»Und gewöhnlich würde ich einem kleinen Klugscheißer, der es darauf anlegt, mich zu beleidigen, auch nicht zuhören, sondern ihm die Zähne in den Rachen treten, dass sie ihm zu den Ohren wieder rauskommen«, schnauzte Orimedes zurück.
Gondoran war klug genug, darauf nicht zu antworten.
Inzwischen waren auch die anderen vom Kai ins Wasser gestiegen. Langsam setzte sich der Nachen in Bewegung, und eine Reise in die Finsternis begann. Schon nach wenigen Augenblicken waren die Treppe und der Kai in der Dunkelheit verschwunden. Das Licht reichte nicht bis hinauf zur Decke der Zisterne. Ollowain versuchte die Gedanken zu unterdrücken, die ihn bedrängten, den Eindruck, verloren zu sein. Kein Ziel vor Augen zu haben, war etwas, das er nicht kannte. Wohin sollten sie sich wenden, wenn sie die Mangroven erreichten? Am besten wäre es, durch einen Albenstern zu flüchten. Doch dafür brauchten sie die Hilfe Lyndwyns, denn er verfügte weder über die Magie, jene Pforten zu den Albenpfaden zu öffnen, noch wusste er, wo man nach ihnen suchen sollte. In Vahan Calyd gab es zwei große Albensterne. Einer lag unter dem brennenden Turm Emerelles und der zweite nahe bei Shahondins Palast. Diese Wege waren ihnen verwehrt. Angeblich gab es noch weitere Albensterne weiter draußen im Waldmeer.
Ollowain betrachtete die Magierin. Obwohl sie nicht wirklich schwer verletzt sein konnte, war sie noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Lyndwyn könnte sie auf den Albenpfaden in die Irre führen, ohne dass er davon etwas merken würde. Erst wenn sie wieder durch ein Tor hinaustraten, würde sich offenbaren, wohin sie die Magierin gebracht hatte.
»Siehst du das?« Yilvina deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. In die Finsternis hoch über ihnen war ein kleines, silbernes Rechteck gestanzt. Ein Schatten trat durch das Licht. Dann verschwand das Rechteck, und die Dunkelheit war abgesehen von der Fackel im Boot wieder vollkommen. »Wer ist das?«
Auch Gondoran hatte das Licht gesehen. Er sagte nichts, aber er blickte immer wieder zurück, während er den Nachen durch die Zisterne steuerte.
Immer lauter wurde das Donnern vor ihnen. Der Bootsmeister brachte sie durch ein goldenes Schleusentor in einen Kanal. Hier war es so eng, dass man mit ausgestreckten Armen beide Seitenwände berühren konnte. Das Wasser im Kanal reichte nicht sehr hoch. Sie hatten Boden unter den Füßen, als sie sich vorantasteten. Ein Bogenschütze würde hier einen guten Stand haben. Er könnte schießen. Im tiefen Wasser der Zisterne waren sie sicherer gewesen.
Ollowain ließ sich ein wenig zurückfallen. War es Silwyna? Hatte er sich in ihr getäuscht? Vor ihnen im Tunnel erstrahlte ein Licht, hell wie ein Sommernachmittag, und er spürte die Kraft alter Magie. Wohin hatte der Holde sie hier gebracht?
Yilvina kam zu ihm herüber. Sie winkte und sagte etwas, doch ihre Worte wurden vom ohrenbetäubenden Donnern vor ihnen verschluckt. Der Tunnel weitete sich. Sie erreichten ein großes, rundes Gewölbe, dessen Decke mit leuchtenden Barinsteinen besetzt war. Goldene Rohre mit kunstvoll ausgearbeiteten Mündungen ragten aus den Marmorwänden. Manche sahen wie stilisierte Vogelköpfe mit breiten Schnäbeln aus, andere wie Delfine oder sogar Wolfsköpfe. Es mussten hunderte sein. Aus ihnen schossen weit aufgefächerte Wasserfontänen, die im hellen Licht wie flüssiges Kristall erschienen. Die Luft war erfüllt von feinem Wasserdunst. Schillernde Regenbögen spannten sich zwischen den Kaskaden.
