Ollowain hatte seinen Platz am Knochenhügel verlassen. Der Schwertmeister ging ihm entgegen! Alfadas wandte sich ab. Er tat so, als hätte er den Elfen nicht gesehen. Er zitterte. Seine Kraft reichte nicht aus, um davonzulaufen. Er wollte jetzt nicht über seine Pflichten als Heerführer reden. Und er hatte panische Angst davor, dass Ollowain aus einem anderen Grund kam.
Das Eis knirschte leise, sonst hätte er den Elfen nicht kommen hören. Der Schwertmeister bewegte sich lautlos wie eine Katze. Sein Ziehvater wusste, dass er ihn gesehen hatte. Und er wollte, dass er ihn hörte. »Was gibt es?«, fragte der Herzog leise, ohne sich umzudrehen.
»Ich muss mit dir reden.« Der Elf trat vor ihn, sodass Alfadas gezwungen war, ihn anzusehen. Ollowain verbarg etwas unter seinem weiten weißen Umhang.
Alfadas atmete aus. Er konnte den Blick nicht von der verbogenen Hand abwenden. Was versteckte sie?
»Lass uns zum Wald hinübergehen.« Ollowain deutete ein Stück den Fjord hinauf, wo ein lichter Birkenhain lag. »Ich möchte allein mit dir sein.«
»Wir sind hier doch allein.« Alfadas‘ Stimme zitterte, so sehr er sich auch bemühte, sich zu beherrschen. »Niemand soll uns zusehen. Du bist der Herzog. Sie dürfen nicht den Glauben an dich verlieren. Nicht in dieser Stunde.«
»Ich bin nur ein Mensch! Das wissen sie. Einer wie sie!«
»Nein, du bist der Elfenjarl. Ein Mann wie aus den alten Sagas. Ein Held, der noch niemals besiegt wurde. Ein ruhmreicher Heerführer. Das bist du für sie.« Ollowain wandte sich ab und ging in Richtung des Birkenwaldes.
»Du weißt besser als jeder andere, dass ich nur ein Mensch bin, mein Lehrmeister. Das sind bloß Geschichten. Du kennst all meine Schwächen. Du weißt, was ich in Wirklichkeit bin. Diese Sagas sind nur Geschichten, die Skalden wie Veleif erfunden haben. Nichts davon ist wahr!«
Ollowain antwortete ihm nicht. Der Elf ging unbeirrt weiter dem Birkenhain entgegen.
Alfadas unterdrückte den Wunsch, ihm nachzulaufen. Er wusste, dass man sie vom Ufer aus beobachtete. Er durfte sich nicht eine solche Blöße geben! Mit weiten Schritten folgte er dem Elfen und musste sich immer wieder zwingen, nicht doch einfach loszulaufen. So sehr er sich bemühte, er vermochte Ollowain nicht einzuholen. Erst als der Schwertmeister eine Lichtung inmitten des Birkenhains erreichte, blieb er stehen. »Was verbirgst du unter deinem Mantel?«
Ollowain drehte sich um. Sein Gesicht war eine starre Maske. Er hielt einen Dolch in Händen. Es war eine lange, schlanke Waffe. Fast schon ein kurzes Schwert. Der Griff war aus hellem Walbein geschnitten und zeigte zwei Löwen, die auf ihren Hinterbeinen standen und sich in tödlicher Umklammerung hielten. In die silberne Scheide waren kleine Türkissplitter eingefasst. Alfadas wusste, dass es dreiundachtzig Türkise waren. Ulric hatte sie gezählt.
»Ich weiß, was du in Wirklichkeit bist, Menschensohn«, sagte der Elf leise. »Auch wenn du es nicht glauben willst, liegt in den Geschichten über dich viel Wahrheit. Die Männer sehen zu dir auf. Gerade in dieser Stunde der Trauer. Aus dir werden sie Kraft schöpfen.«
Der Herzog nahm den silbernen Dolch an sich. »Er lag zwischen den Knochen?« Ollowain nickte.
»Lass mich bitte allein«, sagte Alfadas leise.
Eine Eiche und ein gutes Stück Fleisch
Endlich tauchte er zwischen den Bäumen auf. Orgrim hatte über eine Stunde auf den Kundschafter gewartet. Sofort führte er Brud an Dumgars Feuer.
»Und?«, fragte der Herzog vom Mordstein. »Hast du den Weg gefunden?« Brud klopfte sich den Schnee aus seinem Umhang. »Es gibt keinen Weg. Diese verfluchten Menschlinge haben den Ort klug gewählt. Man muss durch das Tal, um zum Dorf hinaufzukommen. Sie haben noch zwei weitere Wälle. Einen am Ende des Tals und einen dicht bei den Hütten.«
»Wie viele sind es?«, fragte Orgrim.
