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Ollowain starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Nacht. Etwa eine Meile westlich des königlichen Palastturms lag der Hafen der Muschelfischer. War es das, was Emerelle gewollt hatte? Würden sie von dort aus entkommen? Jetzt waren auch rings um den Palast Häuser in Brand geraten. Er meinte, zwischen den Flammen verzerrte Schatten zu sehen. Im Licht des Feuers erschienen sie ihm widernatürlich groß. Dort unten wurde gekämpft. Die Brände breiteten sich entgegen der Windrichtung aus. Es war kein Funkenflug, der die Dächer entzündete.

So sehr sich Ollowain auch anstrengte, es war unmöglich zu erkennen, welcher Feind dort in Rauch und Finsternis wütete. Der Weg zum Hafen der Muschelfischer war versperrt. Fieberhaft überlegte der Elf, was zu tun sei. Ein einzelner Krieger würde sicherlich leicht durch die Reihen der Feinde schlüpfen können, doch mit der Sänfte war ein Entkommen aussichtslos. Es sei denn, sie schlugen einen sehr weiten Bogen. Ganz im Osten, auf einer Landzunge, die wie eine schmale Sichel zwischen dem Meer und den Mangrovensümpfen lag, befand sich das Gerberviertel. Eine Gegend, in der sich wegen des bestialischen Gestanks nie ein Elf blicken ließ. Dort könnten sie mit etwas Glück vor dem unbekannten Feind eintreffen – und einen Weg in das Waldmeer finden. Ollowain wandte sich an den Anführer der Holden. »Welchen Weg würdest du wählen, um hinab zu den Mangroven zu kommen?«

Gondoran starrte in die Finsternis und zupfte an seinem spitzen Kinn. »Ich würde durch die Zisternen gehen. Dort sind wir vor allen Blicken verborgen. Und wer sich da unten nicht auskennt, der wird sich hoffnungslos verlaufen.«

»Und du kennst dich dort aus?« Orimedes war deutlich anzusehen, was er davon hielt, in irgendwelche unterirdischen Wasserspeicher hinabzusteigen.

»Mein Vetter war der Herr der Wasser!«, erklärte Gondoran stolz. »Als ich noch ein kleiner Junge war, hat er mich oft mit hinab in die Zisternen genommen, damit ich die engen Überlaufröhren von Schlick und Algen säubere. Ich kenne die verborgenen Hallen unter der Stadt genauso gut wie die Mangroven und das Waldmeer.«

»Und wir können von hier aus bis zum Stadtrand gelangen?«, fragte der Kentaurenfürst skeptisch. »Das ist mehr als eine Meile. So groß sind die Zisternen doch niemals.«

»Redest du immer so bestimmt von Dingen, von denen du keine Ahnung hast, Labsal aller Pferdebremsen? Es gibt durchaus Wasserhallen, die fast eine Meile messen. Und es gibt viele kleinere Zisternen. Sie alle sind durch Kanäle und Schleusenkammern miteinander verbunden. Diese Stadt braucht sehr viel Wasser. Und weil sie zwischen dem Meer und den Mangroven liegt, ist Trinkwasser ein kostbares Gut. In Vahan Calyd musste man schon immer den Regen sammeln. Er wird durch Filterbecken hinab in die Wasserhallen geleitet. Seit Generationen stellt die Familie meines Vetters den Herrn der Wasser. Unter uns liegt ein verborgener See. Selbst wenn es ein Jahr lang an keinem Tag mehr regnen würde, müsste in Vahan Calyd niemand Durst leiden oder auf ein Bad verzichten.«

»Und wir würden auch mit dem Nachen dort hinabgelangen?«, fragte Ollowain skeptisch.

»Aber gewiss doch! Dort unten gibt es etliche Boote. Wie sonst sollten der Herr der Wasser und all seine Diener arbeiten? Wir müssten allerdings durch eine der Schleusenkammern hinabsteigen. Dort gibt es Tore, die weit genug sind, um ein Boot hindurchzubringen. Wenn wir erst einmal unten sind, gibt es kein Problem mehr.« Er sah geringschätzig zu dem Kentauren hinüber. »Es sei denn, Ihre vierbeinige Fürstlichkeit kann nicht schwimmen.«

Orimedes bedachte den Holden nur mit einem verächtlichen Schnauben. »Führe uns zur nächsten Schleusenkammer!«, befahl Ollowain.

Gondoran sah sich kurz um und deutete dann nach Westen.

»Etwa zweihundert Schritt in diese Richtung liegt die Kammer der Rosen. Das ist der nächste Abstieg.«

»Und wir werden schwimmen müssen?«, fragte Ollowain.

