Als die Trolle tot im Schnee gelegen hatten, hatte Yilvina ihn und Halgard gepackt. Unter den anderen Gefangenen war daraufhin ein Tumult ausgebrochen. Wer immer die Kraft gehabt hatte, noch ein paar Schritte zu gehen, hatte versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen und zu entkommen. Ein heilloses Durcheinander war entstanden. Weitere Wächter waren herbeigelaufen, doch irgendwie hatte es Yilvina geschafft, ihnen zu entgehen.
Sie hatten das Lager schon ein gutes Stück hinter sich gelassen, als plötzlich dieser Kerl aufgetaucht war. Ein Krieger, der selbst unter Trollen ein Riese war. Seinen nackten Bauch hatte er mit den Abdrücken blutiger Hände geschmückt. Er hatte eine frisch geschnittene Keule in der Hand gehabt und war aus einem Wald heraus geradewegs auf sie zugekommen.
Yilvina hatte sie beide in den Schnee fallen lassen und den Troll aus dem Lauf heraus angegriffen. Eine ihrer Klingen hatte ihn getroffen. Der verwundete Troll hatte wie ein brünstiger Elch geschrien und war in die Knie gebrochen, eine Hand aufs Gemächt gedrückt. Yilvina hatte sich gerade zurückziehen wollen, als der Troll sie mit einem Rückhandhieb getroffen hatte. Der Schlag war mit solcher Wucht geführt, dass sie einige Schritt weit durch die Luft geflogen und danach nur noch mit Mühe wieder auf die Beine gekommen war. Ihre Linke hatte sie in die Seite gekrallt. Ein dünner Faden Blut war ihr von der Nase getrieft und hatte ihre Lippen benetzt. Eines ihrer Schwerter war irgendwo im Schnee verloren gegangen. Sie hatte getaumelt und Ulric zugerufen, dass er und Halgard davonlaufen sollten. Doch er war kein Feigling!
Zum Glück war auch der Troll nicht mehr auf die Beine gekommen. Als Yilvina das gesehen hatte, war sie mit ihnen fortgegangen. Die Elfe hatte sie tief in die Wälder geführt. Etliche Tage waren seitdem vergangen, doch das Gesicht dieses einen Trolls verfolgte den Jungen immer noch in seinen Albträumen. Unbändiger Hass hatte in seinen Augen gestanden. Er würde ihnen folgen, sobald seine Wunden es zuließen.
Ulric schüttelte sich, als könne er damit die Gedanken an den Trollkrieger abstreifen. Besorgt sah er zu der Elfe. Sie sah aus wie Kadlins zerzauste Strohpuppe. Krumm, das Haar wirr ... Irgendwie zerbrochen. Immer öfter musste sie sich, um Atem ringend, an einen Baum lehnen. Yilvina würde nicht mehr weit kommen. Jemand musste ihr helfen. Auch Halgard war längst am Ende. Blut zog sie mehr, als dass sie noch aus eigener Kraft ging. Sie brauchten dringend einen Lagerplatz. Einen Ort, wo es trockenes Holz gab und an dem sie ein Feuer anzünden konnten. Aber man durfte das Licht des Feuers nicht sehen. Luth allein wusste, wer noch alles durch die Nacht schlich. Vielleicht waren ihnen ja doch einige Trolle auf der Spur.
Ulric versuchte sich zu erinnern, was sein Vater ihm über ein gutes Nachtlager erzählt hatte. Was man alles beachten musste. In dieser Kälte sollten sie ein Feuer im Schutz von Felsen entzünden. So würde die Wärme zurückgeworfen. Im Winter konnte man an einem Feuer sitzen und trotzdem den Frostbrand bekommen, wenn man den Lagerplatz nicht klug wählte.
Der Junge sah sich verzweifelt um. Sie tasteten sich einen sanft abfallenden Hang entlang. Irgendwo links von ihnen musste ein Seitenarm des Fjords liegen. Rings herum waren Bäume. Hier gab es keinen Platz für ein Lager. Aber Yilvina und Halgard würden nicht mehr weit kommen. Er musste einen Platz für die Nacht finden! Er musste!
Ulric rang mit Tränen. Was sollte er tun? Wenn er doch nur ein wenig größer wäre! Dann würde er Halgard auf die Arme nehmen und sie einfach tragen. Und Yilvina könnte er holen, sobald er einen Platz zum Übernachten gefunden hätte. In den Geschichten der Skalden war das immer alles viel einfacher, dachte er wütend. Da hatten die Helden nie Probleme, ihre Jungfrau zu tragen.
Ein leichtes Flimmern zwischen den Bäumen lenkte ihn ab. Blut blieb abrupt stehen. Goldenes Licht rann wie Harz aus einem großen Baum. Und plötzlich war dort eine vertraute Gestalt. Gundar! Der Priester lächelte, breitete die Arme aus und kam ihnen entgegen. Blut begrüßte ihn mit einem freundlichen Bellen. »Was ist das?«, fragte Halgard ängstlich. »Ich spüre ein Licht.«
Die Elfe trat neben die Kinder. Sie hielt ihr Schwert zum Angriff bereit.