»Nicht einmal zweihundert, die kämpfen können.« Dumgar sprang vom Feuer auf. »Dann kommen ja zwei von unseren Kriegern auf einen Menschling. Und wir schaffen es nicht, sie in Stücke zu reißen? Verdammte Weichlinge! Was seid ihr? Krieger oder lauwarme Mäusefürze?« Der Herzog griff sich ein paar Rippchen, die neben dem Feuer auf einem Holzbrett lagen, und nagte das magere Fleisch von den Knochen. Orgrim hatte den Kerl gesehen, der für das Festmahl ausgesucht worden war. Ein hagerer Mann mit narbigem Gesicht. Er hatte wie ein Welpe gewimmert. Von diesem Fleisch würde er nicht essen, dachte der Herzog der Nachtzinne. Der Menschling hatte ungesund ausgesehen.
»Vielleicht würde es ja die Laune unserer Krieger verbessern, wenn sie dich auch einmal in der ersten Reihe kämpfen sähen.« Orgrim hielt Dumgar mit Blicken gefangen. Er verachtete seinen Feldherrn. Der einzige lauwarme Mäusefurz in diesem Lager war er.
»Ich durchschaue dich, Orgrim. Du wünschst dir, dass mich die Menschlinge töten, damit du hier den Befehl hast. Aber so wird es nicht kommen! Ich bin zu wichtig. Ich darf dem Heer nicht verloren gehen.«
Orgrim strich über die Kruste der frischen Pfeilwunde an seiner Schulter. Er war unter den Kriegern gewesen, die versucht hatten, die Bresche zu erweitern, während Dumgar sich auf einem Hügel außer Schussweite gehalten hatte. »Ich kann dich beruhigen, Feldherr. Solange du dich dem Schlachtfeld nicht näherst, ist die größte Gefahr, der du dich aussetzt, diejenige, an einem Rippchen zu ersticken.«
Dumgar warf einen der Knochen ins Feuer. Er lächelte säuerlich. »Mach dir keine Sorgen deshalb. Ich bin ein sehr erfahrener Esser.«
Du bist ein Pickel auf dem Hintern des Königs, dachte Orgrim wütend, hielt aber den Mund. Eines Tages werde ich dich ausquetschen!
Dumgar wandte sich an Birga. Die Schamanin saß etwas abseits des Feuers. Mit einem dürren Zweig malte sie ein verschlungenes Muster in den Schnee.
»Bist du dir ganz sicher, dass Emerelle dort oben in dem Dorf der Menschlinge ist?«
Die Schamanin hielt inne. Die Lederhaut, die sie vor ihr Gesicht gespannt hatte, glitt ein wenig zur Seite, als sie ruckartig den Kopf hob. Es war zu kurz, um in der Dunkelheit etwas von ihrem Gesicht erkennen zu können. »Glaub mir, Dumgar, wen ich befrage, der ist froh, mir so schnell wie möglich all seine Geheimnisse anvertrauen zu dürfen. Emerelle steckt dort oben in dem Bergdorf!«
Der Herzog vom Mordstein leckte sich nervös über die Lippen. »Ich wollte dein Wissen nicht infrage stellen. Es wäre nur... Wie lange wird es noch dauern, bis wir das Dorf erobern?«
»Ich kann nicht in die Zukunft sehen«, entgegnete sie gereizt.
»Es ist dieses verfluchte goldhaarige Weib, das sie immer wieder aufstachelt. Ich habe sie lange beobachtet. Sie trägt ein Kind. Die Gefangenen sagen, sie sei das Weib des Elfenjarls. Sie müssen wir töten! Dann werden wir siegen. Wie schnell das gelingt, das hängt ganz davon ab, wer bei den nächsten Angriffen den Befehl führt.« Sie sah zu Orgrim. »Ich bin sicher, du würdest anders vorgehen, als wir es bisher getan haben. Oder irre ich mich?«
Orgrim wusste, dass er sich nicht gegen Dumgar stellen konnte. Er würde am einfachsten sein Ziel erreichen, wenn er dem Herzog vom Mordstein schmeichelte. »Ich finde, dass Dumgar den richtigen Weg eingeschlagen hat. Aber wir sollten mehr Kraft einsetzen. Unsere Rammböcke sind zu schwach. Das liegt an der Eile, mit der wir angegriffen haben. Wir sollten die Menschen einen Tag lang in Frieden lassen. Selbst wenn wir nicht angreifen, werden sie uns so sehr fürchten, dass sie nicht zur Ruhe kommen. Wir nutzen die Zeit, um eine große Eiche zu suchen. Einen wahrhaft gewaltigen Baum! Und daraus fertigen wir einen Rammbock, wie nur Trolle ihn heben können. Die nächste Palisade der Menschenkinder werden wir in einem einzigen Sturmlauf nehmen.«