Der Herzog machte eine abwehrende Geste. Er wollte mit niemandem sprechen. Am Ufer, ein Stück hinter dem Windbruch, war der Scheiterhaufen. Letztes Abendrot tauchte die Bergflanken in rosa Licht. Von Osten her breitete die Nacht ihre Schwingen aus.
Lambi erschien neben Ollowain. Der Elf hielt ihn zurück. Alfadas nickte seinem Ziehvater einen stummen Gruß zu. Dann sah er wieder hinüber zu dem Scheiterhaufen. So nahm man im Fjordland von Helden Abschied. Man gab sie nicht in die Erde zu den Würmern. Ihr Leib sollte Rauch und Asche werden und in den Himmel fahren. Auch war das Feuer ein Zeichen an die Götter, dass ein Held auf dem Weg in ihre Hallen war. Sie beobachteten die Welt und achteten auf diese Zeichen, so sagten die Priester. Alfadas wünschte, er könnte daran glauben. Dann wäre es leichter ... Wenn er wüsste, dass Ulric mehr als nur Rauch sein würde. Dass dort noch etwas war, jenseits des Lebens.
Wäre Gundar doch nur hier ... So oft hatte er den Priester verspottet! Gundar hätte sicher die richtigen Worte gefunden, um Ulric ...
Mit schweren Schritten trat Alfadas ans Ufer. Die Dämmerung ging rasch in Dunkelheit über. Er war es Ulric schuldig, den Scheiterhaufen in dieser Stunde zu entzünden. Dann waren die Götter besonders aufmerksam. Alfadas wusste, dass Ulric diese Geschichten geglaubt hatte. Er war ja noch ein Kind. Und er hatte Geschichten von Göttern, Helden und Trollen geliebt. Wieder biss sich der Herzog in die Hand. Nun war Ulric selbst nur mehr eine Geschichte.
Neben dem Scheiterhaufen steckte eine Fackel im Kies des Ufers. Ulrics letzte Bettstatt war aus Birkenstämmen geschichtet. Es roch nach frischem Harz. An der Seite seines Sohns ruhte Halgard. Ollowain hatte seinen weißen Umhang gegeben, um die nackten Kinder zuzudecken. Ihre Gesichter sahen so friedlich aus, als schliefen sie, die Arme über der Brust verschränkt.
Wie frisches Blut lag Halgards rotes Haar auf dem Umhang. Emerelle stand bei den Häuptern der Kinder. Sie trug ihr dünnes weißes Gewand. Ein auffälliger Stein ruhte auf ihrer Brust. Er sah aus wie ein schlichter Feldstein und hing an einem dünnen Lederband. Wind spielte mit dem offenen Haar der Herrscherin. Als sie Alfadas‘ Schritte auf dem Kies knirschen hörte, blickte sie auf. Dann trat sie wortlos zurück.
Dort, wo der Scheiterhaufen errichtet war, reichten blasse Birkenstämme bis zum Ufer hinab. Der Wind ließ ihre dünnen Äste wispern. Flüsternd sangen sie seinem Sohn ein Totenlied.
Alfadas blickte in Ulrics blasses Antlitz. Das Gesicht des Jungen war schmaler geworden, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Es wirkte härter. Die Lippen, die ihm so oft ein verschwörerisches Lächeln geschenkt hatten, waren zusammengepresst.
Der Herzog dachte an ihre spielerischen Duelle mit Holzschwertern, an Sommernachmittage, an denen sie auf einer Bergwiese lagen, den Wolken zusahen und er ihm Geschichten erzählte. Märchen und Sagas, die von einer Welt voller Wunder kündeten.
»Ich war in der Höhle und habe die Spuren gelesen.« Tränen erstickten Alfadas‘ Stimme. »Du hast sie geliebt, meine Geschichten, und du hast sie gelebt. Für dich war auch das Fjordland ein Ort, an dem tapfere Recken verwunschene Prinzessinnen retten. Ein Ort, an dem das Gute stets über das Böse triumphiert. Menschen wie du sind kostbar, mein Sohn; eben weil sie ihren Glauben an Wunder nicht verloren haben, vermögen sie den anderen Wunder zu schenken.« Er nahm den Elfendolch und schob ihn seinem Sohn unter die gefalteten Hände. »Luth hat dir nur einen kurzen Lebensfaden gesponnen, Ulric, aber du warst, was du dir immer erträumt hast: ein Held. Veleif wird gewiss eine Saga über dich dichten. Sie wird wohl so kurz wie dein Leben werden ... Aber ich glaube, die Menschen in diesem Land werden sich immer an dich erinnern, so wie sie sich an König Osaberg erinnern. Du bist ausgezogen, deine Prinzessin zu retten, und du hast einen Troll erschlagen — in einem Alter, in dem andere Kinder Steckenpferde reiten. Halgard und du, ihr seid euren letzten Weg gemeinsam gegangen.« Alfadas stockte, seine Stimme versagte ihm. »Ihr ...«
Etwas, das König Horsa ihm einmal gesagt hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Du weißt ja, unsere Heldengeschichten enden immer tragisch und blutig. So ist das im Fjordland.
