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»Ach, Kind! Wie soll ich denn gehen? Unten im Saal der fallenden Wasser liegt das Tor, durch das die Schatten kommen. Ich muss in seiner Nähe bleiben. Noch sind es nur einzelne Yingiz, die hierher gelangen. Aber wann wird der Damm brechen? Wann ergießen sie sich wie eine Woge aus Finsternis über das Land? Ich war es, die einen Faden im Netz der Albenpfade zerrissen hat. Ich muss hier bleiben. Das ist mein Schicksal.«

»Du sagtest, etwas von der jungen Emerelle sei immer noch in dir lebendig, Herrin. Verborgen unter den Jahresringen von Jahrhunderten, um in deinem Bild des Baumes zu bleiben. Vielleicht gibt es doch einen Weg, dich Ollowain zu erkennen zu geben. Ohne Worte.«

Die Königin ließ resigniert den Kopf sinken. »Er hat keine Erinnerung an damals. So ist es, wenn du wiedergeboren wirst. Du kehrst als ein unbeschriebenes Blatt zurück. Frei von den Lasten der Vergangenheit.«

»Aber du sagst, du kannst seine Rückkehr mit deinem Herzen fühlen. Es scheint ein unsichtbares Band zwischen euch zu geben. Glaubst du nicht, in ihm schlummert auch etwas? Etwas, das jenseits der Erinnerung seines Verstandes liegt? Vielleicht kann sich ja auch ein Herz erinnern?«

Emerelle seufzte. »Du bist ja eine Dichterin, Obilee. Die Erinnerung des Herzens ... Woran sollte sich ein Herz erinnern?«

Die Kriegerin zuckte hilflos mit den Schultern. »An deinen Duft? An deine Kleidung, den Tonfall deiner Stimme? Was habt ihr gegessen? Gab es ein Gericht, das er besonders mochte?«

»Sind wir jetzt bei der Erinnerung des Magens?«

»Herrin!« Da war sie wieder, die kalte, spöttische Emerelle. Gewiss war sie es, die es Ollowain unmöglich machte, seine frühere Liebe wiederzuerkennen.

Emerelle strich sich mit der Hand durch das lange Haar.

»Verzeih mir.« Sie sagte das so leise, dass Obilee sie fast nicht verstehen konnte. »Du hast einen wunden Punkt berührt. Ich kann die wunderbarsten Zauber weben, aber ich vermag nicht zu kochen. Falrach hat es zwar gegessen, aber er hat mich aufgezogen. Gestichelt. Trotzdem konnte auch ich über seine Späße lachen. Auch wenn seine Worte manchmal grob klangen, so hat sein Lächeln ihnen den Stachel genommen.« Sie schloss die Augen. »An manches erinnere ich mich so deutlich, als sei es erst gestern gewesen. Das schalkhafte Funkeln in seinen Augen, wenn er mir erklärte, halb rohe Hasenkeule mit angebrannten Zwiebeln sei unter allem, was ich koche, mit großem Abstand sein Leibgericht.«

»Dann koche es noch einmal für ihn«, sagte sie, doch in Gedanken war sie bei dem Brunnen vor dem Thronsaal. Falrach also war es gewesen, jener geheimnisvolle Geliebte Emerelles. Hatte sie bewusst ihr Geheimnis preisgegeben, oder war sie so tief in Gedanken und hatte gar nicht bemerkt, dass nicht Ollowains Name über ihre Lippen gekommen war?

Noch immer spielte die Königin nachdenklich mit ihrem Haar. »Ich werde mich zum Gespött unter den Kobolden in der Küche machen, wenn ich sie von ihren Herdfeuern vertreibe, um ein angebranntes Essen zu kochen.«

»Wie viel wiegt dieser Spott, wenn es dir gelingt, den Funken der Liebe wieder zu entfachen?«

Emerelle seufzte.

»Und was ist mit deiner Kleidung? Was hast du getragen?«

Wieder schloss die Königin die Augen. »Ein Jagdkostüm aus rostrotem Leder. Es war praktisch, weil man die Blutflecke darauf nicht so gut sehen konnte. Ich habe es oft geflickt. Das Leder war ganz abgestoßen. Ich sah recht verwegen darin aus. Auf der linken Schulter hatte ich einen dicken Lederstreifen. Dort saß Goldauge, mein Falke. Selbst wenn ich tief über die Mähne meiner Stute gebeugt galoppierte, blieb er dort sitzen. Er liebte das.«

»Dann leg auch dieses Jagdgewand wieder an, Herrin.«

Die Königin sah sie an. »Ach, Obilee. Es ist längst zu Staub geworden, so viele Jahrhunderte sind seitdem vergangen. Auf jede Nacht, die wir beisammen lagen, kommen mehr als tausend Nächte ohne ihn.« Sie trat an einen Sims, auf dem Dutzende kleiner Kristallflakons standen. Spielerisch strichen ihre Finger über die Fläschchen. Dann entkorkte sie eines und strich sich ein wenig Parfüm auf Hals und Nacken. Schwerer Aprikosenduft stieg Obilee in die Nase. Emerelle nahm einen anderen Flakon, träufelte etwas auf ihre Finger und strich dann über ihre Scham. Der Duft von Sandelholz mischte sich zur Aprikose.