Der Holde nickte. »Der Nachen kann uns nicht alle tragen. Ihr müsst euch am Bootsrand festhalten.«

Der Schwertmeister streifte sein Kettenhemd ab und wies auch die überlebenden Wachen und Yilvina an, allen unnötigen Ballast gleich hier zu lassen. In den Zisternen sollte nichts zurückbleiben, das etwaigen Verfolgern einen Hinweis auf ihren Fluchtweg gab. Ollowain versteckte die Rüstung unter einem Oleanderbusch. Die übrigen Elfenkrieger taten es ihm gleich. Wortlos folgten sie seinen Befehlen. Auf sie und Yilvina würde er sich verlassen können. Bei Orimedes und seinen vier Kentauren war sich Ollowain nicht so sicher. Die Pferdemänner standen etwas abseits. Ihr Fürst redete wild gestikulierend auf sie ein. Es war offensichtlich, was sie von der Aussicht hielten, einen Fluchtweg zu wählen, der sie tief unter die Erde führen würde. Gondoran und seine beiden verbliebenen Kumpanen untersuchten den Bootsrumpf. Ollowain dachte an den schweren Sturz. Wenn eine der Planken zersplittert war, dann wären alle ihre Pläne zunichte. Er ging zum Bootsmeister hinüber.

Der Holde deutete in den Nachen. »Einer deiner Krieger hat den Löffel abgegeben. Der ist nur noch unnötiger Ballast. Am besten versteckt ihr ihn unter den Büschen bei euren Rüstungen.«

Der Schwertmeister spannte sich. »Mäßige deinen Ton. Nur weil ich auf dich angewiesen bin, werde ich dir nicht alles durchgehen lassen, Bootsmeister.«

»Nein?«, fragte der Holde provozierend. »Sieh den Tatsachen ins Auge. Dein Kamerad ist nur noch totes Fleisch. Erhat sich entschieden, ein Krieger zu sein, und ist im Kampf verreckt. So etwas nennt man unter deinesgleichen doch ein erfülltes Leben. Meine Männer sind nur Fischer, die heute Abend auf ein Fest gehen wollten. Du kannst froh sein, dass sie nicht alle abgehauen sind.«

»Du und deine Männer, ihr seid Diener der Königin, genau wie ich, Bootsmeister. Sie wusste, dass sie auf diesem verdammten Kahn entkommen wird. Und es ist deine Aufgabe, sie in Sicherheit zu bringen. Ihr drei werdet euch genauso wenig drücken, wie meine Krieger vor einem Kampf fliehen. Wenn es nötig ist, werde ich dich und deine Spießgesellen mit den Füßen auf den Planken festnageln, bis Emerelle in Sicherheit ist. Von einem Holden erwarte ich nicht, dass er sich ritterlich verhält, aber du wirst deine Pflicht tun wie jeder andere hier auch. Und jetzt berichte mir, ob das Boot Schaden genommen hat.«

Gondoran funkelte ihn wütend an, verkniff sich aber jede weitere spitze Bemerkung. »Eine Planke ist gerissen. Wir werden ein bisschen Wasser nehmen. Aber der Nachen wird schwimmen.«

Der Schwertmeister beugte sich über Emerelle. Die Haut der Königin fühlte sich immer noch eisig an. Obwohl Lyndwyn noch bewusstlos war, wirkte ihr Zauber fort. Das Gewand der Magierin war voller Brandlöcher, das Haar versengt und ihr Gesicht blutverschmiert. Und dennoch hatte sie immer noch etwas Unheimliches und zugleich Respekteinflößendes an sich. Ihre rechte Hand ruhte auf Emerelles Brust. Sie schien wirklich bemüht, die Königin zu beschützen. Hatte er ihr Unrecht getan? Nein, jeder hatte sehen können, wie sie das Zeichen zum Angriff gegeben hatte. Sie war eine Verräterin!

Ollowain strich über das Gesicht seines toten Gefährten und schloss ihm die Augen. Es war offensichtlich, dass Lyndwyn nichts unternommen hatte, um den beiden Verletzten zu helfen. Ihre Wunden waren nicht verbunden, und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass sie einen Zauber gewirkt hätte, um die Schmerzen der Männer zu lindern. Am liebsten hätte er die Magierin zurückgelassen.

Sie brachten ihren Kameraden auf seinem Schild in die Büsche. Es blieb kaum Zeit, um mit ein paar Worten von ihm Abschied zu nehmen. Den Toten zu ehren hieße, die Lebenden gefährden. Plötzlich hatte Ollowain das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um, doch in der Gartenlandschaft gab es hunderte Verstecke. Er konnte niemanden entdecken.