Emerelle hatte Yilvina ins Herzland geschickt, um von Meister Alvias Lebensmittel und Kleidung zu fordern. Die Elfenkriegerin war dank der Zaubermacht der Königin schnell von ihren Wunden genesen. Von ihr wusste Alfadas um all die Schrecken der Flucht seines Sohnes. Wie würde ihn das Erlebte verändern?
Schon jetzt nahmen die Geschichten, die man sich unter den Flüchtlingen über Ulric erzählte, märchenhafte Züge an. Es hieß, er habe mit dem Schwert des toten Königs Osaberg einen Trollfürsten erschlagen und so seiner Jungfer und einer Elfe das Leben gerettet. In den Geschichten hieß es, dass Ulric und Halgard auf dem Rücken Bluts durch die Wälder geritten seien, beschützt von den Geistern der Bäume. Andere erzählten, der Geist König Osabergs sei den Kindern erschienen, um sie zu seinem verborgenen Grab zu führen und so vor einem Schneesturm zu retten.
War es wirklich Osaberg, der in der Höhle lag? Der Flügelhelm, die Bronzerüstung und das prächtige Schwert, all das passte zu den Sagen um den toten König. Aber einen wirklichen Beweis würde es wohl niemals geben. Alfadas machte sich Sorgen um Ulric. Es war nicht gut, schon mit sieben Jahren als ein legendärer Held gefeiert zu werden. Was sein Leben wohl bringen mochte? Gut, dass er Halgard an seiner Seite hatte. Das Mädchen würde Ulric schon den Kopf zurechtrücken, wenn er allzu übermütig wurde. Alfadas hatte die Geschichte von dem Geisterhund gehört, der Halgard ihre Jugend gestohlen hatte. Emerelle hatte all dies ungeschehen gemacht. Und sie hatte noch mehr getan: Sie hatte Halgard das Augenlicht geschenkt. Das Mädchen war von Geburt an blind gewesen. Jetzt gewöhnte sie sich nur langsam an die neue Gabe. Sie trug eine Schneebrille, um sich vor dem hellen Licht zu schützen. Doch diese Empfindlichkeit würde bald vorübergehen, meinte die Königin.
Alfadas sah hinab zur Zeltstadt. Andere Wunden würden länger brauchen, um zu heilen, und ganz gleich, wie sehr Emerelle sich bemühte: Vieles im Fjordland würde niemals mehr so werden wie zuvor. Die Hälfte seiner Städte war verwüstet, der größte Teil seiner Krieger tot oder verstümmelt. Wie sollte man sich schützen, wenn die Trolle wiederkamen?
Wenn er an all das dachte, was vor ihm lag, fühlte Alfadas sich alt und müde.
Er wandte den Blick vom Tal ab und spähte wieder den Rentierpfad hinauf. Wo blieb sein Freund? Fünf Tage war der Elf nun fort. Kam er zu spät, weil er sie gefunden hatte? Alfadas‘ Herz begann schneller zu schlagen, obwohl er sich jede Hoffnung in den letzten Tagen strikt verboten hatte. Die Maurawan hatten Asla und Kadlin nicht finden können. Und es gab keine besseren Fährtensucher als sie. Aber sein Freund würde mit dem Herzen suchen. Wenn es einen gab, der vielleicht noch etwas finden mochte, was den Maurawan entgangen war, dann war er es!
Alfadas hörte den Hufschlag, lange bevor er den Reiter sah. Vorsichtig kam das große Pferd den schneebedeckten Bergpfad hinab. Der Reiter hielt sich sehr gerade im Sattel. Er hatte den Umhang eng um die Schultern geschlungen. Als er den Herzog bemerkte, klopfte er seinem Pferd auf den Hals und stieg ab. Er wirkte sehr müde.
Alfadas spähte den dunklen Pfad hinauf. Der Reiter war allein. Er hätte nicht hoffen sollen, dachte der Fjordländer bitter. Hoffnung war eine Frucht, deren Süße allzu leicht zu Galle wurde.
»In der Nacht nach der Lawine hat sie der Schneesturm überrascht«, sagte Ollowain mit tonloser Stimme. Alfadas sah erschrocken auf. »Hast du ...« Ihm versagte die Stimme. Er versuchte es noch einmal, doch die Frage wollte nicht über seine Lippen kommen.
