Plötzlich stieß Branbart einen spitzen Schrei aus. Er versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Bist du verrückt, alte Vettel?« Mit der Rechten rieb er sich den Schritt. Sein Lichtkörper hatte wieder einen Kopf, und er erstrahlte im pulsierenden Rot von Wut und Schmerz. Der König zog die Nase hoch und spie aus.
Skanga spürte, wie sein Auswurf auf ihrem linken Fuß landete. Der magische Kokon, den sie erschaffen hatte, war zu eng, um sich aus dem Weg zu gehen. Die Schamanin tastete nach ihrem Stab. Misstrauisch beobachtete sie Branbart.
»Er ist so schwach«, erklang es in ihrem Kopf. Diesmal sprach nur eine Stimme. »Warum herrschst du nicht über dein Volk, Skanga? Du wärst viel besser geeignet. Ach ... Glaubst du immer noch, dein lächerlicher Zauber könnte dich schützen? Wir müssen dich nicht berühren, um dich zu töten, Alte.«
»Ich kann mich aus eigener Kraft schützen«, zischte Skanga. Jedes Wort brannte ihr in ihrer geschundenen Kehle.
»Bist du sicher? Vielleicht haben wir von ihm gelassen, damit er dich jetzt noch nicht umbringt. Zumindest ich glaube, dass man mit dir reden kann, auch wenn nicht alle meine Brüder und Schwestern meiner Meinung sind. Du bist klug. Du wirst einsehen, in welch aussichtsloser Lage du bist. Entweder tötest du Branbart, dann wird seine Seele von uns getrunken werden, und euer König wird niemals mehr wiedergeboren. Oder du tust es nicht, dann sterbt ihr beide. Du wirst dich nur vor ihm schützen können, wenn du ihn umbringst. Er ist deine größte Schwäche, Skanga. Ich sagte ja schon, dass nicht alle meine Brüder und Schwestern so nachgiebig sind wie ich. Manche haben dir nicht verziehen, dass du zwei von uns ins Verderben gezwungen hast. Sie werden Branbart dazu bringen, dass er dich tötet. Dann vergeht dein Zauber, und ihr beide werdet unsre Opfer. Ich gestehe, selbst ich werde schwach, wenn ich an deine starke Seele denke. Sie ist voller Düsternis. Wir unterscheiden uns weniger, als du glaubst, Skanga. Der dunkle Samen von Matha Naht ist in dir aufgegangen. Und er ist stark.«
Alles Lüge, dachte Skanga. Sie durfte sich diesen Einflüsterungen nicht hingeben. Sie würde Branbart hier herausbringen. Wenigstens ihn.
»Du enttäuschst mich. Du weißt doch, dass ich Recht habe.« Das gelbe Licht des Lächelns durchdrang Branbarts Aura. Die anderen Stimmen flüsterten wieder auf den König ein.
»Meine Brüder und Schwestern haben beschlossen, dass du noch nicht sterben sollst. Aber frohlocke nicht. Das ist keine gute Nachricht. Sie sind überzeugt, dass sie dich dazu bringen können, uns einen Weg nach Albenmark zu öffnen. Du bist sehr mächtig, Skanga, und trägst einen Albenstein bei dir. Du kannst das Werk der Alten vernichten, wie ein Kind mit Leichtigkeit ein Spinnennetz zerreißt. Glaubst du, die Alben und alles, was sie erschaffen haben, seien vollkommen gewesen? Selbstsüchtig waren sie. Schlimmer noch als ihre Letztgeborenen, die Elfen. Und von unerträglicher Überheblichkeit! Sie ... Oh! O nein. Es tut mir leid.«
»Was?« Skanga verfluchte sich im selben Augenblick, in dem das Wort über ihre Lippen kam. Sie durfte sich nicht auf die Einflüsterungen dieses Yingiz einlassen! Ganz gleich, was er sagte, er meinte es nicht gut mit ihr.
»Meine Brüder und Schwestern versuchen deinen König davon zu überzeugen, dass er dich packen soll, um dir einen Daumen aus dem Gelenk zu drehen. Und dann soll er ihn auch noch abreißen. Was glaubst du, ist Branbart stark genug, einen Daumen abzureißen? Es tut mir leid. Ich versichere dir, Skanga, wir sind nicht alle so, auch wenn wir Seelenfresser sind und einen üblen Ruf haben.«
Skangas Stab wirbelte herum. Krachend traf er Branbarts Schläfe. Der König sackte in sich zusammen.
»Ausgezeichnet! Ich bin beeindruckt. Wirklich, Skanga. Gedanke und Handeln sind eins. Das trifft man selten bei Weibsbildern.«
Die Stimme in ihrem Kopf lachte.
