»Es ist nicht mehr weit. Landolin wird dich heilen. Niemand webt so kunstvolle Heilzauber wie er.« Jetzt erst bemerkte Ollowain, dass die Kentauren angehalten hatten. Sie waren auf dem runden Platz auf der Kuppe des Hügels angelangt. Die Paläste waren Gartenanlagen gewichen. Hier hatten die Feuerkugeln kaum noch Schaden angerichtet. Von der Kuppe konnte man weit hinaus auf das Meer sehen, und man überblickte auch einen großen Teil der Stadt. Der Hafen, die Lagerhallen und der Palastturm des Fürsten von Reilimee, der am Ende eines steinernen Piers stand, waren ein Raub der Flammen geworden.
In den Vierteln, die weiter entfernt vom Meer lagen, gab es nur wenige Brände. Doch Ollowain konnte sehen, wie der heiße Wind das Feuer weiter landeinwärts trieb in Richtung einer einzelnen, großen Flammensäule: Emerelles Palastturm! Dem Schwertmeister stockte der Atem. Der Turm lag weit außer Reichweite der Katapulte, und der Funkenflug hatte das Feuer noch längst nicht so tief in die Stadt hineingetragen. Jemand musste den Turm der Königin in Brand gesetzt haben! Die Verschwörung gegen Emerelle war noch umfassender, als er befürchtet hatte.
»Was nun, Schwertmeister?«, fragte Orimedes müde. Der Kentaur gab seinen Männern ein Zeichen, die Sänfte abzusetzen. »Wohin gehen wir jetzt?«
Der Elf starrte noch immer fassungslos auf den brennenden Turm. War es möglich, dass Emerelle eine so groß angelegte Verschwörung verborgen geblieben war? Oder hatte sie um all das, was kommen würde, gewusst? Jetzt erinnerte er sich wieder an die Art, wie sie Matha Murganleuk angesehen hatte, den riesigen, beseelten Baum im Magnolienhof. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen ...
Emerelle hatte Abschied genommen. Sie musste um das Schicksal des Palastes gewusst haben.
»Ollowain!« Orimedes stand nun vor ihm. »Wohin gehen wir?«
Der Schwertmeister sah sich hilflos um. »Wir können es nicht wagen, sie in der Sänfte dort hinunterzubringen. Wer auch immer den Palast in Brand gesetzt hat, wartet nur darauf, die Königin in seine Gewalt zu bekommen.«
»Unsinn!«, murrte der Kentaurenfürst. »Das ergibt keinen Sinn. Durch den brennenden Palast sind wir doch gewarnt. Es wäre viel einfacher gewesen, uns dort in einen Hinterhalt zu locken.«
»Vielleicht fühlen sie sich so überlegen, dass ihnen das gleich ist. Sie wissen, dass wir ihnen nicht mehr entkommen können.«
»Sie. Sie. Sie!« Orimedes‘ Schweif peitschte wütend durch die Luft. »Wer soll das sein? Wer beschießt die Stadt? Wer hat den Palast in Flammen gesetzt? Vielleicht gibt es auch eine ganz einfache Erklärung für den brennenden Turm. Funkenflug. Oder eine umgestürzte Lampe ...« Seine Stimme verebbte. Auch ihm musste klar sein, dass keine Lampe dieses Feuer verursacht haben konnte.
Gondoran war aus dem Nachen geklettert und zu ihnen hinübergekommen. Er stieg auf eine Marmorbank und blickte hinab zum Palast. »Sie hat dies geahnt, als sie uns befahl, die Sänfte zu zimmern.«
Ollowain blickte auf. »Sag das noch einmal!«
»Was?«
»Die Königin hat euch beauftragt, diese Sänfte zu bauen?« Wie waren Emerelles Worte kurz vor dem Aufbruch gewesen? Habe ich dir schon Gondoran vorgestellt, den Bootsmeister meines Palastes? Es war seine Idee, diesen Nachen zur Sänfte umzubauen. »Habt ihr die Sänfte der Königin nicht zum Geschenk gemacht?«
»So war es«, bestätigte der Bootsmeister. »Aber sie hatte sich eine Sänfte wie diese gewünscht. Sie hat mir aufgetragen, ein Boot der Muschelfischer aus den Mangroven auszusuchen.«
»Aber sie sagte doch ...«
Der Anführer der Holden unterbrach Ollowain. »Ich weiß, was sie auf dem Magnolienhof sagte. Auf eine gewisse Weise war es tatsächlich meine Idee. Ich habe diesen Nachen unter einem Dutzend ausgesucht. Aber dass überhaupt ein Boot zur Sänfte umgebaut wurde, geschah auf ihren Wunsch hin. Vielleicht wollte sie uns mit dem, was sie auf dem Magnolienhof sagte, einen Hinweis geben?«
»Also ... für mich hört sich das ganz nach den Launen einer Herrscherin an«, wandte Orimedes ein.
