»Überleben? Ins kalte Wasser zu stürzen kann einen binnen eines Herzschlags töten, Priester.« Yilvina hatte wieder drohend ihr Schwert erhoben. »Bist du noch bei Sinnen? Du sagst, du liebst den Jungen? Wie kannst du ihn in solche Gefahr bringen?«
»Ich kenne den Lauf eurer Schicksalsfäden. Das Wasser wird euch nicht töten. In der Höhle liegt etwas angeschwemmtes Treibholz. Genug, um an einem Feuer die Kleider zu trocknen. Der Rauch kann durch einen engen Felskamin abziehen. Dort unten seid ihr gut geschützt. Bleibt hier draußen, und ihr werdet entweder von eurem Verfolger getötet, oder die Kälte bringt euch um.«
»Ich vertraue Gundar.« Ulric wurde bei dem Gedanken an das eisige Wasser ganz mulmig.
»Und ich komme mit dir, wohin auch immer du gehst«, sagte Halgard und griff nach seiner Hand. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an.
Ulric zögerte. Mit seiner Freundin an der Seite war es plötzlich etwas ganz anderes, auf das dünne Eis hinauszugehen.
»Und das kalte Wasser wird uns allen nichts anhaben?«, fragte er zweifelnd.
»Nein. Aber ihr müsst in der Höhle warten, bis sie euch finden.«
»Ich denke, niemand kennt diesen Ort«, warf Yilvina ein.
»Wie soll man uns dann finden?«
»Ich darf euch nichts über eure Zukunft verraten«, entgegnete Gundar. Seine Stimme klang jetzt sehr müde. »Das ist eines der ehernen Gesetze des Schicksalswebers. Ich habe euch schon viel zu viel gesagt.« Ulric machte einen Schritt nach vorn. Es knackte bedrohlich. Er sah, wie sich ein Netz dünner Risse durch die Eiskruste fraß. Er atmete tief ein. Ulric erinnerte sich, wie sein Vater ihm einmal eine ordentliche Tracht Prügel mit einem Lederriemen verpasst hatte, weil er ein goldgefasstes Trinkhorn in die Glut der Feuerstelle geworfen hatte. Er wünschte sich, es wäre noch einmal dieser Nachmittag in der warmen Halle ihres Hauses. Alles wäre besser, als hier zu sein. Einen Herzschlag lang schloss er die Augen. Wenn er es sich genug wünschte, dann wäre alles vielleicht nicht geschehen. Er würde auf dem schoss seines Vaters liegen und seine wohl verdiente Tracht Prügel bekommen.
»Ulric«, erklang die freundliche Stimme des Priesters. Gundar sah ihn traurig unter seinen buschigen Augenbrauen hinweg an. »Es muss sein.«
Der Junge atmete noch einmal tief ein. Dann machte er einen entschlossenen Schritt nach vorn. Halgard hielt sich eng an ihn geklammert.
Das Geräusch des berstenden Eises wurde drohender. Alles in Ulric sträubte sich gegen den nächsten Schritt. »Tu es nicht«, flüsterte die Elfe.
Er setzte einen Fuß vor. Trotzig trat er auf das Eis. Er wollte es endlich hinter sich bringen. Wasser stieg durch die Spalten auf die Eisfläche. Plötzlich gab es ein lautes Krachen, wie von splitterndem Holz. Mit einem Ruck wurde Ulric von den Füßen gerissen. Halgard stieß einen spitzen Schrei aus. Blut kläffte wie verrückt.
Eisige Kälte griff nach dem Jungen. Jetzt schrie auch er. Seine schweren Winterkleider sogen sich voll Wasser. Wie von einer unsichtbaren Hand wurde er tiefer gezogen. Er machte keinen Versuch, sich am gezackten Rand des Eislochs festzuhalten. Etwas Scharfkantiges stieß hart gegen seine Wange. Ulric hielt mit Mühe den Kopf über Wasser. Sein Blick suchte den Priester, doch Gundar war verschwunden.
Yilvina hatte sich flach auf das Eis geworfen und versuchte ihn mit ausgestrecktem Arm zu erreichen. Halgard klammerte sich an ihn. Ulrics Füße strampelten haltlos. Dann versank er. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Er hielt die Luft an. Blinzelnd öffnete er die Augen. Er fühlte sich steif wie ein gefrorener Salm. Halgard hielt sich mit beiden Händen an seinen Arm geklammert. Wo war Gundar? Etwas Dunkles glitt neben ihnen durch das Wasser. Blut! Er war ihnen gefolgt. Ulric streckte die Hand nach dem großen Hund aus, fand in dem nassen Fell aber keinen Halt. Plötzlich erstrahlte vor ihnen ein helles Licht. Gundar war wieder da! Du musst dich an Ulrics Gürtel festhalten, Halgard, damit er die Arme bewegen kann. Gundars Stimme war in seinem Kopf. Halgard hatte sie wohl auch gehört! Sie folgte den Worten des Priesters.
