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Er wollte ihr widersprechen. Wollte sie nicht ziehen lassen, doch Leylin küsste ihn noch einmal. »Wenn ich ihm fortlaufe, wird er sich an meiner Familie rächen. Du hast mich in den Himmel getragen und mir ein Geschenk gemacht, das mir niemand je wird nehmen können. Nun mach mir ein zweites Geschenk und bring mich zurück. Ganz gleich, was mit mir geschehen mag, mein Herz hat seinen Platz gefunden. Es wird bei dir sein, wohin dich deine Adler auch tragen.«

Melvyn hielt sie eng umschlungen. Dann gab er Wolkentaucher den Befehl umzukehren. Viel zu schnell schimmerten die Kanäle Feylanvieks wieder unter ihren Füßen. Diesmal sank der Adler in weiten Kreisen dem Palast entgegen. Wolkentaucher setzte die Himmelsstiege wieder auf der Brüstung ab. Leichtfüßig sprang Leylin auf den Balkon hinab. »Du bist anders als die Geschichten, die man sich über dich erzählt«, sagten ihre Hände. Sie legte die Rechte auf ihr Herz und verneigte sich. »Gib auf dich Acht, mein Räuberhauptmann. Doch versuche nicht wiederzukommen. Es wäre unser beider Unglück. Du besitzt mehr von mir, als Shandral je gehören wird, auch wenn mein Leib nun zu ihm zurückkehrt. Ich weiß, was du dir holen wolltest. Du hast etwas anderes bekommen. Hüte es wohl, denn es lebt nur bei dir.«

Sie wandte sich um und war im nächsten Augenblick zwischen den safranfarbenen Schleiern der Tür verschwunden. Ohne dass er ihm den Befehl gegeben hätte, stieß Wolkentaucher hinab und packte den Himmelssteig. Er trug ihn dem Mond entgegen, doch Melvyn hatte nur Augen für die Safranschleier. Sie schrumpften und waren bald nur noch ein winziger heller Fleck, wie das Licht einer fernen Laterne. Dann verschwanden sie ganz, und im gleichen Augenblick kam die Angst. Was würde geschehen, wenn Shandral aus seinem Schlaf erwacht war und Leylin nicht auf dem Balkon gefunden hatte?

Er hätte sie nicht zurückgehen lassen dürfen. Es war ihr Wille gewesen, aber er würde wiederkehren. Leylin war mehr als nur ein Abenteuer. Er hatte sich verliebt.

Das blaue Kleid

Kadlin stieg über eine Pfütze hinweg, die in allen Regenbogenfarben schillerte. Kalf hatte Recht gehabt. Es stank zum Erbarmen in der Stadt. Durch die Mitte der Gasse, der sie folgte, zog sich eine offene Jaucherinne. So war es hier überall. Die ganze Stadt schüttete ihren Dreck in die Abwasserrinnen, die zu wenig Gefälle hatten, um vernünftig abzufließen. Entlang der Häuser waren Wege aus Holzknüppeln gelegt. Hier und da führte ein dickes Brett über die Jaucherinnen. Und überall wurde gebaut. Fünfzehn Jahre war es her, dass die Trolle Firnstayn niedergebrannt hatten, doch die Bauarbeiten wollten noch immer kein Ende nehmen. Im Norden war die Stadt über ihren schützenden Wall hinausgewuchert. Innerhalb der Palisade hatte Kadlin, abgesehen vom Marktplatz, kein einziges unbebautes Stück Land gesehen. Immer mehr Menschen zog es hierher, dabei lag die gefährliche Grenze zu den Trollen nicht einmal hundert Meilen entfernt.

Und überall waren Krieger. Jeder zweite Mann, den man auf der Straße sah, trug Waffen. Unablässig hallte das rhythmische Hämmern der Schmiede über dem Lärm der Händler, die lauthals ihre Waren anpriesen.

Es war unmöglich gewesen, in der Stadt eine Herberge zu finden. Hunderte waren gekommen, um den Kampfspielen beizuwohnen, die abgehalten werden sollten, bevor das Heer nach Norden zur Trollgrenze zog. Schon am späten Nachmittag würden die ersten Vorauswahlen zum Wettschießen der Bogenschützen abgehalten. Kadlin betrachtete ihre bandagierte Linke und fluchte. Es war dämlich gewesen, so fest zuzuschlagen. Kalf hatte ihr Moos auf die Schürfwunden an ihren Knöcheln gelegt und einen strammen Verband um die Hand gewickelt. Wenn sie versuchte, die Finger zu krümmen, peinigte sie stechender Schmerz. Sie würde kaum den Bogen halten, geschweige denn vernünftig schießen können. Vermutlich würde sie schon in der Vorausscheidung scheitern! Und alles nur, weil sie diesem eingebildeten Mistkerl über den Weg gelaufen war. Wenn sie nur an ihn dachte, bekam sie nicht übel Lust, ihm auch noch einen rechten Haken zu verpassen.