»Nein!«, entgegnete der Schwertmeister entschieden. »Sie war nicht ... Sie ist nicht launisch! Sie hatte Sorge, dass es in ihrer unmittelbaren Umgebung einen Verräter gibt. Sie wollte denen, die sich als treu erweisen würden, einen versteckten Hinweis geben. Nur diejenigen, die ihr Leben wagten, um sie durch die Flammen bis hierher auf den Hügel zu bringen, konnten den verborgenen Sinn ihrer Worte erkennen.«
»Du meinst, sie hat gewusst, was geschieht? Das ist doch ... Das ist... Ich finde keine Worte! Sie verreckt fast. Mir sengt es den Schweif weg, meine Männer krepieren ... Und sie soll all das gewusst haben? Wenn das so wäre, dann hätte ich sie an Bord ihres verfluchten Schiffes lassen sollen.« Orimedes stampfte wütend mit den Hufen. »Das kann doch nicht sein! Sie hätte all das verhindern können!« Er deutete hinab zum Hafen.
»Hunderte, vielleicht sogar tausende sind in der letzten Stunde gestorben. Schande über die Königin, wenn sie wusste, dass dies geschehen würde, und nichts tat, um es zu verhindern!«
Ollowain konnte den Kentauren in seiner schlichten Denkweise verstehen, auch wenn seine ausfällige Art nicht akzeptabel war. Der Schwertmeister glaubte unerschütterlich daran, dass Emerelle das Richtige tat. Die Königin hatte einmal versucht, ihm zu erklären, welcher Fluch es war, dass sie in die Zukunft sehen konnte. Als sie noch sehr jung gewesen war, hatte sie ihrem Schwertbruder Mahawan im ersten Trollkrieg das Leben gerettet.
Ollowain vermutete, dass er auch der Geliebte der Königin gewesen war, obwohl sie das nie ausgesprochen hatte. Sie hatte ihr Wissen um die Zukunft dazu genutzt, ihn zu retten. Doch dadurch hatte sich die Zukunft ihres Geliebten grundlegend verändert. Weil er nicht in der Stunde starb, die das Schicksal ihm bestimmt hatte, konnte er auch nicht wiedergeboren werden. Später verschwand er bei einer Queste in die Zerbrochene Welt. Er wurde niemals wiedergeboren. Seine Seele war verloschen. Emerelle hatte erzählt, es sei Mahawan bestimmt gewesen, einst die Krone von Albenmark zu tragen. Und sie hatte behauptet, er wäre ein sehr guter König geworden. Ihr eigensüchtiges Handeln hatte Albenmark dieses Herrschers beraubt. Das war der Grund, warum Emerelle sehr vorsichtig geworden war, ihre Kenntnis der möglichen Zukünfte zu nutzen. »Sie weiß, was das Beste für uns ist. Wir müssen ihre Entscheidungen nicht verstehen können.«
Orimedes schnaubte verächtlich. »Wenn ihre Reden voller versteckter Andeutungen sind, dann mischt sie sich doch immer noch in den Ablauf der Zukunft ein. Da könnte sie uns auch gleich sagen: Tut dieses, lasst jenes!«
Ollowain überlegte kurz, wie er diesem dickschädeligen Kentauren erklären könnte, dass es keineswegs dasselbe war, ob man direkte Befehle erteilte oder vieldeutige Anspielungen machte. Letzteres ließ ihnen die Freiheit, ihrem Gefühl zu folgen. »Halt einfach den Mund. Das ist ein Befehl.«
»Treib es nicht zu weit, Elflein!«
Der Schwertmeister überging die Drohung und wandte sich wieder an Gondoran. »Was hat die Königin dir sonst aufgetragen? Hatte sie besondere Wünsche beim Bau der Sänfte?«
»Sie wollte, dass man den Nachen mit ein paar Handgriffen zum Schwimmen bringen kann. Wir haben Holzscheiben, die wir in die Löcher einsetzen können, durch die man die Tragebalken der Sänfte führt. Es ist keine große Mühe, das Boot wieder wasserdicht zu bekommen.«
Ollowain blickte verzweifelt zurück. Eine Feuerwand trennte sie jetzt vom Hafen. Ihre atemlose Flucht hatte ihm keine Zeit gelassen nachzudenken. »Sie wollte also, dass wir über das Meer fliehen. Deshalb das Boot. Ich hätte es schon früher wissen müssen!«
»Wenn du glaubst, ich trage diese verfluchte Sänfte noch einmal durchs Feuer ...«, begann Orimedes.
Gondoran räusperte sich laut.
»Wenn ich etwas von dir hören will, dann sage ich dir das«, schnauzte der Kentaur den Holden an.
Gondoran wich ein Stück vor dem Pferdemann zurück. »Bei allem Respekt, hohe Herren. Ihr täuscht euch. Dieses Boot ist nicht dafür geschaffen, jemanden aufs offene Meer zu tragen. Ein flach gehender Nachen ist nützlich in den Mangrovensümpfen. Das Wasser ist dort still, und es gibt nur wenige Stellen, an denen es dir weiter als bis zur Brust reichen würde, Fürst. Oft ist es kaum tiefer als eine Pfütze. Wenn dieses Boot in richtigen Seegang gerät, dann läuft es schneller voll Wasser, als man es leer schöpfen kann.«