Müde blinzelnd blickte Ollowain von der hohen Terrasse auf den Garten hinab. Die Königin hatte ihn wecken lassen und hierher gebeten. Es war eine warme Nacht. Der Frühling hatte in den drei Tagen, die seit den Ereignissen im Thronsaal vergangen waren, an Kraft gewonnen.
Vor ihm reckten zwei Maulbeerbäume ihre dunklen Äste dem Mond entgegen und schienen einander in der vergänglichen Pracht ihres Frühlingsschmucks übertreffen zu wollen.
Ollowain stützte sich auf das steinerne Geländer und schloss die Augen. Er jagte dem Traum nach, aus dem man ihn gerissen hatte. Lyndwyn war bei ihm gewesen. Sie waren auf einem Weg gegangen, dessen Kies unter einem Teppich aus weißen Kirschblütenblättern verborgen blieb. Sie hatten sich bei den Händen gehalten, und Lyndwyn hatte ihn mit ihren Sticheleien zum Lachen gebracht.
In der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, hatte es niemals einen solchen Spaziergang gegeben. Aber sie war oft in seinen Träumen bei ihm, um ihm zu schenken, was ihnen das Leben verwehrt hatte. Er klammerte sich an diese Träume. Er wollte nicht daraus aufwachen.
»Was habt ihr im Thronsaal getan?«, ertönte eine schnarrende Stimme.
Unwillig öffnete Ollowain die Augen. Neben ihm stand eine kleine, fuchsköpfige Gestalt in einem mohnblütenfarbenen Kleid. Sie reichte ihm kaum bis über die Knie. Aus schwarzen, funkelnden Augen blickte sie wütend zu ihm auf. Eine Lutin.
»Bitte lass mich allein, ich bin in Trauer«, sagte er leise. »Und ich bin wütend«, entgegnete sie bissig.
»Es gibt nur einen Weg für dich, mich wieder loszuwerden. Beantworte meine Frage!« Der Schwertmeister seufzte. Die Lutin galten als das launischste unter den Koboldvölkern. Er hatte nie begriffen, warum Emerelle einigen von ihnen gestattete, sich ihrem Hofstaat anzuschließen. Mit ihnen gab es nichts als Ärger. Dass dieser Quälgeist hier erschienen war, war sicherlich mehr als nur ein unglücklicher Zufall. Die Königin musste dieses Treffen arrangiert haben. Aber was bezweckte sie damit?
»Die Trolle haben ein Tor im Albenstern des Thronsaals geöffnet. Emerelle hat sie vertrieben. Das ist geschehen«, erklärte Ollowain knapp.
»Sei einmal still und lausche!« Die Lutin stützte die Hände in die Hüften und sah ihn an, als wolle sie ihn zum Duell fordern.
»Was hörst du?«
»Das ist jetzt wirklich ...«
»Was hörst du?«, beharrte sie.
»Den Wind in den Bäumen.«
»Und sonst?«
Ollowain zuckte mit den Achseln. Er ahnte, worauf sie hinauswollte, aber er mochte nicht über die Stille sprechen.
»Nichts.«
Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete sie zum Park hinab. »Dort müssten Grillen ihr Frühlingslied singen. Fledermäuse sollten um die Türme der Burg jagen und Glühwürmchen in den Ästen der Obstbäume tanzen. Aber dort ist nichts. Ich habe hunderte von toten Grillen im Gras gefunden. Die kleinen Vögel sind geflohen. Gestern Nacht war ich bei einer Auenfee. Ich war dabei, als sie ihr Kind tot geboren hat. Die ganze Nacht habe ich auf sie eingeredet. Als ich heute Morgen kurz hinausgegangen bin, ist sie zum See hinabgeflogen und hat sich ertränkt.«
Die Stimme der Lutin überschlug sich vor Wut. »Du wirst mir sagen, welchen Preis Emerelle gezahlt hat, um die Trolle zu vertreiben, Schwertmeister. Was hat sie ins Herzland gelassen?«
Sie hob drohend einen Zeigefinger. »Und versuch es nicht noch einmal mit Ausflüchten, sonst verwandele ich dich in eine Made und zerquetsche dich unter meinem Fuß!«
»Ich ...«, begann Ollowain.
»Es ist wohl eher an mir zu antworten.« Emerelle trat aus den Schatten der Terrasse.
Ollowain hatte sie nicht kommen hören, und auch die Lutin wirkte überrascht, die Herrin Albenmarks so plötzlich vor sich stehen zu sehen. Allerdings machte das kleine Koboldweib keinerlei Anstalten, sich um die gebührende Höflichkeit zu bemühen. »Umso besser, du kannst mir sicher aufschlussreicher Bericht geben als dieser stumpfsinnige Schwertfuchtler. Was hast du getan, Emerelle?«
Ollowain beugte sich hinab, um die Lutin zu packen und fortzubringen. Niemand sprach ungestraft derart respektlos mit der Königin! Der Menschentölpel Mandred hatte es einst nicht besser gewusst, aber Ganda war sich darüber im Klaren, dass es eine Beleidigung war, wenn sie die Herrin Albenmarks ansprach, als rede sie mit ihresgleichen und nicht mit einer Königin.
