Zögerlich streifte Ulric die kurze Hose ab. Jetzt erst fiel ihm ein, dass Halgard ihn ja gar nicht sehen konnte. Wie hatte er das vergessen können! Erleichtert setzte er sich neben sie. Auch Blut lag am Feuer. Der große Hund blickte ärgerlich zu ihm herüber. Feiner Wasserdampf stieg von seinem Fell auf. Mit einem tiefen Seufzer streckte er sich. Wie ein Welpe strampelte er mit den Pfoten und drehte sich auf den Rücken. Klirrend schlitterte etwas über den Stein. Ulric und Blut waren mit einem Satz auf den Beinen. Halgard stieß einen spitzen Schrei aus. »Was geschieht?«, rief sie ängstlich.
Die Elfe schob sich aus dem Wasser. Sie hatte ihr Schwert ans Ufer geschleudert. Ulric versuchte, ihr zu helfen. Es war zum Verzweifeln, wie schwer die zierliche Kriegerin war. Erst als Halgard ihm zu Hilfe eilte, schaffte er es, Yilvina ganz ins Trockene zu zerren.
Die Elfe redete in einer Sprache, die Ulric nicht verstand. Ihre Augen glänzten vor Fieber.
»Wir müssen sie auch ausziehen«, sagte Halgard. Mit vereinten Kräften zogen sie ihr das Kettenhemd über den Kopf. Das Mädchen tastete über Yilvinas Leib.
»Ich habe noch nie so weichen Stoff berührt«, sagte sie leise.
»Was für wunderbare Kleider muss sie tragen.« Ulric fand nichts Besonderes an der gepolsterten Jacke und dem Hemd, das die Elfe darunter trug. Er hütete sich aber, dies zu sagen. Schließlich wollte er Halgard nicht die Freude verderben.
Yilvinas Stiefel auszuziehen, war fast unmöglich. Wie eine zweite, dickere Haut schloss sich das Leder um ihre Schenkel. Fluchend mühte sich Ulric ab, während Halgard ihr ein letztes zartes Seidenhemd auszog.
Die Kleider der Elfe waren blutdurchtränkt. Yilvina stöhnte und krümmte sich vor Schmerz, als sie sie von dem Hemd befreiten, das mit den Krusten ihrer Wunden zusammengebacken war. Ein Knochen ragte ihr seitlich aus dem Leib. Dort sickerte jetzt wieder Blut durch den dicken Schorf. Die ganze Brust und der größte Teil ihres Bauchs waren rot und blau verfärbt. Ihr Leib wirkte seltsam verformt. Etwas verwirrte Ulric, als er die schrecklichen Prellungen betrachtete. Er musste eine ganze Weile hinsehen, bis er begriff, was es war. Auf der linken Seite ihrer Brust zeichneten sich keine Rippen mehr ab. Ungläubig tastete der Junge über die zerschundene Haut. Knochen konnten doch nicht einfach so verschwinden! Er spürte etwas Festes im Fleisch, das sich leicht bewegen ließ.
Yilvina stöhnte auf. Sie sah Ulric an, und Tränen standen ihr in den Augen.
»Entschuldige«, flüsterte der Junge.
Die Elfe nickte schwach. Ihre Lippen zitterten. Ulric musste sich dicht über sie beugen, um verstehen zu können, was sie sprach. »Mein Schwert ... Gib es ... mir.«
»Was will Yilvina?«, fragte Halgard.
»Ihre Waffe.«
»Was nutzt ihr die?«
»Das verstehst du nicht!«, entgegnete Ulric entschieden. »Sie ist eine Kriegerin. Es wird ihr besser gehen, wenn ihr Schwert neben ihr liegt.«
»Das verstehe ich wirklich nicht«, entgegnete Halgard gekränkt. »Genau genommen kommt es mir sogar wie ziemlicher Unsinn vor.«
Ulric antwortete darauf nicht. Er wollte jetzt keinen Streit. Im Übrigen setzte sich Halgard meistens durch, wenn sie stritten. Sie fand einfach die besseren Worte, und er fühlte sich hinterher immer wie ein ausgemachter Dummkopf. Manchmal gingen ihm noch Stunden nach dem Gezänk Halgards Worte durch den Kopf. Er legte sich alle möglichen Antworten zurecht. Aber dann war es zu spät. Sie stritten nur selten zweimal über dieselbe Sache.
Der Junge blickte sich in der Höhle um. Es war Yilvinas Wunsch, ihr Schwert zu bekommen. Da gab es nichts mehr zu bereden!
Der Unterschlupf war nicht sonderlich groß. Ulric konnte gerade einmal aufrecht stehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Sie waren von grauem Felsgestein umgeben, durch das weiße und rostfarbene Adern liefen. Die Höhle war unregelmäßig geformt. Es gab einige Nischen, in die kaum das Licht des Feuers drang.
Der Junge sah das Schwert nahe der rückwärtigen Wand am Boden liegen. Müde ging er hinüber. Alles, was er noch wollte, war, sich am Feuer auszustrecken und zu schlafen.
