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»Versteh mich nicht falsch. Ich werde dir nicht zu nahe treten.« Er deutete auf die Brüstung des Balkons. »Wagst du es, dort hinaufzusteigen?«

Leylin sah ihn forschend an. Dann kletterte sie auf die niedrige Mauer. Obwohl sie fast eine Elle breit war, streckte sie seitlich die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten.

Melvyn folgte ihr. Der Wolfself nickte in Richtung des Hofs. Er war mit hellen Steinen gepflastert und lag mehr als sieben Schritt tiefer. »Bekommst du Angst, wenn du dort hinabblickst?«

Ein trotziges Lächeln war ihre einzige Antwort.

Melvyn beobachtete sie aufmerksam. Er musste wissen, ob sie Höhenangst hatte. Davon hing ab, ob er ihr einen Traum oder einen Albtraum schenkte. Leylin sah zum Hof hinab. Sie hielt die Arme jetzt nicht mehr abgestreckt. Ganz langsam beugte sie sich vor, als wolle sie etwas dort unten genauer betrachten.

Melvyn zog sie zurück. Sie zu berühren, bereitete ihm ein seltsames, unbekanntes Gefühl. Es war ein Ziehen und zugleich eine wohlige Wärme tief in seinem Bauch.

»Der Hof ... Er hat mich angezogen«, signalisierte sie mit flatternden Händen.

Melvyn hatte ihr einen Arm um die schlanken Hüften gelegt.

»Komm«, flüsterte er ihr zu, und sie folgte ihm, ohne Fragen zu stellen.

Er brachte sie zu dem vorderen der beiden Himmelssteige. Mit dem Rücken stellte er sie gegen die aufrechte Stange. Dann schlang er ihr den breiten Ledergürtel um die Taille. Er war ihr so nah, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte. Der schwere Duft ihrer Haare machte ihn benommen. Jetzt konnte er im trügerischen Silberlicht des Mondes sogar die Farbe ihrer Augen erkennen. Sie waren von einem warmen, dunklen Braun. Keine Angst spiegelte sich in ihnen. Sie waren erloschen. Er konnte gar kein Gefühl in ihnen erkennen. Leylin ließ ihn einfach gewähren. Es war ihr gleichgültig, was mit ihr geschah.

Als Melvyn das begriff, packte ihn eine unbändige Wut auf den Mann, der den Glanz ihrer Augen hatte verlöschen lassen. Er schwor sich, dass er Shandral töten würde. Langsam, so wie eine Katze ein Maus tötete, mit der sie spielte.

»Du bist doch nur noch einen Schritt weit vom Himmel entfernt«, sprachen seine Hände. Melvyn sah den Schatten weit über ihnen. Er stieß fast senkrecht hinab und breitete erst im letzten Augenblick die Flügel aus, um seinen Sturz zu bremsen. Die äußersten Spitzen der Schwungfedern fegten über die Brüstung des Balkons, als die kräftigen Fänge nach dem Rundhaken griffen. Mit einem Ruck wurde der Himmelssteig von der Mauerkante gezogen. Ohne Mühe gewann Wolkentaucher wieder an Höhe. Er war stark genug, um einen jungen Büffel zu tragen, wenn er wollte. Die Schwarzrückenadler vom Albenhaupt waren riesige Vögel. Ihre Flügel spannten sich über mehr als zehn Schritt. Aber selbst unter diesen großen Vögeln stach Wolkentaucher noch hervor. Er war ein Fürst unter den Adlern. Nur Goldbrust übertraf ihn noch an Größe.

Melvyn stieg auf den zweiten Himmelssteig. Er verzichtete darauf, sich mit dem Gürtel festzuschnallen. Durch die Luft zu gleiten, war ihm fast so vertraut geworden, wie auf eigenen Beinen zu stehen. Nur einen Augenblick, nachdem er auf das Gerüst gestiegen war, holte ihn Eisfeder, Wolkentauchers Nestgefährtin.

Der Halbelf genoss es, langsam in kühlere Höhen zu gleiten. Die Häuserdächer schrumpften zu eckigen Schmucksteinen, eingefasst in die Silberbänder der Kanäle, die dem Mika entgegenstrebten. Der große Strom war hier fast schon eine Meile breit. Er war Feylanvieks Schutzwall, bis der Winter kam, denn die Trolle fürchteten tiefe Wasser.

Ein Stück voraus sah Melvyn Wolkentaucher fliegen. Leylins Haar flatterte wie eine schwarze Fahne im Wind. Sie klammerte sich eng an die Stange des Himmelssteigs. Hoffentlich hatte sie keine Angst!

Eisfeder schloss nun schnell zu ihrem Nestgefährten auf. Bald flogen sie Schwinge an Schwinge.

Melvyn ließ seinen Geist mit den Adlern fliegen. Mühelos tauschte er seine Gedanken mit den großen Vögeln. Es waren stumme Zwiegespräche, bei denen sie einander nicht einmal in die Augen blicken mussten. Die beiden Adler tadelten ihn für seinen Raubzug. Das ärgerte ihn, aber er war nicht in der Stimmung, mit ihnen zu streiten.