Rudere mit den Armen, Junge, und komm her zu mir.
Ulric war längst ganz steif vor Kälte. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihm aus. Er wollte atmen. Tu das nicht. Komm jetzt herüber zu mir. Du kannst das!
Ulric bewegte die Arme. Langsam, Zoll für Zoll, trieb er dem Priester entgegen. Halgard wand sich. Brannte auch in ihr dieses Feuer?
Schneller, Ulric.
Neben dem Priester klaffte ein dunkles Loch in der Felswand. Der Junge hielt darauf zu. Doch das Wasser um ihn schien fester zu werden. Seine Arme erlahmten. Er kam kaum noch voran. Das Feuer breitete sich in ihm aus. Er musste Luft holen! Das kalte Wasser würde die Flammen ersticken.
Ein Stoß traf ihn in den Rücken. Etwas schob ihn voran. Blut! Ulrics Kopf brach durch die Wasseroberfläche. Keuchend rang er um Atem. Die Luft milderte den Brand in seinen Lungen und ließ ihn langsam ganz verlöschen.
Gundar erschien. Das Licht, das den Priester umspielte, vertrieb die Finsternis. Glatter Felsboden erhob sich sanft ansteigend aus dem Wasser. Treibholz, bleich wie Knochen, lag dort.
Keuchend und unbeholfen mit den Armen rudernd, paddelte Ulric vorwärts. Halgards Zähne klapperten so sehr, dass sie nicht sprechen konnte. Ihre Lippen waren dunkel vor Kälte.
Mit letzter Kraft zog sich Ulric aus dem Wasser. Blut packte Halgards Mantel und half, sie hinauf ins Trockene zu zerren.
»Du musst das Treibholz zusammenschieben«, sagte der Priester. Jetzt war seine Stimme nicht mehr in Ulrics Kopf. »Beeile dich, Junge. Ich kann nicht mehr lange bleiben, um dir zu helfen. Und dann müsst ihr schnell eure Kleider ausziehen, sonst wird das Feuer euch nicht wärmen.«
Schlotternd vor Kälte packte Ulric einige Äste und schichtete sie übereinander. Es war nicht besonders viel Holz, das in der Höhle lag.
Gundar streckte seine Hand nach dem Holzstoß aus. Er schloss die Augen. Seine Stirn furchte sich in tiefen Falten. Flammen schlugen aus dem Holz. Sie waren winzig, leckten aber gierig an den dürren Ästen entlang. Ulric konnte zusehen, wie sie an Kraft gewannen. Im gleichen Maße verschwand die Erscheinung des Priesters. »Ich wünsche dir Glück«, hauchte Gundar mit ersterbender Stimme und wurde eins mit der Glut, die sich ins Holz fraß.
Blut schüttelte sich, und ein Schauer von Wassertropfen sprühte in das Feuer. Ein Teil der Flammen verlosch. »Weg!«, schrie Ulric. »Mach das nicht noch einmal.« In fliegender Hast suchte er dürre Ästchen an der Wassergrenze. Das Feuer verlor an Kraft.
»Bitte, Luth, lass es nicht ausgehen«, bettelte er. »Ich werde immer alles tun, was meine Mutter sagt. Aber lass es nicht verlöschen.« Er schichtete die kleinen Äste um die letzte Flamme, die noch übrig geblieben war. Einen bangen Augenblick hielt er den Atem an. Endlich gewann das Feuer wieder an Kraft. Und jetzt brannte es stärker als zuvor. Eine kräftige Flamme leckte am bleichen Holz entlang, wuchs und sprang auf andere Äste über.
Halgard drückte ihm schlotternd einen Kuss auf die Wange. Sie versuchte etwas zu sagen, doch das Klacken ihrer Zähne erstickte alle Worte.
»Du musst jetzt deine Kleider ablegen«, sagte Ulric zögerlich.
Unbeholfen streifte das Mädchen ihren Mantel ab. Der Junge drehte sich beschämt zur Seite. Er wusste, dass es sich nicht gehörte, einem Mädchen zuzusehen, wenn es sich auszog. Jetzt streifte auch er seine Kleider ab, bis nur noch die kurze Wollhose übrig war. Wie Eis klebte sie auf seinen Lenden, während er auf Armen und Brust die wohlige Wärme des Feuers spürte.
Halgard hatte sich ganz ausgezogen und kauerte dicht bei den Flammen. Ihre Haut war ganz runzelig. Die Arme und Beine des Mädchens sahen wie dünne Äste aus. Die Linie aus feinen Knochen malte sich unter der Haut ihres Rückens ab, und Rippen stachen durch ihr Fleisch. Sie rieb sich mit den Händen über die Arme.