Das unstete Licht ließ seinen Schatten grotesk verzerrt über die unregelmäßige Höhlenwand tanzen. Ulric bückte sich. Dicht vor ihm wich die Wand zurück. Das Wasser hatte eine längliche Nische aus dem Fels gewaschen. Und dort war etwas... Jemand ... Hastig griff Ulric nach dem Schwert. Ein Krieger in grüner Rüstung lag dort und schlief!
»Ist etwas?«, fragte Halgard.
»Still!«, zischte Ulric. Er spähte angestrengt ins Halbdunkel der Nische. Der Schläfer bewegte sich nicht. Langsam gewöhnten sich die Augen des Jungen an die Dunkelheit. Der Mann trug einen grünen Flügelhelm. Sein Gesicht war hinter breiten Wangenklappen verborgen. Eine grüne Brustplatte reichte dem Krieger bis zu den Hüften. Seine bleichen Hände hielten ein kostbares Schwert mit breiter Klinge umklammert. Er trug zerschlissene Hosen aus einem seltsam gemusterten Stoff. Das Leder der Schuhe war ganz verschrumpelt. Mit angehaltenem Atem beugte sich Ulric weiter vor, um dem Mann ins Gesicht zu blicken. Er hatte nie von einem Krieger in grüner Rüstung gehört! So jemand musste doch auffallen!
Ulric kroch bis dicht an die Nische und zwängte seinen Leib hinein. Sein Herz klopfte wie rasend. Er durfte den Schläfer nicht berühren! Luth allein wusste, was das für ein Kerl war. Aus dem Fjordland kam er jedenfalls nicht! Niemand hier trug so seltsame Rüstungen.
Der Junge verdrehte den Kopf. Er musste sich mit einer Hand gegen die Decke der Nische abstützen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Noch ein paar Zoll. Endlich! Das Gesicht war blass ... Nein! Erschrocken zuckte Ulric zurück und schlug mit dem Kopf gegen die Decke. Er geriet aus dem Gleichgewicht und stürzte quer über den Leib des Mannes. Doch der würde nicht erwachen. Nie mehr. Unter dem Helm verbarg sich ein Totenschädel.
Blut war aufgesprungen und eilte an Ulrics Seite. Neugierig schnuppernd drängte er sich in die Nische, und Ulric hatte seine liebe Mühe, den großen Hund von dem Toten fern zu halten. Vorsichtig über den Boden tastend, kam auch Halgard herbei. Sie ließ sich den Toten genau beschreiben.
Jetzt entdeckte Ulric seitlich in der Brustplatte zwei Löcher. In einem steckte noch ein verrotteter Holzschaft. An die Decke der Nische war etwas mit fast verblichener, brauner Farbe gemalt. Eine Spinne! Das Zeichen Luths. »Und seine Rüstung ist ganz grün?«, fragte Halgard unvermittelt.
»Ja.«
»Nimm einen Stein und kratz einmal daran.«
Ulric traute seine Ohren kaum. Was war das wieder für eine Idee? Darauf konnten nur Mädchen kommen! »Tust du es für mich?«, fragte Halgard.
Der Junge seufzte. Ihm war kalt. Er wollte am liebsten zurück zum Feuer. Und er musste Yilvina ihr Schwert bringen. Vorsichtig nahm er die Elfenklinge und schabte damit über die Brustplatte.
»Und?«, drängte Halgard.
Ulric kniff die Augen zusammen. »Da ist etwas Goldenes unter der grünen Farbe«, sagte er staunend. »Bronze«, erwiderte das Mädchen triumphierend. »Ich hatte es mir gedacht.«
»Was?«, fragte Ulric gereizt. Sie schaffte es wieder einmal, dass er sich ausgesprochen dumm vorkam. »Das ist König Osaberg«, erklärte Halgard ehrfürchtig.
»Niemals!«, entgegnete Ulric. »Osaberg liegt auf dem Grund des Fjords. Du kennst wohl die Geschichte nicht richtig.«
Das Mädchen ließ sich nicht beirren. »Er muss so wie wir durch das Wasser in die Höhle geraten sein. Hier hat er sich vor seinen Feinden versteckt. Er wollte ruhen. Aber er war zu schwer verletzt. Dann ist er gestorben.«
»Das ist irgendein Krieger«, entgegnete Ulric trotzig. »Nein. Luth hat ihm einen Helm mit Flügeln geschenkt und der König der Kobolde ein Schwert, das niemals rostet und dessen Schneide nie stumpf wird.«
Irgendwie mochte Ulric dem Mädchen nicht gönnen, dass es Recht hatte. Er hatte sich Osaberg immer als einen großen, starken Krieger vorgestellt, mit langem Haar, der auf dem Grund des Fjords ausgestreckt lag und schlief. Er war ein Held, der darauf wartete zurückzukehren. Nicht nur ein Haufen Knochen. Ulric stand auf und ging zum Feuer hinüber. Er legte Yilvinas Schwert dicht neben die schlafende Elfe. Würde auch sie nicht mehr erwachen?, fragte er sich beklommen.