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Die Brüder und Schwestern aus dem Refugium des heiligen Lucien waren mit allen Einzelheiten seines Planes vertraut. Nur dass er nicht wirklich für Tjured kämpfte, wenn er auf die Vernichtung der Albenkinder sann, wussten sie nicht. Wenn sein Zauber diesmal glückte, dann besaß er die vollkommene Waffe!

»Sind eure Seelen rein, und habt ihr mit allen irdischen Wünschen abgeschlossen?«, fragte Jules feierlich.

»Wir sind bereit, Tjured das höchste Opfer zu bringen«, antworteten die Brüder und Schwestern wie mit einer Stimme.

»So seid nun Zeugen eines Wunders. Blickt in das Licht Gottes. Gebt euch hin! Wandert durch das finstre Tal und seid seine Diener, selbst wenn ihr die Fesseln des Fleisches abgestreift habt. Und höret: Wenn seine Feinde besiegt sind, so werdet ihr die Ersten sein, die in das neue Reich des Lichtes ziehen. Ihr werdet Seite an Seite mit den Heiligen und Märtyrern die ewige Glückseligkeit erleben.«

»Sechzig Füße sind wir, doch wir gehen einen Weg. Sechzig Hände sind wir, doch wir verrichten ein Werk. Dreißig Häupter tragen wir, doch uns vereint ein Gedanke, das Leben für Tjured«, so antworteten sie wie aus einem Munde.

Ein Gedanke des Wanderers entzündete die schwarzen Kerzen im Gras, und Jules‘ Geist griff nach den Albenpfaden, die sich vor dem moosbewachsenen Felsen kreuzten. Es waren nur sechs. Kein großer Albenstern. Doch es musste genügen. Lange hatte er an sich gezweifelt, weil ihm nicht gelingen wollte, was eine ungewaschene Trollschamanin vollbringen konnte: die Yingiz mit einer lebenden Kreatur zu verschmelzen, um einen Shi-Handan zu erschaffen. Es waren Jahre dumpfen Brütens verstrichen, bis ihm aufging, dass es vielleicht nicht an ihm, sondern an den Ordensbrüdern gelegen hatte. Er wusste keine Einzelheiten, aber er vermutete, dass Skanga für ihren Zauber Elfen benutzt hatte — Geschöpfe, deren Lebenslicht über Jahrtausende brennen konnte. Kein Mensch konnte sich damit messen. Also hatte er versucht, Ordensgemeinschaften zu fördern, in denen die Brüder und Schwestern in völliger Harmonie miteinander lebten. Sie sollten regelrecht verschmelzen, so wie die Stimmen eines Chors zu einer einzigen wurden. Er hatte ihnen erklärt, was mit ihnen geschehen würde, damit sie für die Schrecken der letzten Augenblicke ihres fleischlichen Lebens gewappnet waren. Sie waren Fanatiker. Seit einem Jahr sehnten sie diesen Tag herbei, um den Krieg nach Albenmark zu bringen und den Tod der Märtyrer aus Mons Gabino und den anderen Refugien zu rächen. Sie gingen völlig in ihrem heiligen Eifer auf.

Jules hörte, wie Michel neben ihm erschrocken nach Luft japste, als sich das Tor aus goldenem Licht erhob. Der Wanderer legte dem Söldnerhauptmann einen Arm um die Schultern.

»Du hast die Ehre, zum Zeugen eines Wunders zu werden. Nicht alles, wovon die Ordensbrüder erzählen, ist frommes Geschwätz«, fügte er etwas leiser hinzu. »Bist du bereit, deinen Teil zu diesem Wunder beizutragen und zum Soldaten Gottes zu werden?«

»Ja!«, stieß er aus rauer Kehle hervor. Seine blaugrauen Augen waren vorgequollen, er zitterte. Ob ihm bewusst wurde, dass es ein Fehler gewesen war, die Macht Tjureds herauszufordern, als er seine Diener niedermetzelte? Glaubte er nun die Macht Gottes zu spüren?

Jules griff nach dem Lebenslicht des Kriegers. Der Schlächter stöhnte auf. Ein Faden klebrigen Lichts troff wie Speichel von seinen Lippen. Der Wanderer spürte, wie das Fleisch des Kriegers unter seinem festen Griff schmolz. Ungerührt sahen die Ordensschwestern und Brüder zu, wie Michel sein Lebenslicht gab, um die Yingiz zu rufen. Sie alle wussten, wer Michel war. Und sie hießen es gut, dass er sein Leben gab, um auf diese Weise den Tod so vieler Diener Tjureds zu sühnen.

Der Wurm aus Licht wand sich dem Dunkel im goldenen Torbogen entgegen. Bald würde er wissen, ob er ein Schwert aus Stahl oder zerbrechlichem Kristall erschaffen hatte, dachte Jules beklommen. Waren die Brüder und Schwestern stark genug, den Yingiz zu widerstehen? Konnte er endlich die Schnüre ziehen, die er ausgelegt hatte, oder würde der Krieg um Albenmark völlig seiner Kontrolle entgleiten?