»Herrin, jede Dame bei Hof kleidet sich in sinnliche Düfte und kostbare Seide. Wage es, anders als sie zu sein. Suche nach der Emerelle mit dem Falken auf der Schulter. Zeige Ollowain die Frau, die er als Falrach einst liebte.«

Der Flakon entglitt Emerelles Fingern und zerschellte auf dem Steinboden. »Du ... du kennst seinen Namen!«

»Herrin, du selbst hast ihn genannt.«

»Niemals. Ich ...« Sie stockte. Der Sandelholzduft lastete schwer in der Ankleidekammer. Nie zuvor hatte Obilee die Herrscherin Albenmarks so verletzlich gesehen. Ihre Wangenmuskeln zuckten. Sie blinzelte, kämpfte mit Tränen.

Zögernd trat die Kriegerin vor, stieg über die Scherben hinweg und nahm Emerelle in ihre Arme.

Emerelle vergrub das Gesicht an Obilees Schulter. Ihr Rücken bebte. »Du darfst es niemandem sagen, hörst du. Niemandem! Sie würden es ihm zutragen, nur um mich zu verletzen. Vielleicht würden sie ihn sogar ermorden, um mich damit zu treffen.«

»Aber Herrin, wer sollte so etwas tun?« Die Königin löste sich aus ihrer Umarmung und machte eine vage Geste. »Es sind so viele dort draußen, die mich fallen sehen wollen. So viele! Sogar Elfen.« Sie kniete nieder und sammelte die Scherben des zerbrochenen Flakons auf ihre flache Hand. »Reich mir deine Linke, Obilee. Die Hand, die vom Herzen kommt.«

Wie in Trance gehorchte die junge Elfe. Der Sandholzduft machte sie ganz benommen, und Emerelle hatte etwas Zwingendes in ihrem Blick. Die Königin griff mit der Hand, in der die Scherben lagen, nach ihr. Ihrer beider Finger verschränkten sich ineinander. Muskeln und Sehnen an Emerelles Unterarm spannten sich. Obilee spürte einen kurzen, stechenden Schmerz. Obwohl Fenster und Türen verschlossen waren, streifte sie ein eisiger Luftzug. Viel zu kalt für einen Sommerabend. Kauerte dort in der Ecke ein Schatten? »Schwöre mir bei deinem Blute, dass der Name, den du erfahren hast, nie mehr über deine Lippen kommen wird.«

»Ich schwöre es«, flüsterte die Kriegerin leise.

Vorsichtig löste Emerelle ihren Griff. Scherben hatten sich in die zarte Haut ihrer Hand gegraben. Auch Obilee blutete. »Du weißt, welche Macht mir ein Blutschwur gibt?« Emerelles Stimme war ohne Gefühl. Sie zog sich die Glassplitter aus der Hand.

»Dir wird meine Seele gehören, wenn das Siegel meiner Lippen bricht.« Noch immer konnte Obilee nicht fassen, was die Herrscherin getan hatte.

»Wenn deine Seele mir gehört, weil du den Eid brichst, ist der Zyklus aus Tod und Wiedergeburt für dich unterbrochen. Dann bist du ausgeschlossen vom Weg ins Mondlicht. Dein Schicksal würde sich nicht erfüllen.«

»Warum, Herrin? Warum tust du das?«

»Du hast jetzt große Macht über mich, Obilee. Ist es da nicht gerecht, wenn ich auch Macht über dich habe?«

»Aber du könntest mir doch vertrauen.«

»Und mich ausliefern? Nein, Obilee. Ich lebe zu lange, um noch Vertrauen zu haben.«

»Vielleicht findet die wiedergeborene Seele deshalb nicht zu dir?«, sagte die Kriegerin bitter. Sie wagte es nicht, Namen zu nennen, denn noch immer nisteten Schatten im Winkel bei den Schuhregalen.

»Dann ist es wohl mein Schicksal«, entgegnete Emerelle zynisch.

Die Lichter unter den Kleidern flackerten. Es wurde wieder wärmer. Obilee spähte zu den Schuhregalen.

»Es ist fort«, flüsterte Emerelle. Sie legte der Elfe ihre blutige Hand in den Nacken und zog Obilee dicht zu sich heran. »Es tut mir leid, dass ich mich so weit vergessen habe und dir diesen Namen verriet. Du bist meiner Seele nahe gewesen. Es war gut, mit dir zu reden, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ich deine Ratschläge beherzigen werde. Ich würde sehr viel von meiner königlichen Würde aufgeben, wenn ich mich in die Küche stelle und ein schlechtes Essen zubereite. Würde ist ein wichtiger Teil meiner Herrschaft. Würde flößt anderen Respekt ein. Und nur wenn man mich respektiert, wird man mir gehorchen. Doch wie dem auch sei, ich habe auch einen Rat für dich. Er ist nicht minder heikel, aber er kommt von Herzen. Ich weiß, wie du für Nuramon empfindest. Sieh mich nicht so überrascht an, Obilee. Du hast dich in jenem Winter verraten, in dem Nuramon, Farodin und Mandred zu uns zurückgekehrt waren. Dir stand die Liebe ins Gesicht geschrieben, Obilee. Sprich zu Nuramon von deinen Gefühlen.«