Ulric tastete auf dem Boden herum, bis er seinen Gürtel fand. Seine Finger waren so steif vor Kälte, dass er Schwierigkeiten hatte, den Dorn der Gürtelschnalle durch eines der Löcher zu stoßen.
Halgard war plötzlich neben ihm. »Du würdest nicht ohne mich gehen, nicht wahr?«
Was dachte sie von ihm! Er war doch ihr Ritter! Er hatte sie vor einem Ungeheuer gerettet, so wie sie es früher immer gespielt hatten. »Nein«, sagte er fest. »Wenn du so etwas noch einmal sagst, dann rede ich nicht mehr mit dir. Das ist gemein, so was von mir zu denken!«
»Ich wollte dich nicht kränken ...« Sie begann zu weinen. »Es ist nur ... Ich hatte dich plötzlich nicht mehr gehört. Es war, als seiest du fort.« Ulric bekam ein schlechtes Gewissen. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie weinte. Er strich ihr über den Rücken. »Ich würde niemals irgendwohin ohne dich gehen. Niemals!« Er nahm ihre Hand und führte sie zu dem Gürtel.
»Halt dich jetzt gut fest. Lass mich nicht los, ganz gleich, was auch geschieht.« Vorsichtig tastete er sich durch die Dunkelheit. Ganz langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er das eisige Wasser erreichte. Es benetzte gerade eben einmal seine Zehen. Schaudernd blieb er stehen. »Wir atmen tief ein und dann laufen wir zusammen hinein, ja?«
»Ja!«, bekräftigte Halgard. »Ich zähle bis drei, dann tun wir es. Eins. Zwei.«
Ulric hatte das Gefühl, kleiner zu werden, so sehr zog sich alles in ihm zusammen, wenn er an das Wasser dachte.
»Drei!«
Er atmete tief ein. Halgard zog ihn. Sie begann früher zu laufen. Er war noch nicht bereit... Er schrie! Es fühlte sich an, als wolle das Wasser sein Fleisch zerschneiden. Es schüttelte ihn. Er rutschte auf dem glatten Fels aus, stürzte der Länge nach hin und zog Halgard mit sich. Fast hätte er unter Wasser noch einmal losgeschrien. Er stieß sich mit den Füßen ab. Seine Hände tasteten über glatten Fels. Endlich fand er den Durchgang. Graues Licht begrüßte ihn. Das gab neue Kraft. Er strebte dem Licht entgegen und stieß gegen das Eis. Verwirrt tastete er sich darunter entlang. Wo war die Stelle, an der sie durchgebrochen waren? Das Ausstiegsloch war verschwunden! Zugefroren!
Ulric nahm das kleine Messer und stach auf das Eis ein. Halgard neben ihm trommelte mit nackten Fäusten gegen das Verhängnis an. Sie begann zu bluten. Blassrosa Schlieren zogen unter der Eiskruste hinweg.
Seine Bewegungen wurden immer langsamer. Die Strömung packte sie beide und zog sie unter dem Eispanzer entlang. Deutlich konnte der Junge die Sonne am Himmel sehen. Es hatte etwas Tröstliches, nicht im Dunkeln zu sein.
Das Messer entglitt seinen tauben Fingern. Er fühlte sich müde. Noch einmal drückte er sein Gesicht gegen das Eis. Etwas griff nach ihm. Dunkle Arme umklammerten seine Füße. Astwerk, dachte er noch müde. Er blickte hinauf. Die Kälte spürte er jetzt nicht mehr. Es war angenehm, vom Wasser getragen zu werden. So schön war die Sonne! So fern! So fern ...
Eine blasse Kinderhand
Der große Hund war am Ende seiner Kräfte. Meile um Meile hatte er sie den Fjord hinab bis zu einem engen Seitenarm geführt, der von steilen Berghängen eingefasst war. Einer von Bluts Hinterläufen war bandagiert und mit zwei hölzernen Schienen abgestützt. Dennoch hinkte er zum Erbarmen. Immer wieder strauchelte er, und jedes Mal dauerte es ein klein wenig länger, bis er sich wieder hoch kämpfte.
»Er führt uns in die Irre«, sagte Lambi vorsichtig. Er mochte dieser Quälerei nicht länger zusehen. »Die Überlebenden sind hinauf in die Berge geflohen. Hier wirst du Asla und Kadlin nicht finden.«
»Du täuschst dich«, entgegnete der Herzog entschieden. Er schien wie im Fieber. Er war kaum noch der Mann, den Lambi einmal gekannt hatte. Nach der Schlacht hatte Alfadas die Leber des Trollfürsten an den Hund verfüttert. Es war ein uralter Brauch im Fjordland, auf diese Weise mit seinen Todfeinden abzurechnen, aber hätte Lambi es nicht mit eigenen Augen gesehen, er hätte niemals geglaubt, dass Alfadas, der Elfenjarl, dazu fähig wäre. Seit sie den Dolch in jenem Knochenhaufen am Ufer bei Honnigsvald gefunden hatten, war etwas in dem Herzog entfesselt worden, das Lambi Angst einjagte. Es war eine dunkle, zerstörerische Kraft. Vielleicht ein Erbe seines Vaters? Lambi kannte viele der Geschichten über Mandred. Er war ein Axtkämpfer, der mit der Wut eines Berserkers focht. Im Zorn vermochte ihn niemand mehr aufzuhalten, hieß es. Und so gebärdete sich jetzt auch Alfadas. Der kühle, stets selbstbeherrschte Anführer war verschwunden. Er hatte einem Getriebenen Platz gemacht, der ohne Rücksicht auf Verluste seinen Weg zu Ende ging. Seit drei Tagen hatte der Herzog kaum noch geschlafen. Eigentlich müsste er jeden Augenblick zusammenbrechen ...