Der Halbelf drehte sein Gesicht zur Seite. Wenn die Adler hoch und schnell flogen, dann raubte ihm der Wind den Atem, sodass er sich abwenden musste. In Gedanken bat er Eisfeder um das verabredete Manöver. Eigentlich hatte er damit ganz andere Absichten gehabt, aber vielleicht würde es Leylin aus ihrer Starre aufrütteln.

Das Adlerweibchen schwenkte leicht zur Seite und gewann dann mit kräftigen Flügelschlägen an Höhe. Mit einem weiteren Schwenker brachte sie sich in eine Position schräg vor Wolkentaucher. Sie flog jetzt etwa zehn Schritt höher als ihr Nestgefährte.

Melvyn setzte sich auf die Querstange des Himmelssteigs, dann ließ er sich nach hinten kippen, sodass er nur mit der Kniebeuge eingehakt an der Stange hing. Er liebte es, wenn der Himmel ihm zu Füßen lag und die Erde unter seinem Kopf hinweg glitt. Sein Herz trommelte wild vor Freude in seiner Brust. Leylin hielt sich noch immer dicht an die Stange geklammert. Wolkentauchers Schatten fiel auf sie, sodass er nicht in den Zügen ihres Gesichts lesen konnte. Das würde sich gleich ändern! Er streckte die Beine durch, glitt von der Stange und fiel rücklings in die Tiefe.

Der Wind riss Leylins Schrei von ihren Lippen und zerrte an Melvyns Kleidern. Mit ausgestreckten Armen schoss er dem Himmelssteig der Fürstin entgegen. Er bekam die Querstange zu packen. Es gab einen Ruck, als wolle ein Riese ihm die Arme ausreißen. Melvyn lenkte einen Teil der Kraft in einen Aufwärtsschwung um und brachte sich in eine sitzende Position. Jetzt hockte er zu Leylins Füßen.

Sie sagte etwas, doch der Wind und das Geräusch der schlagenden Flügel verschlangen ihre Worte. Dann sprachen ihre Finger, undeutlich und stammelnd, denn sie wagte kaum ihren Griff zu lösen. »Warum tust du das? Ich habe mich fast zu Tode erschrocken, als ich dich stürzen sah.«

»Damit du weißt, dass du noch lebst«, antworteten seine Hände. »Vielleicht auch, um dich zu beeindrucken. Männer machen so etwas manchmal, wenn sie einer Frau gefallen wollen.«

Sie sah ihn fassungslos an. Dann griff sie plötzlich in sein Haar und presste seinen Kopf fest gegen ihre Schenkel. Ihr Schoß duftete nach Moschus und den von zartem Pelz überzogenen Knospen der Nachtweiden. Auch nahm er den Geruch Shandrals wahr. Melvyn spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Er wagte es, ihre Lippen zu küssen. Einen Herzschlag lang bog sie sich ihm entgegen, und er schmeckte den salzigen Tau der Sehnsucht.

Plötzlich bog Leylin seinen Kopf zurück. Traurig blickte sie auf ihn hinab. Er stemmte sich hoch. »Ich verzehre mich nach dir. Du darfst nicht zurückkehren.« Er hatte viel zu leise gesprochen. Der fauchende Wind verschlang seine Worte. Doch es war nicht nötig, dass Leylin ihn verstand. Sie konnte seine Gefühle in seinen Augen lesen. »Ich möchte für dich die Welt auf den Kopf stellen, meine Fürstin«, sprachen seine Hände.

Sie sah ihn lange an, bevor sie antwortete. »Das muss ich aus eigener Kraft schaffen, wenn ich leben will.« Sie öffnete den Gürtel, der sie an die Stange fesselte. Ein schelmisches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Sie legte ihm die Arme um den Nacken, als wolle sie ihn küssen. Dann schlang sie ihre Beine um seine Taille. Er spürte ihren warmen Schoß durch sein dünnes Rehlederhemd. Melvyn wollte sie küssen, doch sie bog sich zurück wie eine Schlangentänzerin. Wild wirbelte ihr Haar im Wind. Immer weiter ließ sie sich zurücksinken, bis sie schließlich mit den Händen nach seinen Knöcheln greifen konnte.

Leylin machte ihm Angst. Das war kein Spiel! Seine Hände fanden auf ihrem glatten Leib keinen Halt. Ein Fehler, und sie würde in die Tiefe stürzen!

Endlich bäumte sie sich auf. Ihre Arme schlangen sich wieder um seinen Nacken, und sie beide tauchten in den Schleier ihres Haars. Sanft küsste sie seine Stirn. Dann beugte sie sich weiter vor und flüsterte in sein Ohr. »Hast du es gesehen? Auch ich vermag die Welt auf den Kopf zu stellen. Bring mich zurück in Shandrals Palast.«