Sie hatte sich schon einige der Stoffläden angesehen, war aber ein wenig verzagt bei der Auswahl. Es gab einfach zu viel zu kaufen. Mutter hätte sicher ihre helle Freude daran gehabt, sich die Läden anzusehen. Wenn nur das Fieber nicht gewesen wäre! Es hatte mit einem Husten angefangen, und lange hatte sie darüber nur gespottet. Und als das erste Blut mit dem Husten gekommen war, da hatte sie es vor ihnen verborgen. Asla hatte Kadlin das in den langen Stunden gebeichtet, die das Mädchen an ihrem Bett gewacht hatte.

Kadlin erinnerte sich daran, als sei es erst gestern gewesen. Kalf war Tag und Nacht unterwegs gewesen. Ständig war frisches Fleisch im Haus gewesen, und die beiden Schwestern hatten kräftige Brühe daraus gekocht, doch all das hatte nichts mehr genutzt. Ein Fieber hatte sich tief in die Knochen ihrer Mutter gesenkt, und der Bluthusten hatte sie selbst in ihrer letzten Stunde noch geschüttelt. Ihre Mutter war sehr stark gewesen. Einen ganzen Winter lang hatte sie gegen die Krankheit angekämpft. Immer wieder hatte sie gesagt, dass sie nur aushalten müsse, bis die ersten Blumen durch den weichenden Schnee brachen. Zuletzt hatte sie von fast nichts anderem mehr gesprochen. Immer wieder hatte sie Kadlin hinausgeschickt, um nach Schneesternen zu suchen. Die kleinen Blumen mit ihren sternförmigen Blüten konnten selbst im Schnee gedeihen. Aber in jenem Jahr war der Frühling sehr spät gekommen. Wie zum Hohn waren die ersten Schneesterne keine fünf Schritt vom Grab ihrer Mutter erblüht, drei Tage, nachdem sie Asla begraben hatten. Im Sommer des Unglücksjahres hatte Silwyna ihren Fischer geheiratet. Seitdem war es einsam geworden in dem Tal mit seinem großen See ...

Wütend blickte Kadlin auf ihre bandagierte Hand. Sie musste es schaffen, bei den Jägern des Königs aufgenommen zu werden, um sich dort in Ruhe nach einem Mann umsehen zu können. Und wenn sie den verdammten Bogen an ihrer Hand festbinden musste, um damit zu schießen!

In ihre düsteren Gedanken versunken, war sie bis ans Ende der Gasse gelangt. Hier gab es einen Laden, der ganze Bündel von Kleidern in offenen Truhen anbot. Wahrscheinlich Plündergut, dachte Kadlin. Sie sah sich einige der Kleidungsstücke an. An einem dottergelben Hemd fand sie eingetrocknete Blutflecken. Wem es wohl einst gehört haben mochte? Ein Kleid zu kaufen, war nicht üblich. Keine Frau, die etwas auf sich hielt, tat das. Wie groß waren auch die Aussichten, etwas zu finden, das genau passte? Besser war es, Stoff zu kaufen und selbst zu nähen. Doch darin war Kadlin nie sonderlich geschickt gewesen. Schmunzelnd erinnerte sie sich, wie ihre kleine Schwester einmal zwei Monde lang an einer Schmuckborte genäht hatte. Für solchen Unsinn hatte sie selbst keine Geduld.

Nachdenklich betrachtete sie ein herbstrotes Kleid. Wahrscheinlich würde sich die Farbe mit ihrem roten Haar beißen.

»Kann ich dir helfen?« Ein zierlich gebauter blonder Mann war aus den dunklen Tiefen des Ladens aufgetaucht.

»Ich suche ein Kleid, wie man es auf Festen tragen würde.«

Der Händler strich sich mit der Hand über das Kinn und musterte sie wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. »Was darf es denn kosten?«, fragte er endlich vorsichtig.

Kadlin kannte sich mit Münzen nicht gut aus. Sie hatte bisher alles, was sie brauchte, gegen Felle eingetauscht. Jetzt wäre sie froh, wenn Kalf bei ihr wäre. Er kannte sich in solchen Dingen aus. Auf der anderen Seite war es zu peinlich, ihren Vater in irgendwelche Stoffläden zu schleppen. Außerdem war es ganz gut, wenn er nicht immer in der Nähe war. So könnte sie sich ein wenig nach Männern umsehen.

Es gab eine ganz andere Möglichkeit, dieses lästige Problem aus der Welt zu schaffen. »Björn Lambison, der Sohn des Herzogs, steht in meiner Schuld. Er wird mir das Kleid schenken. Die Kosten sind seine Sache.«

Ein strahlendes Lächeln erhellte die Züge des Händlers. »Du solltest nicht hier suchen, meine Schöne. Das ist billige Ware für Waschweiber. Hier gibt es nichts, was deiner Schönheit angemessen wäre. In meinem Laden habe ich etwas, das passender ist. Du solltest Grün tragen. Oder Blau. Ja, Blau würde dir gut stehen.«