stolz erhoben. Die meisten von ihnen hatten die Augen geschlossen, um nicht zu sehen, was geschah, wie die Schatten durch die Leiber ihrer Freunde drangen und ihnen das Lebenslicht entrissen.

Guido wollte zu ihnen, doch vor ihm auf dem Boden war ein dünner, roter Strich, wie mit Blut gezogen, und es war unmöglich, ihn zu überschreiten. Ungläubig glitten seine Hände über die unsichtbare Mauer, die glatt und kalt wie Glas war.

Mariotte hatte ihn entdeckt. Ihre warmen, braunen Augen blickten voller Hoffnung, als sehe sie in ihm ihre Rettung. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Der Bann, der sie gefangen hatte, schien gebrochen. Vielleicht, weil die Schatten eingedrungen waren.