»Wage es nicht, Schwertzappler!« Die Lutin schnippte mit den Fingern, und ein zierlicher, in Spiralen gedrehter Eschenstab erschien in ihrer Rechten.
»Lass es gut ein, Ollowain. Ganda hat das Recht, mir ihre Fragen zu stellen. Wenigstens sie. Du hast versucht, die Schatten zu vertreiben, nicht wahr?«
Das kleine Koboldweib ließ den Zauberstab sinken. »Ja. Die ganze Nacht habe ich an Mondblütes Lager gekämpft. Sie hat sich das Kind so sehr gewünscht. Du musst wissen, ein Eichelhäher hat ihren Liebsten in den letzten Wintertagen geschnappt. Sie wollte ...« Der Lutin standen Tränen in den Augen. »Ich beherrsche viele Bannzauber, aber diese Kreatur konnte ich nicht vertreiben. Es war, als wollte ich einen Schatten mit Händen greifen. Die ganze Nacht war es da. Mondblüte hat sich zu Tode geängstigt. Sie behauptete, der Schatten spreche zu ihr. Ich habe nichts gehört. Aber sie hat sich das bestimmt nicht eingebildet. Ich glaube, es war ihre Angst, die das Kind getötet hat. Und kalt war es. So kalt, als sei der Winter zurückgekehrt. Was hast du getan, Emerelle? Warum mussten Mondblüte und ihr Kind sterben? Warum schweigen die Vögel in den Ästen und die Grillen im hohen Gras? Wen hast du gerufen, um das Herzland gegen die Trolle zu schützen?«
Emerelle atmete schwer aus. »Weisheit sollte die Herrin all meiner Taten sein. Nicht Zorn und auch nicht Liebe. Deshalb erscheine ich vielen bei Hofe so kaltherzig, ja sogar ungerecht. Gerechtigkeit kann Schwäche sein, Ganda. Das war eine der bittersten Lektionen, die ich als Königin lernen musste. Es ist ungerecht, was Mondblüte widerfahren ist, und ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte es ungeschehen machen. Ich habe bis zuletzt nicht glauben wollen, dass die Trolle noch einmal die Albenpfade für ihren Kriegszug missbrauchen würden. In meinem Zorn und meiner Verzweiflung habe ich mich dazu hinreißen lassen, den Pfad zu zerstören. Nur so konnte ich das Herzland noch retten.«
»Du hast es nicht gerettet«, entgegnete Ganda zornig. »Mir wäre es lieber, die Trolle wären hier. Mit denen wüsste ich umzugehen.« Sie strich sich über die kleine Blesse auf ihrer Fuchsstirn. »Du hast einen Zauber der Alben vernichtet«, sagte die Koboldin sehr leise. »Ihre Pfade sind die Sehnen, die die Welten miteinander verbinden.«
»Es gibt hunderte Albenfade«, wandte Ollowain ein.
»In deinem nichtsnutzigen Leib gibt es auch hunderte Sehnen. Eine einzige zu durchtrennen kann bedeuten, dass du deinen Daumen nicht mehr krümmen kannst. Und wie willst du dann deine Waffe noch halten? Alles, was du dir in deinem langen Leben erarbeitet hast, kann mit einem einzigen kleinen Schnitt vernichtet werden. So unbedeutend ist es, eine Sehne zu durchtrennen.« Ganda blickte zu Emerelle. »Es sind Yingiz hierher gekommen, nicht wahr? Die Seelenfresser aus dem Nichts.«
»Sie können hier keine Gestalt annehmen«, wandte die Königin ein. »Sie können nur versuchen, uns zu ängstigen. Und sie bringen Kälte.«
»Und wenn jemand dumm genug ist, ihnen zu einem Leib zu verhelfen? Was dann? Du musst sie wieder vertreiben, Emerelle. Sofort!«
»Sie entziehen sich meiner Magie. Ich vermag ebenso wenig gegen sie auszurichten wie du gestern Nacht. Selbst die Alben konnten sie nicht gänzlich vernichten. Deshalb haben sie ihre Schatten in die Dunkelheit verbannt.«
»Dann musst auch du sie wieder vertreiben!«, beharrte Ganda leidenschaftlich.
Emerelle breitete hilflos die Arme aus. »Ich habe es versucht. Glaub mir! Mit all meiner Kraft, doch es ist mir nicht gelungen. Sie sind zu fremd. Deshalb habe ich dich hierher gebeten, Ganda. Ich brauche deine Hilfe.«
Ollowain traute seinen Ohren kaum. Er hatte ja geahnt, dass es kein Zufall war, Ganda mitten in der Nacht auf der Palastterrasse anzutreffen. Aber was hatte er mit diesem zänkischen Koboldweib zu schaffen? Und was erhoffte sich Emerelle von ihr?