Sein Freund schüttelte den Kopf und ließ sich müde aus dem Sattel gleiten. »Sie waren nicht unter den Erfrorenen, die ich gefunden habe. Aber ich habe eine Frau getroffen, die gesehen hat, wie Asla und Kadlin in die Wälder gingen. Kalf war auch bei ihnen. Es war kurz bevor der Sturm kam.«
»Und Silwyna? Bist du ihr begegnet? Ich habe sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Vielleicht hat sie ja ...«
»Ja, ich habe sie tatsächlich gesehen. Wir haben eine Nacht zusammen gelagert. Die Maurawan suchen immer noch nach Flüchtlingen. Aber sie haben keine große Hoffnung mehr. Es ist schwer, in dieser Kälte ohne Vorräte und ohne einen geschützten Platz zum Schlafen zu überleben.«
Alfadas bemerkte, wie Ollowain seinem Blick auswich. »Was verschweigst du mir?« Der Elf seufzte. »Die Gewissheit, die du suchst, wirst du vielleicht niemals finden. Das Tal dort oben ist sehr groß. Asla, Kadlin und Kalf können im Schneesturm die Orientierung verloren haben. Niemand kann sagen, wohin sie gegangen sind. So sehr wir auch suchen, wird es mit jedem Tag wahrscheinlicher, dass wir keine Gewissheit haben werden. Du solltest ...« Er schüttelte den Kopf. »Nein, wer bin ich, dir zu sagen, was du tun solltest.«
»Wovor weichst du aus? Glaubst du etwa, der Trollfürst hat die Wahrheit gesagt? Ist es das, was du mir nicht sagen kannst?«
»Es stimmt, dass nach der Lawine noch Trolle den Rentiersteig hinaufgekommen sind. Die Flüchtlinge haben sie gesehen.« Er blickte Alfadas zum ersten Mal an. »Du willst wissen, was ich glaube? Ich glaube, dass Dumgar ein Lügner gewesen ist. Er konnte dich nicht mit der Waffe bezwingen, also wollte er dich zumindest mit Worten verwunden. Und das ist ihm auch gelungen. Ich glaube nicht, dass man Asla und Kadlin zu ihm gebracht hat ... Das Problem mit dem Glauben ist, dass er ohne Beweise leben muss. Kannst du es ertragen, einfach nur zu glauben?«
»Im Lager unten bei der Palisade hat man Kinderknochen gefunden und auch blondes Haar«, sagte Alfadas niedergeschlagen.
»Und wie viele blonde Frauen gibt es?«, fragte der Elf scharf.
»Das beweist gar nichts! Ich habe mit Silwyna in einer Höhle gelagert, in der es die Reste eines großen Feuers gab. Dort lagen auch Menschenknochen. Kinderknochen! Und die Höhle stank noch nach Trollen. Aber es gab keine Blutspuren. Also haben sie wohl nur Vorräte über dem Feuer gebraten.«
»Oder aber die Leichen von Erfrorenen«, sagte der Herzog.
»Ja, auch das ist möglich. Du wirst keine Gewissheit finden, Alfadas. Ich bin für dich in dieses Tal geritten, um als dein Freund deine Zweifel zu besiegen. Doch ich bin gescheitert. Aber in der Ungewissheit liegt auch Freiheit, wenn du stark bist. Du kannst dir selbst aussuchen, was du glauben willst. Und ich glaube, dass Asla ganz bestimmt nicht von Trollen gefressen wurde. Ich habe mit vielen der Flüchtlinge gesprochen, die jene Sturmnacht überlebt haben. Sie haben das Unwetter willkommen geheißen. Sie wollten lieber erfrieren, als von den Trollen gefangen zu werden.«
Alfadas konnte sich gut vorstellen, dass Asla genauso gedacht hatte. Schließlich kannte er ihren kämpferischen Trotz! In Gedanken sah er sie vor sich, wie sie herausfordernd ihr Kinn vorreckte oder die Hände in die Hüften stemmte. Kein Schicksalsschlag hatte sie je umwerfen können. Sie war immer stärker als er gewesen. Wenn sie sich gestritten hatten, so hatte er ihr zuletzt fast immer nachgegeben. Nie mehr ihre Stimme zu hören — das schien ihm unvorstellbar. Aber sie hätte genau das getan, was Ollowain sagte. Mit Kadlin in den Armen wäre sie dem Sturm entgegenmarschiert. Sie hätte lange durchgehalten; sich auf Kalf stützend, wäre sie bis zum Ende ihrer Kräfte weitergegangen. Zuletzt hätte der Fischer wahrscheinlich Asla und Kadlin getragen. Kalf war ein starker Mann. Und wenn auch er zu Tode erschöpft gewesen wäre, hätte er nach einer windgeschützten Stelle gesucht.
Alfadas standen Tränen in den Augen. Sicher hatten sie Kadlin zwischen sich genommen, um sie mit ihren beiden Körpern zu wärmen. Dann hatte Firn seinen weißen Mantel über die drei gezogen. Sie waren eingeschlafen, um nicht mehr aufzuwachen. Man spürte keine Schmerzen, wenn der Herr des Winters einen auf diese Weise holen kam, so hieß es.