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»Und?« Kalf, ihr Vater, hatte sie aufmerksam beobachtet. Er wirkte angespannt, auch wenn er sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen. Er war gegen diese Reise gewesen, und noch gestern Abend hatte er am Lagerfeuer versucht, sie ihr auszureden. Kalf mochte keine großen Siedlungen und mied sie wie ein Wolf den Schneelöwen. Er schien in ihnen eine Gefahr zu sehen. Warum das so war, hatte er Kadlin nie sagen wollen. »Wie gefällt dir, was du siehst? Man kann den Gestank der vielen Menschen selbst hier oben riechen. Das ist gegen die Gesetze der Götter, dass so viele Leute auf einem Fleck leben. Sie werden in ihrem eigenen Mist ersticken! Ich vermisse schon jetzt die klare Luft der Berge.«

Kadlin atmete tief durch. Was ihr Vater sagte, war Unsinn! Die Luft war gut. Die Jägerin betrachtete die steile Felsklippe auf der anderen Seite des Fjords. Ein Kreis aus stehenden Steinen fasste den Gipfel ein, ein verzauberter Ort, durch den die Elfen in ihre Welt gelangten. Einst war Alfadas auf Befehl des alten Königs mit einem ganzen Heer durch diesen Steinkreis gezogen.

Der schroffe Gipfel kam ihr seltsam vertraut vor. Sie war doch nie zuvor hier gewesen! Ob sie ihn vielleicht im Traum gesehen hatte? Manchmal quälten sie noch Albträume aus dem Elfenwinter. Ihre Eltern waren damals mit ihr in die Berge geflohen. An das meiste erinnerte sich Kadlin nicht wirklich. Sie kannte es aus Erzählungen, und es gab keine Bilder dazu in ihrem Gedächtnis. Doch sie wusste, dass sie einmal Trollen begegnet war. Sie waren riesig. Sie hatten nach Rauch und Winter gestunken. Und es war ein Weib bei ihnen gewesen, das sein Gesicht hinter einer Maske aus Haut versteckt hatte. Dieses Trollweib war gekommen und hatte sie in den Armen gehalten. Wenn sie davon träumte, fuhr sie selbst heute noch schreiend aus dem Schlaf hoch. Die Berührung der mit Lumpen umwickelten Trollhände war wie die Berührung des Todes gewesen. Kadlin wusste nicht, warum sie und ihre Eltern noch lebten, obwohl sie auf ihrer Flucht den Menschenfressern begegnet waren. Ihre Mutter Asla hatte immer versucht, ihr diese Geschichte auszureden. Sie sagte, das sei niemals geschehen, doch sie sagte es mit solcher Entschiedenheit, dass Kadlin ihr nicht glaubte. Warum Mutter sie belog und warum die Trolle sie nicht getötet hatten, war ein Geheimnis. Und auch Kalf mochte darüber nicht reden, obwohl Asla nun schon seit drei Jahren tot war.

Nachdenklich blickte sie zu der Stadt am Fjord. Dort war sie nie gewesen, da war sie sich ganz sicher. An einen solchen Ort müsste sie sich doch erinnern. Im Süden der Stadt lag ein großes Zeltlager. Das Heer des Königs sammelte sich. Die Krieger und die Arbeiter kamen aus dem ganzen Königreich. Und sie sah auch die Bahnen, die man für die Bogenschützen abgesteckt hatte. Es war eine besondere Ehre, zu Alfadas‘ Bogenschützen zu gehören. Nur die hundert Besten würden das Heer als Jäger und Pfadfinder begleiten. Sie würden die Mägen der hungrigen Krieger füllen, und sie waren die Augen des Heerzuges, wenn sie ins Trollgebiet vorstießen.

Kadlin schulterte ihren Bogen und ging mit weiten Schritten den Weg hinab, der dem Lauf des Fjordes folgte. Ihr Vater wirkte seltsam bedrückt. Nach Aslas Tod war er schnell gealtert. Sein Haar hatte die Farbe von Kiefernhonig verloren; es war dünn und von weißen Strähnen durchsetzt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen. Obwohl er immer noch ein starker Mann war und einen erlegten Steinbock einen halben Tag lang auf seinen breiten Schultern tragen konnte, war er nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war. Es war gut, dass ihre Schwester Silwyna ihn so nicht mehr gesehen hatte. Sie war sehr empfindsam. Kali hatte gut daran getan, sie nach Mutters Tod schnell zu verheiraten. Silwyna hatten sie nach der Elfe benannt, die sie im Winter des Krieges gerettet hatte. Sie lebte in Bronsted, einem Fischerdorf hinter den Bergen. Letzten Sommer hatte Kadlin ihre Schwester zusammen mit Vater besucht. Silwyna trug damals schon deutlich sichtbar ein Kind unter dem Herzen. Es musste längst geboren sein. Ein Winterkind ... Hoffentlich hatte Luth einen Faden für das Kleine gesponnen. Es war nicht gut, Kinder im Winter zur Welt zu bringen.