»Das wirst du nicht brauchen, holde Maid. Du könntest mich nicht verletzen, aber das musst du auch nicht.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, ging der Priester durch einen Baum hindurch.
»Bist du ein Geist?«, fragte Ulric misstrauisch und legte einen Arm beschützend um Halgard.
»Zunächst einmal bin ich euer Freund. Und du kannst mir glauben, Junge, ich habe dich nicht den weiten Weg vom Hang hinab bis zum Haus deiner Mutter getragen, um nun mitzuerleben, wie du erfrierst.« Gundar blieb in einigen Schritten Abstand stehen.
Ulric fühlte, wie ihm ein dicker Kloß in den Hals stieg. »Du bist meinetwegen gestorben, nicht wahr?« Er biss sich auf die Lippen, um seine Tränen zu unterdrücken.
»Nein.« Gundar schüttelte gutmütig den Kopf. »Ich bin gestorben, weil Luth meinen Lebensfaden zu Ende gesponnen hatte. Du hast keine Schuld. Es war die Entscheidung des Schicksalswebers.« Er zwinkerte mit den Augen. »Man spricht bestimmt noch oft von mir, nicht wahr?« Ulric nickte.
»Ich hatte einen guten Tod«, erklärte der Alte. Dann sah er an ihnen vorbei den Hang hinauf. »Eure Lebensfäden sind aus dem Webmuster geraten. Luth hat mir gestattet zurückzukehren, um das Bild, das er spinnt, zu retten. Ihr werdet verfolgt. Ein schrecklicher Feind hat eure Spur aufgenommen. Es gibt nur einen einzigen Ort, an dem er euch nicht töten kann.«
»Ich beschütze die Kinder«, stieß Yilvina hervor.
Gundar sah sie traurig an. »Ich muss dir nicht sagen, wie es um dich steht, Elfenmaid. Vertrau mir. Schließlich habe ich auch dich gerettet, als ich mich dem Geisterwolf stellte.«
»Ich werde mit dir gehen«, sagte Halgard leise. »Ich ... Ich kann dich sehen.« Das blinde Mädchen blickte unverwandt in die Richtung, in der die Erscheinung des Priesters zwischen den Bäumen leuchtete.
»Ich komme auch mit«, entschied Ulric. Er machte sich große Sorgen um Halgard. Seine Freundin zitterte vor Erschöpfung. Er drückte sie fest an sich. »Müssen wir weit gehen?«
»Nur zum Fjord hinab. Kommt jetzt.«
Yüvina schien noch immer misstrauisch zu sein, aber Ulric wusste, dass es richtig war, dem Priester zu folgen. Er kannte Gundar sein ganzes Leben lang, und der alte Mann war immer gut zu ihm gewesen. Ihm konnte man immer trauen, sogar als Geist.
Gundar führte sie ein Stück weit den Hang entlang, bis zu einem breiten Windbruch. Dort lagen dutzende Bäume, gefällt wie Soldaten in der Schlacht. Manche waren mitten entzwei gebrochen, andere samt ihrem Wurzelwerk aus dem Boden gerissen. Sie lagen kreuz und quer durcheinander und bildeten ein unpassierbares Dickicht aus totem Holz. Unter einem Stamm glänzten zwei Augen wie polierte Goldstücke. Ein leises Knurren erklang, doch eine Geste des Priesters genügte, und was immer dort unter dem Stamm lauerte, schwieg.
Ulric tastete nach seinem Gürtel. Er wünschte, er hätte den Elfendolch noch! Endlich erreichten sie das Ufer des Fjords. Selbst hier lagen noch umgestürzte Bäume. Sie waren ins Eis eingeschlossen. Gundar glitt durch einen Stamm hindurch. Ulric musste sich bücken, um ihm zu folgen. Für Halgard war es eine Qual. Sie verfing sich mit ihrem Haar im Wurzelwerk, und es dauerte eine Ewigkeit, bis Ulric sie wieder befreit hatte.
Etwas rollte den Hang hinab. Steine und Schnee schlugen hinter ihnen auf das Eis.
»Schnell jetzt!«, drängte Gundar. »Sonst war alles vergebens. Es ist nicht mehr weit!« Dicht hinter dem Windbruch endete der Seitenarm des Fjords vor einer steilen Felswand. Das Eis knackte hier bedrohlich unter ihren Füßen.
»Halt!«, rief Yilvina. »Es wird uns nicht tragen. Unter dem Wasser muss eine Quelle in den Fjord münden. Die Strömung verhindert, dass das Eis hier dick genug wird. Wenn wir weitergehen, wird es brechen. Was sollen wir hier, Priester?«
Blut legte den Kopf schief. Der große Hund blickte verwirrt zwischen Gundar und der Elfe hin und her. »Genau das will ich«, sagte der Priester ernst. »Ihr sollt durch das Eis brechen.« Er deutete in Richtung der Steilwand. »Dort liegt eine Höhle. Ihr Eingang ist hinter einem Felsvorsprung unter Wasser verborgen. Dies ist der einzige Weg in die Höhle. Dort werdet ihr überleben. Niemand kennt diesen Ort.«