Das Mädchen im blauen Kleid

Nur fünf Bogenschützen waren noch übrig geblieben. Zwei Tage dauerten die Wettbewerbe nun an. Mehr als dreihundert waren gekommen, um den ehrenvollen Titel eines Jägers des Königs zu erringen. Einen Titel, um den man jedes Jahr aufs Neue kämpfen musste, denn nur wer sich stets bewährte, durfte bei den Jägern bleiben. Siebenundzwanzig Veteranen der letzten Jahre waren ausgeschieden. Es war ein tückisches Wetter für einen Schützenwettkampf. Immer wieder stürmten kalte Böen vom Fjord die Wiese hinauf. Sie trieben die Pfeile aus ihrer Bahn und betrogen so manchen Schützen um seine Ringe. Doch ein guter Jäger musste so etwas berücksichtigen! Auf der Pirsch durfte er auch nicht hoffen, noch Gelegenheit zu einem zweiten Schuss zu haben, wenn sein erster Pfeil das Ziel nicht traf.

Alfadas ertappte sich dabei, wie er dem Mädchen den Sieg wünschte. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte es ihm einen schmerzhaften Stich in sein Herz versetzt. Das blaue Kleid und das flammend rote Haar ... Sie war wie seine Kadlin. Sein kleiner Rotschopf, dessen bleiche Knochen in irgendeinem der Täler am Rentiersteig lagen. Unbegraben wie so viele andere, die zu Opfern der Trolle geworden waren. Seine Kleine hätte jetzt das gleiche Alter wie die Bogenschützin dort unten. Bis er die Jägerin vorgestern zum ersten Mal gesehen hatte, war Kadlin in seinen Gedanken immer nur das kleine Mädchen gewesen, das er verloren hatte. Das Mädchen im blauen Kleid, das den riesigen schwarzen Hund zu seinen Füßen gezähmt hatte, das mit torkelndem Schritt durch den Kies am Ufer des Fjords gelaufen und seinen Namen noch nicht hatte aussprechen können. Ihr blaues Kinderkleid war alles, was ihm von ihr noch geblieben war. Er hatte es im zerstörten Firnstayn gefunden, an jenem Tag, an dem er für immer seinen Seelenfrieden verloren hatte. Sein Heerzug nach Albenmark war in einem Sturm aus Feuer und Blut auf das Fjordland zurückgefallen. Die Skalden machten ihn zum Helden und zum Retter, weil er die Trolle in den Norden zurückgetrieben hatte. Aber er wusste es besser. In Wahrheit war er der Schlächter seines Volkes. Wäre er doch wie sein Vater Mandred im Netz der Albenpfade verschollen! Für sein Volk wäre das besser gewesen!

Die Pfeile schnellten von den Sehnen. Hundert Schritt standen die großen Scheiben aus geflochtenem Stroh entfernt. Fünf Ringe umschlossen das Auge aus roter Farbe. Wer das Auge traf, das kleiner als eine Hand war, der machte zehn Ringe. Schon der Ring, der das Auge umschloss, zählte nur noch fünf.

»Wenn er es versaut, dann werde ich ihm bis zum Hals den Arsch aufreißen«, murmelte Lambi. Der Herzog spielte nervös mit seinem silbernen Trinkbecher. Sein Sohn Björn hatte es unter die letzten Fünf geschafft. Fünf, die von dreihundert geblieben waren! Eigentlich hatte Lambi schon jetzt allen Grund, stolz auf den Jungen zu sein. Aber für den Herzog war sein einziger Sohn eine große Enttäuschung. Als Schwert- und Axtkämpfer hatte Björn sich niemals bewährt. Im Kampf gegen einen Troll würde er keine zehn Atemzüge lang überleben. Björn war nicht so grobschlächtig wie sein Vater. Er unterhielt sich gern mit Vehleif, dem Skalden, und Gundaher, dem Baumeister und Chronisten. Lambi brachte er damit zur Weißglut. Dass dessen Sohn zu den besten Bogenschützen des Königreichs gehörte, zählte für den Herzog kaum. Für ihn war nur der ein Krieger, der seinem Feind von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat und sich mit dessen Blut besudelte. Bogenschützen hielt Lambi für Feiglinge.

Der dumpfe Aufschlag, mit dem sich die Pfeile in die Strohscheiben bohrten, war bis zum Ehrenplatz des Königs zu hören. Eine der Scheiben stürzte unter der Wucht des Treffers um. Das war Eiriks Geschoss. Er war der Jagdmeister des Königs. Trotz seiner Jugend hatte er sich bewährt. Eirik war ehrgeizig und aufbrausend. Ulric konnte den Jagdmeister nicht leiden. Seit ihren Kindertagen waren sie Feinde. Aber auf solche Empfindlichkeiten konnte er als Herrscher und Heerführer keine Rücksicht nehmen. Eirik war ein guter Anführer, den die Männer respektierten.