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Der Choral der Seelen hatte die Stimme des dunklen Versuchers zum Verstummen gebracht. Sebastien war sich unschlüssig, ob es die heilige Macht der Worte war, die den Schatten schweigen ließ, oder der Frieden, der ihnen entströmte und der selbst für die aufgewühlteste Seele heilender Balsam war.

Sebastien umrundete einen Felsvorsprung, der über den Strand hinaus bis zur See reichte. Er konnte das erfrischende Wasser nicht spüren. Ganz gleich, ob er über den Strand oder durch das Wasser eilte, er fühlte nichts. Nicht den Sand unter den Pfoten und nicht die spritzende Gischt, die mit kalten Fingern durch sein Fell hätte greifen sollen. Sein neuer Leib hätte es Sebastien erlaubt, durch den Fels hindurchzugehen. Aber das hätte einen Augenblick der Finsternis bedeutet. Für einen Herzschlag wären die Sonne und ihr strahlendes Licht verschwunden, und er scheute davor zurück, dem Schatten in ihrer Seelengemeinschaft so leichtfertig in die Hände zu spielen.

Der ehemalige Abt verharrte vor einem Tümpel aus dunklem Brackwasser, der vor dem Wind geschützt zwischen den Felsen lag. Er betrachtete den neuen Leib, den das Wunder Tjureds ihnen geschenkt hatte. Sie waren groß wie ein Stier geworden, auch wenn sie dabei so hager waren wie ein halb verhungerter Wolf. Deutlich zeichneten sich Muskeln und Sehnen unter dem kurzen Fell ab. Sie waren stark! Stärker als jedes Geschöpf aus Fleisch und Blut. Nachdem sie die Pfade aus Licht verlassen hatten und in die wunderschöne Welt der verhassten Albenkinder getreten waren, hatte Sebastien ihren neuen Leib erprobt. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht war er dahingestürmt. Er konnte auf Wolken laufen und durch Mauern preschen. Nichts hielt sie auf! Und wie lange sie auch rannten, sie kannten keine Müdigkeit. Dieser Körper war eine vollkommene Waffe gegen die Albenkinder. Sie hatten einen Jäger getroffen. Seine Pfeile waren wirkungslos durch sie hindurchgeglitten. Jules sagte zwar, dass Eisen aus den Schmieden der Menschen ihnen vielleicht schaden könnte, aber hier gab es keine Menschen. Die Albenkinder waren ihnen ausgeliefert. So wie die heiligen Märtyrer der geschändeten Refugien den Waffen der Albenkinder ausgeliefert gewesen waren. Dies hier war ein Kriegszug des gerechten Zorns, so hatte Jules immer wieder gepredigt. Sie waren die Auserwählten Gottes. Die Waffe, die sich tief in das Fleisch der Sündigen graben würde! Das unverwechselbare Bellen von Seehunden ließ Sebastien aufhorchen. Hier würde er erfolgreich jagen können. Viele Abende lang hatte Jules ihm von den Wundern Albenmarks und von den Geschöpfen erzählt, die hier lebten. Er sollte die Selkies finden. Die liebsten Kinder Eleborns, des Fürsten unter den Wogen. Man erkannte sie an ihren strahlenden Augen.

Sebastien blickte in das Spiegelbild ihres Leibes. Er sah blauweißes Licht, das einen Körper formte. Einen Leib mit einer mörderisch langen, schlanken Schnauze voller Zähne. Wenn sie genügend Lebenslichter ausgelöscht hatten, würden sie einen wirklichen Leib bekommen. Einen festen Körper, wie ihn jede Kreatur Gottes haben sollte. Ja, wenn sie besonders erfolgreich waren, würden sich ihre Seelen von der dunklen Kreatur lösen, und ihre Leiber würden wieder auferstehen. Dann wären sie alle lebende Heilige. Und sie würden die Welt der Albenkinder für die Kinder Tjureds in Besitz nehmen.

Sebastien träumte davon, ein Kloster hier auf den schwarzen Klippen zu errichten, hoch über dem Meer. Es war ein Ort der Schönheit, an dem man schauend Frieden in seine Seele trank.

Eine zarte Eishaut bildete sich auf dem Brackwasser. In ihrem neuen Leib spürten sie weder Hitze noch Kälte, doch Jules hatte ihnen gesagt, Eiseskälte werde sie einhüllen wie ein unsichtbarer Mantel. Ihre Opfer würden diese Kälte bemerken, noch bevor sie ihrer angesichtig wurden. Und wenn unter den Albenkindern erst einmal bekannt war, dass Tjureds Rächer ausgezogen waren, um sie zu strafen, dann würde jeder kalte Windhauch ein namenloses Entsetzen verbreiten.

