Der Junge atmete erleichtert auf. Dann sammelte er die restlichen Äste und schürte das Feuer. Als die tanzenden Flammen die Dunkelheit wieder bis in die hintersten Winkel der Höhle zurückdrängten, kniete er sich neben Yilvina. Sie atmete nur flach. Er wusste nicht, wie er der Elfe helfen konnte. Einen Schnitt hätte er verbinden können. Aber das hier ...
Schließlich zog er Yilvina mit Halgards Hilfe bis dicht ans Feuer. Den Troll vermochten sie beide nicht zu bewegen. Er war schwer wie ein Felsblock. Nach mehreren vergeblichen Versuchen ließen sie sich auf der anderen Seite des Feuers nieder, so weit wie möglich von dem Toten entfernt.
Blut kauerte zu Ulrics Füßen. Er leckte seinen Hinterlauf und winselte leise.
»Ich habe Hunger«, sagte Halgard.
Der Junge hatte noch immer den Geruch des verbrannten Trollfleischs in der Nase. Er konnte nichts essen. Er kramte in der ledernen Jagdtasche der Elfe, fand aber nur ein hartes Stück Käse. Er reichte es dem Mädchen. »Was isst du?«, wollte Halgard wissen.
»Ich hab keinen Hunger.«
Halgard legte den Käse vor sich auf den Felsboden. »Wir teilen, sobald du Hunger bekommst.« Ihre blinden Augen starrten in seine Richtung. Sie sah unheimlich aus, mit ihrem weißen Haar und der faltigen Haut.
Lange Zeit lauschten sie still auf das Knistern der Flammen.
»Diese Höhle ist ein Grab, nicht wahr?«, sagte das Mädchen schließlich. »König Osaberg, der tote Troll, Yilvina liegt im Sterben ...«
»Aber wir leben noch«, erwiderte Ulric hitzig.
»Wie viel Holz ist noch da?«
»Genug, um das Feuer ein paar Stunden in Gang zu halten.« Der Junge dachte an die Dunkelheit, die dann folgen würde. Der Gedanke machte ihn unruhig. Er hatte keine Angst vor der Finsternis! Er mochte sie nur nicht.
»Wenn wir hier bleiben, dann werden wir verhungern. Gehen wir durch das Wasser, wird uns die Winterkälte töten«, sagte Halgard ruhig.
»Wir werden Blut schicken. Er wird Hilfe holen.« Ulric kraulte das dichte Nackenfell des Hundes. »Nicht wahr, Blut? Du ruhst dich noch ein wenig aus, und dann machst du dich auf die Suche nach Mutter oder nach Kalf.«
Von Ehre und vollen Bäuchen
Birga nahm den Bernstein vom Hals des sterbenden Menschenweibchens. In ihren lidlosen Augen stand der Wahnsinn. Die Schamanin hatte ihr die Haut vom Gesicht gezogen. Trotzdem lächelte die junge Frau Orgrim an. Der Herzog wandte sich ab. Eigentlich machte es ihm nichts aus, dabei zuzusehen, wenn Gefangene gefoltert wurden. So war das nun einmal. In gewisser Weise zollte man ihnen dadurch Respekt. Sie bekamen Gelegenheit, sich von der Schande, nicht bis zum Tod gekämpft zu haben, reinzuwaschen. Wer unter der Folter tapfer war, der gewann die Gunst seiner Ahnen zurück. Das Menschenweibchen war tapfer gewesen!
»Was hat sie dir gesagt?«, wollte Dumgar wissen. Birga deutete zu den anderen Leichen. »Auch nicht mehr als diese dort. Wie es scheint, ist Emerelle schon viele Wochen in der Welt der Menschlinge versteckt.« Der Herzog vom Mordstein stocherte mit einem dünnen Knochen in seinen Zähnen herum und spuckte aus. »Warum wusste Skanga das nicht?«
Die Schamanin schob den Bernstein des Menschenweibchens in eine Tasche, die sich zwischen den Falten ihres Kleides verbarg, und wischte sich dann in aller Ruhe die blutigen Hände im Schnee sauber. Mit jedem Augenblick, den sie ihre Antwort hinauszögerte, wurde die Stille bedrückender. Dumgar warf seinen Zahnstocher fort und spielte nervös mit einem Lederriemen, der von seinem Schurz hing. Der Trollfürst trug nur ein Fell um die Hüften gewickelt. Barfuß, wie die meisten seiner Krieger, stapfte er durch den Schnee.