Lambi blickte zurück. Die kalten Augen der Elfenkönigin nahmen ihn gefangen. Wusste sie, was hier vor sich ging? Warum hatte sie sich der kleinen Gruppe angeschlossen, die den Herzog auf seiner verzweifelten Suche begleitete? Vielleicht war sie es, die für die dunkle Seite von Alfadas verantwortlich war. Sie war so unnahbar, als sei sie in einen Panzer aus Eis eingeschlossen. Lambi hatte sie neben den Sterbenden auf dem Schlachtfeld stehen sehen. Bei den Maurawan, die ihnen in der letzten Schlacht den Sieg gebracht hatten. Der Tod der Elfen schien Emerelle nicht zu berühren. Ihr Volk begegnete dem Tod anders als die Menschen. Keiner schrie oder wimmerte. Selten stöhnte einer ihrer Verwundeten. Eine junge Frau, deren Leib durch einen Axthieb zerfetzt war, hatte sich vor Lambis Augen in silbernes Licht aufgelöst. Er hatte das auch bei den Kämpfen in Phylangan ein paar Mal beobachtet. Aber dass es auch hier, an seinem Fjord, zwischen altvertrauten Bergen und Wäldern geschah, machte es noch unheimlicher. Die Sterbende war in diesem Licht aufgegangen. Und trotz ihrer schrecklichen Wunden hatte sie zuletzt gelächelt. Den Krieger schüttelte es bei der Erinnerung. Die Elfen mochten ihre Waffengefährten sein, aber sie blieben Furcht einflößend.
An der Seite der Königin ging Ollowain. Sie beide trugen fleckenloses Weiß und wirkten in ihrer kalten Unnahbarkeit, als seien sie Kinder des Winters. Lambi begriff den Schwertmeister nicht. Ollowain kannte Alfadas besser als irgendein anderer. Er war der Ziehvater des Herzogs! Warum redete er ihm diesen Unsinn hier nicht aus? Wenn Alfadas sich nicht bald Ruhe gönnte, würde er sich noch umbringen! Und er musste über die Zukunft des Fjordlands entscheiden. Die überlebenden Jarls hatten nach der Schlacht so entschieden. Aber Alfadas wollte sie nicht anhören! Sie würden gewiss nicht ewig warten.
Außer den beiden Elfen waren nur Veleif Silberhand und der junge Jarl Oswin auf diese nutzlose Suche mitgekommen. Und sie alle wussten es eigentlich besser, denn sie hatten Überlebende gefunden, die bezeugten, dass Asla und die anderen Flüchtlinge aus Sunnenberg den Rentierpfad hinauf geflohen waren. Dort suchten jetzt Silwyna und alle, die noch Kraft genug hatten. Wie es schien, war auch ein größerer Trupp Trolle über den Rentierpfad geflohen.
Kraftloses Kläffen ließ Lambi aufblicken. Blut hatte einen breiten Eichenstamm erreicht, der im Eis gefangen war. Das Ufer hinauf erstreckte sich ein Windbruch. Der Wald sah aus, als habe ein riesenhafter, wütender Schnitter seine Sense geschwungen. Die Stämme waren zersplittert oder vollends entwurzelt. Sie lagen wild durcheinander. Manche waren hinab in den Fjord gestürzt. Blut zwängte sich unter einem Baumstamm hindurch, der halb aus dem Eis ragte. Nur wenige Schritt hinter der Barriere aus totem Holz endete der Seitenarm des Fjords vor einer steilen Felswand. Blut hatte sie in die Irre geführt! Nun war es ganz offensichtlich. Von hier gab es keinen anderen Weg fort als jenen unter den gestürzten Bäumen hindurch. Und auf dem Eis war nichts! Alfadas stützte sich mit einem Seufzer auf den Eichenstamm, während der große Hund sich weiter vorwärts schleppte.
»Unser Weg endet hier wohl«, sagte Lambi leise. »Luth allein weiß, was in den Hund gefahren ist. Lass uns nun reden, Herzog. Die Jarls wollen dir die Königskrone antragen. Und du wärst ein ausgemachter Trottel, wenn du nicht zustimmst. Das Fjordland braucht einen Mann wie dich. Einen weisen Herrscher, der zugleich stark genug ist, dass alle ihn anerkennen werden.«