Der Abt legte den starken Kopf in den Nacken. Er hätte sein Frohlocken dem Himmel entgegenschreien können. Doch sie hatten keine Stimme. Stumme Jäger waren sie.

Sebastien wandte sich von dem Spiegelbild ab und trottete zum Wasser. Er tauchte in das Jadegrün der Wogen, glitt mit den Fischschwärmen, die angstvoll auseinander stoben, wenn er in ihrer Mitte erschien. Das Meer war erfüllt von Lebenslichtern. Er konnte sie fühlen, und er konnte sie sogar sehen, wenn sein Hunger besonders groß war.

Er tauchte an schwarzen Klippen vorbei und durcheilte Wälder aus wogendem Seetang. Dort, wo die See nur seicht war, wob das Licht zauberhafte Muster auf den Sand. Muscheln klebten zu tausenden an den Felsen. In seinem Übermut schnappte er nach ihnen. Er spürte schleimige Innereien verdorren. Ihre winzigen Lebenslichter stachelten seinen Hunger nur noch mehr an. Er hinterließ einen breiten Streifen klaffender, toter Schalen.

Ein schlanker Schatten jagte einem Fischschwarm nach. Noch weitere Schatten folgten. Seehunde. Es war eine Freude, ihnen zuzusehen. Ihre Bewegungen waren voller Eleganz.

Dunkler Hunger erhob sich in ihm. Doch er würde keinen Seehund töten. Er mochte sie! Und er war der Gebieter des Schattens, der in ihm lauerte. Noch immer hielt der Seelenchoral seiner Brüder und Schwestern dessen lästerliche Stimme gefangen.

Die Selkies galten als neugierig. Es würde leicht sein, sie zu fangen. Sebastien glitt durch den Schwarm jagender Seehunde. Erschrocken tauchten die schlanken Räuber davon. Sie mieden ihn und spähten ihm zugleich neugierig hinterher.

Sebastien tauchte entlang der schwarzen Felsen und achtete sorgfältig darauf, dass sie ihn nicht aus den Augen verloren. Er erforschte die tiefen Spalten, welche die Kraft der Gezeitenströme in den Felsen geschlagen hatte. Und schließlich fand er, was er gesucht hatte. Eine Höhle, die tief im Felsen verborgen oberhalb des Wasserspiegels lag. Speere aus goldenem Sonnenlicht stachen durch breite Risse im Fels hinab. Es war wie ein Ort aus einem Kindermärchen. Und Sebastien war sich ganz sicher, dass die Selkies diese Höhle kannten. Er suchte einen finsteren Winkel und ließ den körperlosen Leib in den Fels sinken, bis nur noch sein Kopf daraus hervorragte.

Sebastien richtete sich auf eine lange Wartezeit ein. Jäger mussten Geduld haben! Er beobachtete, wie die Lichtspeere langsam durch die Höhle wanderten, schwächer wurden und schließlich verschwanden. Der Abt konnte die Anspannung der Kreatur tief in sich spüren. Auch der Schatten war begierig auf die Beute, die Sebastien erwählt hatte. Er versuchte nicht, mit seinen ketzerischen Gedanken die Festigkeit und Tiefe von Sebastiens Glauben zu ergründen.

Silbernes Mondlicht verzauberte die Grotte. Leise klang das Spiel der Wellen vom felsigen Ufer. Stunden mussten vergangen sein, als ein schmaler Kopf aus dem Wasser tauchte. Ein Seehund. Und seine Augen ... Sebastien war zutiefst aufgewühlt, als er sie sah. Bruder Jules hatte von den schönen Augen der Selkies gesprochen, doch darauf war Sebastien nicht vorbereitet gewesen. In diesen Augen war das Mondlicht gefangen. Sie waren wie die Augen von Katzen, die man nachts mit einer Blendlaterne überraschte. Leuchtende Flächen aus lebendigem Licht. Und das Licht hatte die Farbe der See an einem Sommernachmittag. So hatte der Wasserhimmel über ihm ausgesehen, als er getaucht war. Ein leuchtendes, von Licht durchtränktes Grün.

Der Seehund schob sich auf den glatten Uferfelsen der Grotte. Neugierig sah er sich um. Dann plötzlich wand er sich. Etwas bewegte sich unter seinem Fell. Es teilte sich, fiel von ihm ab, und eine zarte Frauengestalt entstieg dem Leib. Auf dem Felsen blieb nur die Seehundhaut zurück. Die Frau streckte sich. Ihr Haar war so schwarz wie der Felsen, die Haut von marmornem Weiß. Sie war mädchenhaft schlank, die Brüste nur sanfte Hügel. Neugierig blickte sie sich um.