»Also, Birga. Wirst du mir antworten?«
»Sind die Taten Skangas und unseres Königs dir nicht Antwort genug? Besteht dein dicker Schädel nur aus Knochen? Hast du nicht verstanden, was geschehen ist? Wer hat uns hierher geschickt? Skanga und Branbart! Und wen finden wir? Emerelle. Glaubst du, sie hätten nicht gewusst, dass die Tyrannin hier ist? Hältst du das alles nur für einen Zufall oder eine Fügung des Schicksals? Sie wollten, dass wir die Tyrannin fangen. Du solltest Gelegenheit haben, dir unsterblichen Ruhm zu erwerben. Deshalb bist du hier. Nicht um nur ein paar windschiefe Hütten zu verbrennen!«
Der Herzog vom Mordstein strich sich über die Stirn. »Sie hätten mir sagen sollen, was sie von mir wollen.«
»Warum? Damit du vor Angst schlotternd in den Krieg gegen die Menschlinge ziehst? Denk an die Feste nach deinen Siegen. Hättest du unbeschwert feiern können, wenn du gewusst hättest, dass die Tyrannin hier ist? Hättest du wie ein jagender Wolf den Feinden nachgesetzt und sie nie zur Ruhe kommen lassen? Du kennst die Antwort!«
Orgrim fand Gefallen daran, wie die Schamanin mit Dumgar spielte. Aber er glaubte ihr kein Wort. Wenn Skanga wirklich gewusst hätte, wo Emerelle war, dann hätte sie ihn durch den Albenstern auf dem Berg ganz am Ende des Fjords geschickt. Zehn Krieger hätten ausgereicht, die Tyrannin dort zu fangen.
Dumgar begann unruhig auf und ab zu gehen. »Das ist alles nicht richtig so!« Er sah zu Emerelle. Sie war gefesselt und kauerte im Windschatten der zerstörten Palisade. »Wir sollten sie umbringen, gleich jetzt. Sie ist ein Übel, das ausgelöscht sein muss. Spürt ihr das denn nicht? Sie sinnt auf unseren Tod!«
Birga lachte.
»Hast du das Fleisch von Hasen gegessen, Dumgar? Sieh sie dir an, die Tyrannin. Ihre Hände sind gebunden, sodass sie keinen Zauber weben kann. Ein Knebel steckt in ihrem Mund, sodass ihr die Worte der Macht unausgesprochen im Hals stecken bleiben. Und ihre Augen sind verbunden, damit ihre Blicke kein Unheil anrichten. Wovor fürchtest du dich, Dumgar? Gedanken an Rache, das ist alles, was der Tyrannin geblieben ist!«
Auf Birgas Worte folgte erneut Stille. Orgrim betrachtete die Elfenkönigin. Sie war so klein und zerbrechlich! Es schien ihm unvorstellbar, dass sie solche Macht besaß. Sie hatte ihn einst ermorden lassen. Orgrim hatte geglaubt, wenn er ihr jemals begegnen würde, dann würde die Erinnerung an die Nacht auf der Shalyn Falah und an all seine vergangenen Leben zurückkehren. Doch die Tore zu jenen verwelkten Tagen blieben fest geschlossen. Vielleicht war es besser so. Was kümmerte einen Baum das Laub des Vorjahrs?
»Spürt ihr nicht das Böse, das ihr anhaftet?«, murmelte Dumgar. Er kniete sich neben der Tyrannin in den Schnee. Seine Hand tastete nach dem Steinmesser an seinem Gürtel.
»Du weißt, warum Branbart sie lebend haben will. Sie soll auf die Shalyn Falah. Und sie soll fliegen, den Abgrund umarmen, so wie wir einst. Was glaubst du, was Branbart tun wird, wenn er erfährt, dass du die Tyrannin getötet hast?«
Dumgar stand auf. Wut brannte in seinen Augen. »Du drohst mir?«
Orgrims Hand glitt wie zufällig zu dem schweren Streithammer an seinem Gürtel. »Ganz im Gegenteil, Dumgar. Ich mache mir Sorgen um dich. Ich versuche mir vorzustellen, was Branbart tun wird, wenn er vom Ableben der Tyrannin erfährt.«
Er stellte sich vor, diesem Narren den Schädel einzuschlagen. Nein! Er sollte sich beherrschen! Er musste Dumgar nur machen lassen. Der war dazu geboren, in Schwierigkeiten zu geraten, wenn man ihn nicht aufhielt.
Der Herzog blickte zu den toten Menschen, die an die zersplitterten Pfähle gebunden waren. »Vielleicht gibt der König dir ja Gelegenheit, deine Ehre als Krieger wieder reinzuwaschen, indem er dich Birga überlässt. Der Schmerz wird dich läutern, sodass deine Seele unbefleckt ist, wenn sie sich wieder in Fleisch kleidet.«
Dumgar folgte seinem Blick. Er strich sich nervös über das Kinn. »Also gut. Dann bringen wir sie zurück. Führe uns zum nächsten Albenstern, Birga! Wir gehen in die Snaiwamark.«
»Der nächste große Stern liegt bei dem Dorf, das Orgrim zerstört hat«, erklärte die Schamanin. »Von dort können wir sicher heimkehren. Wir werden drei oder vier Tage brauchen, um diesen Ort zu erreichen. Jedenfalls wenn das Wetter nicht umschlägt.«