Bernhard Hennen
Elfenwinter
Für Menekse und Melike, mein Zuhause
»Wo gehen wir denn hin?«
»Immer nach Hause«
Karten: Andreas Hancock
Das Fest der Lichter
»Sie werden versuchen, die Königin zu töten.«
Die junge Elfe blickte Ollowain ungläubig an. Sie schien seine Worte für einen schlechten Scherz zu halten. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, verflog aber sogleich wieder, als er keine Anstalten machte, es zu erwidern. Ollowain war klar, wie ungeheuerlich seine Behauptung klingen musste. Emerelle galt im Volk als die von allen geliebte Herrscherin. Sie war die Güte selbst, die mütterliche Königin der Albenkinder. Und doch hatte es bereits zwei Mordanschläge gegen sie gegeben. »Such dir ein Versteck, von dem aus du die Mastkörbe der Schiffe rings um die Prunk-Liburne der Königin beobachten kannst. Und sobald du etwas Verdächtiges siehst, schieß! Jedes Zögern könnte Emerelles Tod bedeuten.«
Die hoch gewachsene Elfe trat an den Rand der Terrasse und blickte hinab auf die Hafenstadt. Vahan Calyd lag an einer weiten, felsigen Bucht am Ende einer Landzunge. Es war die größte Stadt am Waldmeer, obwohl nur wenige Albenkinder hier ständig lebten. Die Palasttürme, die sich stolz über die einfachen Häuser erhoben, standen fast immer leer. Einmal alle achtundzwanzig Jahre versammelten sich die Fürsten Albenmarks in Vahan Calyd, um gemeinsam das Fest der Lichter zu feiern. Dann erwachte die Stadt für wenige Wochen aus ihrem immerwährenden Schlaf.
Jede Sippe Albenmarks, die als bedeutend galt, unterhielt hier zumindest ein Haus, auch wenn es fast immer leer stand. Und die Fürsten der Albenkinder versuchten einander mit der Pracht ihrer Palasttürme zu überbieten. Doch all dies war nichts als eitler Tand und nur für wenige Wochen in achtundzwanzig Jahren von Bedeutung. In der übrigen Zeit stolzierten Winkerkrabben, die sich aus den nahen Mangroven nach Vahan Calyd verirrten, durch die weitläufigen Straßen der Stadt. Sie übertrafen die Diener und die Holden, die Vahan Calyd hüteten, an Zahl und an Muße. Dann nisteten Kolibris, Seeschwalben und Trollfingerspinnen wieder unter den Giebeln der Paläste und würden für viele Generationen nahezu unbehelligt bleiben, bis erneut das Fest der Lichter nahte. Dann drängten sich Tausende durch die Straßen der Hafenstadt, und die Winkerkrabben wurden in großen Kupferkesseln gekocht und an jeder Ecke feilgeboten. Vahan Calyd quoll über vor Leben, wenn, so wie heute, die Nacht der Nächte nahte und die stolzesten Schiffe Albenmarks sich im Hafen zum Stelldichein trafen. Es war ein Fest der Eitelkeiten. Ein Fest, bei dem die Fürsten einander ihre Macht und ihren Reichtum vorzeigten.
Silwyna wandte sich wieder Ollowain zu. Sie trug ihr Haar zurückgekämmt und zu einem langen Zopf geflochten, was ihr scharfkantiges Gesicht noch strenger aussehen ließ. Die Jägerin galt als eine der Besten unter den Bogenschützen Albenmarks. Und was noch wichtiger war, der Schwertmeister kannte sie als verschwiegen. Er würde sich darauf verlassen können, dass sie nicht ausplauderte, was hinter den Kulissen des Festes geschah. Am allerwichtigsten jedoch war: Wenn sie auf seiner Seite stand, dann diente sie in dieser Nacht keinem anderen Herrn. Zumindest hoffte er das. Silwyna war eine Maurawani. Sie entstammte jenem Elfenvolk, das hoch im Norden in den unwirtlichen Wäldern der Slanga-Berge lebte. Die Maurawan galten als unberechenbar und verschlagen. Und die meisten von ihnen machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung für Emerelle und den Prunk ihres Hofes.
»Was du von mir verlangst, ist unmöglich«, sagte Silwyna ruhig und ließ den Blick noch einmal über den weiten Hafen schweifen. Mehr als hundertfünfzig größere Schiffe lagen an den Kais vor Anker. Ein wahrer Wald von Masten ragte über dem Wasser auf, und schon jetzt kletterten in der Takelage der Schiffe unzählige Schaulustige auf der Suche nach den besten Plätzen für das große Fest umher.