»Nun ja, um ehrlich zu sein, bei Männern auch. Die meisten überlegen zumindest kurz, bevor sie zur Tat schreiten. Du bist etwas Besonderes.« Verzweifelt suchte Skanga nach einem Albenpfad. Das Nichts war von hunderten dieser Wege durchzogen. Es musste doch einen in der Nähe geben! »Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, meine Liebe. Dieser Ort hier ist größer, als du dir vorstellen kannst. Denk doch einmal nach. Er umschließt mehrere Welten. Es können Tage vergehen, bevor du einen Albenpfad findest. Willst du Branbart bis dahin jedes Mal niederschlagen, wenn er das Bewusstsein wiedererlangt? Ich werde mich nicht in deine Entscheidungen einmischen ... Aber hast du keine Sorge, dass du auch noch das letzte bisschen Verstand aus seinem unförmigen Schädel herausprügeln könntest? Was wäre damit gewonnen? Er ist doch schon jetzt als König, vorsichtig gesagt, ein Problem.«
Skanga verstärkte ihre Anstrengungen, einen Albenpfad zu finden. Mit all ihren Sinnen griff sie hinaus in die Dunkelheit. Wenn der Yingiz sich so sehr bemühte, ihr jede Hoffnung zu nehmen, dann war die Rettung vielleicht schon ganz nah.
»Also wirklich, Skanga. Glaubst du, ich bin so leicht zu durchschauen? Du beleidigst mich. Ich meine es wirklich gut mit dir. Ich bin nicht wie meine Brüder und Schwestern. Leider sind die meisten von ihnen ganz von ihren Trieben beherrscht. Sie weiden sich an deinem Leib. Und sie gieren nach deiner Seele. Im Augenblick streiten sie gerade darüber, ob sie Branbart nicht doch besser befehlen sollen, dich zu würgen. Einigen haben deine besonderen Ängste gefallen. Du weißt ja selbst am besten, woran es dich erinnert, wenn du gewürgt wirst. Deine Meisterin, Matha Naht, war schon ein übles Kraut. Also, ich habe mich nie mit Bäumen eingelassen. Ihre Seelen ... Gut, die sind wirklich außerordentlich schmackhaft. Aber mit ihnen reden... Ich sehe in deinen Gedanken, was für eine Lehrerin sie war. Ich hätte sie auch umgebracht. Bist du übrigens sicher, dass sie wirklich tot ist? Wie heißt es noch gleich? Bäume und Minotauren haben dreizehn Leben. Du warst nie wieder dort. Der Blitzschlag und das Feuer, war das wirklich genug? Hast du sie bis in den letzten Wurzelstrunk vernichtet?«
Beim Gedanken an Matha Nahts Wurzeln überlief die Schamanin ein kaltes Schaudern. Nicht daran denken! Das wollte dieser verfluchte Yingiz doch nur. Sie konnte fühlen, wie er in ihren Erinnerungen schwelgte. Er durchlebte ihr Leben. Suchte nach den Augenblicken des Glücks und den einsamen Stunden, in denen sie am Abgrund gestanden hatte.
»Komm, gib uns Branbart, und wir lassen dich ziehen.« Trotzig sperrte sich Skanga gegen die Einflüsterungen. Sie hatte vor langer Zeit der Seele des Königs die Treue geschworen! In ihrem Leben hatte sie oft ihre Macht missbraucht.
Sie hatte Schamaninnen ermordet, die vielleicht eines Tages mächtiger geworden wären als sie. Sie hatte ihre Magie genutzt, um stattliche Krieger zu blenden und auf ihr Lager zu zerren. Sie hatte aus Launen heraus Leben und Tod gewährt. Das Einzige, an dem sie immer unverbrüchlich festgehalten hatte, war ihre Treue zur Seele des Königs. Ihn nun zu verraten, würde sie zerstören. Die flüsternde Stimme wusste das.
»Du hast also beschlossen, mit ihm zusammen unterzugehen? Ist das edel oder dumm? Du bist mir doch fremder, als ich dachte, Skanga. Sieh nur! Er blinzelt schon. Er wird nicht zögern, sich gegen dich zu wenden. Siehst du den Hass in seinen Augen?«
Die Schamanin griff nach ihrem Stab. Branbart war schneller. Offenbar war er schon länger wieder zu sich gekommen und hatte sie durch halb zugekniffene Lider beobachtet.
»Hör nicht auf die Stimmen. Ganz gleich, was sie sagen, sie haben nur dein Verderben im Sinn!«, zischte sie.
Mühelos drehte der König ihr den schweren Stab aus der Hand. Dann richtete er sich auf.
Von Weisen und von der Leidenschaft