Kadlin spürte, wie die Männer auf den Feldern und die Fischer in den flachen Booten sie anstarrten. Eine junge Frau in Hosen, Jagdstiefeln und mit einem Bogen über der Schulter war ein seltener Anblick. Die Elfe Silwyna hatte oft von ihrer Welt erzählt. Dort herrschte eine Frau über alle Völker, und es war nicht ungewöhnlich, Kriegerinnen zu begegnen. Hier im Fjordland war das anders. Frauen brachten Kinder zur Welt und durften sich ein Leben lang krumm schuften, ohne dass sie dafür auch nur ein Wort des Dankes erwarten konnten. Ein Krieger aber, der auf dem Schlachtfeld in seinem Blut verreckte, konnte sicher sein, dass er lange unvergessen blieb, wenn er denn heldenhaft gekämpft hatte. Aber eine Frau, die im Kindbett verblutete, weil ihr keine Amme und keine Heilkundige mehr helfen konnte, war schnell vergessen. Über sie gab es keine Lieder, die an den langen Winterabenden in den Langhäusern gesungen wurden. Kadlin wusste wohl, dass es Silwyna gewesen war, die in ihr den Willen geweckt hatte, sich aufzulehnen. Und auch ihre Mutter Asla, die im Kettenhemd auf den Wällen von Sunnenberg gekämpft hatte. Sie würde eine starke Frau sein, die sich nicht einfach dem Willen anderer fügte! Sie wusste auch, dass sie für manches der weißen Haare auf dem Haupte ihres Vaters verantwortlich war. Bis zuletzt hatte Kalf versucht ihr auszureden, hierher zu kommen. Sie würde wahrscheinlich die einzige Jägerin sein, die den Kriegszug begleitete.

Kadlin wusste, dass Kalf nicht verstanden hatte, warum ihr der Weg nach Firnstayn so wichtig war. Sie brauchte einen Mann. Das war ihr im letzten Jahr klar geworden, als sie ihre Schwester gesehen hatte. Auch sie wollte Kinder haben. In dem einsamen Tal, in dem sie aufgewachsen war, gab es niemanden, der in Frage kam. Und die wenigen anderen Jäger, die sie bislang auf ihren Streifzügen durch die Berge getroffen hatte, waren brummelige, alte Männer. Mit ihnen konnte man einen Abend an einem gemeinsamen Feuer verbringen, aber ein Leben? Nein! Es machte Spaß, ihren Zoten zu lauschen und von ihnen Flüche zu lernen, die selbst Kalf die Schamesröte ins Gesicht trieben. Manchmal hatte Kadlin auch ein wenig geflirtet... Aber ernsthafte Absichten hatte sie dabei nie gehegt. Sie dachte an den Fischerburschen, den sie während ihres Besuches bei ihrer Schwester verführt hatte. Der war schon eher nach ihrem Geschmack gewesen ... Diese heimlichen Stunden hatten sie verzaubert. Er hatte endlos über das Meer erzählen können, wenn sie nebeneinander lagen, nachdem sie sich geliebt hatten. Aber Kadlin war auch klar geworden, dass ihr Leben daraus bestehen würde, auf ihn zu warten, wenn sie sich für ihn entschied.

Jeden Tag zu Luth zu beten, dass ihr die See nicht den Liebsten raubte. Ein Leben in einer nach Fisch stinkenden Hütte ... Das war nicht das, was sie wollte. Sie suchte einen Jäger, an dessen Seite sie durch die Wälder streifen konnte. Jemanden, der sie verstand und der ihr ihre Freiheit lassen konnte. Zum Wettkampf der Bogenschützen würden die besten Jäger des ganzen Fjordlandes kommen. Hier würde sie ihren Mann finden!

Kalfs Blick wanderte unstet. Kadlin bemerkte, wie er jene Männer anstierte, die es wagten, ihr ein Lächeln zu schenken. Es waren ohnehin wenig genug. Sie würden darüber reden müssen. So wenig, wie er ihr hatte ausreden können, hierher zu kommen, hatte sie ihn davon abhalten können, mit ihr zu gehen. Aber wenn er ihr nicht von der Seite wich, dann konnte sie es gleich aufgeben, sich hier nach einem netten Jüngling umzusehen!