»Ich wünschte, du wärst nicht im Fjordland geboren worden.«
Goldene Birkenpollen tanzten im letzten Dämmerlicht. Alfadas senkte die Fackel. Das Holz des Scheiterhaufens war voller junger Triebe. Es würde nicht richtig brennen. Noch während Alfadas die bleichen Stämme ansah, entrollte sich ein Blatt an einem der frischen Triebe. Er blickte auf. Die Luft war erfüllt von goldenem Blütenstaub. Frisches Grün schmückte die Birken am Ufer, und sie standen in voller Blüte ... Mitten im Winter!
»Wirf die Fackel fort«, sagte Emerelle sanft. »Du wirst sie nicht brauchen. Das Lebenslicht der Kinder war nicht ganz verloschen. Ein letzter Funke war geblieben. Ich habe ihnen von meinem Licht gegeben. Sie werden zurückkommen aus dem Dunkel. Gib ihnen nur ein wenig Zeit.«
Die Königin wirkte erschöpft. Im schwindenden Licht sah Alfadas Fältchen um ihre Augen, die er nie zuvor bemerkt hatte. Sie strich über den schlichten Stein auf ihrer Brust. »Du hattest Recht, Alfadas. Menschen, die den Glauben an Wunder nicht verloren haben, vermögen manchmal anderen Wunder zu schenken. Nun leg dich nieder und ruhe. Ich werde über deinen Schlaf wachen.«
Der König
Voll banger Hoffnung blickte Alfadas im schwindenden Abendlicht den Rentierpfad hinauf. Zehn Tage waren seit der Schlacht mit den Trollen vergangen. Er war mit den Kindern nach Sunnenberg zurückgekehrt. Ulric und Halgard ging es gut. Zu seiner Überraschung war Emerelle geblieben. Sie kümmerte sich um die Kinder, aber auch um andere Verletzte und Gebrechliche. Sie hatte sich verändert. Noch immer wirkte sie unnahbar, aber er hätte niemals gedacht, dass sie sich in stinkende, überfüllte Flüchtlingsquartiere begeben würde, um alten Frauen die Gicht zu nehmen, Kindern erfrorene Zehen zu retten und die Wunden seiner Krieger zu schließen. Von überall her kamen die Überlebenden des Trollkriegs nach Sunnenberg, Menschen, die außer dem nackten Leben alles verloren hatten. Erst allmählich zeigte sich, wie schrecklich der Heerführer der Trolle gewütet hatte. Alle Städte und Dörfer, die nördlich von Gonthabu lagen, waren verbrannt. Überall entlang der Ufer fanden sich Schädelstätten wie jene in Honnigsvald, in der man Ulrics Dolch gefunden hatte. Und niemand wusste zu sagen, wie viele Überlebende auf der Flucht waren. Hunderte waren auf dem Fjord und in den Wäldern erfroren. Alfadas hatte Reiter und Schlitten ausgesandt, um nach Flüchtlingen zu suchen. Der Herzog blickte auf das Tal hinab. Die ersten Lichter brannten. Frierende drängten sich um Feuer im Schnee. Wie ein Flickenteppich erstreckten sich die ärmlichen Behausungen der Verlorenen entlang des Rentierpfads. Sie waren aus allem gebaut, was greifbar war. Aus Segeltuch, alten Decken und miteinander verflochtenen Tannenzweigen. Manche hatten Wände aus Schnee. Viele bestanden aber nur aus einem Dach. Sie waren nicht geeignet, einem Winter zu trotzen, der noch viele Wochen dauern würde.
Auf Alfadas‘ Befehl hin waren alle Kranken und Verletzten in den wenigen festen Häusern von Sunnenberg untergebracht. Auch die Alten und Kinder hatten warme Plätze bekommen.
Obwohl das Dämmerlicht nun immer schneller der Dunkelheit wich, hallte das Tal wider vom rhythmischen Klang der Äxte. Vier Tage nach der Schlacht auf dem Eis war Orimedes mit einem Heerzug aus über tausend Kentauren über den Fjord zu ihnen gestoßen. Sie kamen zu spät, um die Trolle zu vertreiben, aber gerade recht, um den Kampf gegen Winter und Elend aufzunehmen. Großzügig teilten sie ihre Vorräte mit den Menschen. Seit ihrer Ankunft litt niemand mehr Hunger. Anfangs hatten viele Flüchtlinge die Pferdemänner mit Scheu, ja sogar mit unverhohlener Angst betrachtet. Zu fremd waren die riesigen Gestalten, halb menschenähnlich, halb Pferd. Doch mit ihrer rauen Art waren sie den Fjordländern viel ähnlicher als etwa die Elfen. Sie halfen, wo immer sie konnten. Orimedes hatte Jäger in die Wälder geschickt, um die Vorräte mit Wildbret zu ergänzen. Der weitaus größte Teil der Kentauren aber half, neue Hütten aus Fichtenholz zu errichten. Sieben schlichte, fensterlose Häuser wurden jeden Tag fertig. Sie schufen mehr Unterkünfte, als neue Flüchtlinge kamen, und bald würde der Flickenteppich der Zeltstadt verschwinden.