»Stell dir einmal vor, du wolltest Emerelle töten, kurz bevor sie auf dem Achterdeck der Mondschatten die Huldigung durch die Fürsten der Albenkinder entgegennimmt. Wie würdest du das anstellen?« fragte Ollowain Silwyna sah sich um. Die Sonne berührte den Ozean, die Masten warfen lange Schatten. Schon wurden die ersten Lichter entzündet. Die Schiffe waren mit Blumenketten geschmückt. Immer mehr Albenkinder drängten sich auf den Decks und am Hafen. Bald würde es kaum mehr ein Durchkommen geben.
Ollowain lief die Zeit davon. Er musste hinab zum Magnolienhof, wo sich das Gefolge der Königin sammelte. Vielleicht konnte er Emerelle ja doch noch davon abbringen, sich wie eine lebende Zielscheibe auf der Mondschatten zu zeigen.
»Ich wäre dort drüben.« Die Bogenschützin deutete auf ein türkisfarbenes Schiff mit silbernen Beschlägen an Rumpf und Aufbauten. »Die Atem der See. Von dort kann man Emerelles Prunk-Liburne gut einsehen. Das Schiff liegt weit genug von der Mondschatten entfernt, um nicht zu scharf beobachtet zu werden. Vor allem ist der Abstand groß genug, um einen Vorsprung zu haben, wenn die Jagd beginnt.«
Ollowain musterte die junge Elfe scharf. Sie ist eine Maurawani, ermahnte er sich. Beute nachzustellen war ihr Leben. Ihn überlief ein Schauer. Nie hätte er sich träumen lassen, seine Königin in Gedanken einmal Beute zu nennen. Er straffte sich.
»Warum die Atem der See? Ich habe die letzten fünf Stunden damit verbracht, mir Gedanken über die Schiffe im Hafen zu machen. Was du sagst, trifft auf mindestens noch drei andere Schiffe zu.«
»Wie viel weißt du?«
Ollowain wich ihrem Blick aus. »Wenig.« Und von dem Wenigen konnte er ihr das Meiste nicht sagen.
»Wenn man vorhat, die Königin mit einem Pfeil zu töten, dann geschieht dies, weil, wer immer es tut, mit dem Leben davonkommen will. Oder irre ich mich?«
»Ich hoffe nicht«, entgegnete Ollowain tonlos. Alles, was bisher geschehen war, sprach dafür, dass Silwyna Recht hatte.
»Von der Atem der See kann man entkommen.« Sie deutete hinüber zur Galeasse, deren helles Türkis in der Dämmerung zu einem blassen Grau verwischte. »Die Schiffe halten Abstand zur Atem der See. Dort ankern sie weniger dicht.«
»Das geschieht, damit die Galeasse ihre Ruder zu Wasser bringen kann. Sie braucht mehr Platz zum Manövrieren«, erklärte Ollowain. Insgeheim ärgerte er sich, dass er nicht selbst daran gedacht hatte. Er ahnte, worauf Silwyna hinauswollte.
»Sie könnte sich genau wie die Segelschiffe in freies Fahrwasser schleppen lassen. Wenn ich die Königin töten wollte, würde ich im vorderen Mastkorb stehen. Nach dem Schuss ist es ein Leichtes, über die Rah zu fliehen und ins Hafenbecken zu springen. Dort würde ich einen Delfin rufen, um mich aus dem Hafen zu den Mangroven oder zu einem Boot bringen zu lassen, das draußen auf der offenen See wartet.«
Ollowain spürte, wie ein einzelner Schweißtropfen über seine Stirn rann. Er musterte Silwyna eindringlich. Hatte er sich in ihr geirrt? Sie konnte sich allzu gut in den Mörder hineindenken. Lag es nur daran, dass sie eine Jägerin war? Sie war vorbereitet! Für den flüchtigen Betrachter wirkte sie festlich gekleidet, doch er sah in ihr mehr als nur einen harmlosen Gast. Sie war bereit, mit den Schatten der Nacht zu verschmelzen. Zu lauern und zu töten. Silwyna trug ein dunkles Wams aus Leder, in das ein aufwändiges Blütenmuster geprägt war. Darunter ein schwarzes Seidenhemd und eine weite seidene Hose. Ihr Antlitz war mit Bandag bemalt, dem rotbraunen Saft des Dinko-Busches. Ihre helle Hautfarbe verschwand fast gänzlich unter dem dunklen Muster aus Spiralen und stilisierten Wolfsköpfen. Selbst der lederne Sehnenschutz, den sie am linken Unterarm trug, wirkte auf den ersten Blick wie Schmuck. Gewiss, sie machte in diesem Festgewand einen düsteren Eindruck, aber das würde niemanden wundern. Im Gegenteil, man erwartete von den Maurawan geradezu, dass sie gegen jede Form der Etikette verstießen. Sie waren Wilde. Aufgewachsen in Wäldern. Angeblich lebten sie mit Tieren zusammen. Ollowain hielt das für Gerede, aber er wusste, dass viele diese Geschichten für wahr hielten.