Ollowain beeilte sich, wieder zum Nachen aufzuschließen. Das Becken in diesem wundersamen Kuppelsaal war nicht sehr tief, das Wasser floss mit starker Strömung ab. Der Schwertmeister musste kämpfen, um auf den Beinen zu bleiben, obwohl ihm die schäumende Gischt kaum bis zu den Knien reichte. Noch schwerer hatten es die Kentauren. Mit ihren beschlagenen Hufen fanden sie keinen Halt auf dem glatten Steinboden, und sie mussten sich am Bootsrand festhalten, um nicht von der Strömung umgerissen zu werden.
Die Fontänen prügelten auf den Schwertmeister ein. Selbst der Boden der großen Kammer vibrierte unter der Wucht des fallenden Wassers. Alle kämpften sie nun gegen die Urgewalt des Wassers an. Nur Gondoran schien das nicht zu bekümmern. Er stand im Heck des Nachens, hielt unbeirrt die Ruderpinne und schmetterte voller Inbrunst ein Lied.
Ollowain konnte bei dem Getöse ringsumher nur einzelne Worte verstehen. Es schien um eine Holde zu gehen, deren Brüste nie versiegende Quellen waren. Der zänkische kleine Kerl war ihm ein Rätsel. Sang er, um seine Furcht zu verbergen? Oder empfand er wirklich Freude? Der Kuppelsaal war von großer Schönheit, das Licht, die Regenbögen, der strahlend weiße Stein der Mauern. Wäre da nicht der infernalische Lärm gewesen, man wäre gern hier, um einfach nur zu schauen und seine Seele der Schönheit dieses verborgenen Ortes zu öffnen. Vor allen Dingen, wenn man auf einem der kleinen Balkone hoch über dem Wasser stehen konnte und nicht mitten durch diese Urgewalt hindurch musste.
Gondoran stakte den Nachen durch eine Wasserwand. Seine beiden Kameraden schöpften aus Leibeskräften, damit das Boot nicht voll lief Die Fontänen waren wie ein kristallener Vorhang. Keine von ihnen kam der Marmorwand des Kuppelsaals näher als zwei Schritt. Die Strömung war hier jedoch noch stärker. Große, gemauerte Bögen tranken gierig das ablaufende Wasser. Kanäle, die aus dem Kuppelsaal in alle Himmelsrichtungen fortführten ... Ollowain konnte nicht erkennen, dass sie auf irgendeine besondere Weise gekennzeichnet waren. Für ihn sahen alle Kanalöffnungen gleich aus. Doch Gondoran wusste offenbar ganz genau, wo er war. Beim siebten Kanal, den sie passierten, schlug er das Ruder ein und steuerte den Nachen in die Finsternis.
Der Tunnel schien den Lärm des fallenden Wassers noch einmal zu verstärken. Mit Mühe brachten die Holden die Fackel wieder zum Brennen, die durch die Wasserfontänen gelöscht worden war.
»Ist er nicht wunderbar, der Saal der fallenden Wasser?«, beendete der Bootsmeister das Schweigen. »Es gab Zeiten, da bin ich jeden Tag hier gewesen.«
»Wunderbar ist nicht das Wort, das ich gebrauchen würde«, sagte Yilvina. »Eindrucksvoll vielleicht.«
»Was wisst ihr schon von der Schönheit des Wassers?«, entgegnete Gondoran verschnupft. »Ihr habt ja keine Ahnung, welche Arbeit es macht, das Wasser zu hegen.«
»Du sprichst ja vom Wasser, als würdest du eine Herde Kühe hüten«, spottete der Kentaurenfürst. »Was ist schon dabei, auf Wasser zu achten?«
»Wenn wir das Wasser nicht hegen würden, dann würde ganz Vahan Calyd nur abgestandene, lauwarme Brühe trinken! Es fängt damit an, dass wir darauf achten, dass sich hier unten keine Ratten und ungewaschenen Kentauren herumtreiben, um im Trinkwasser zu baden. Jeder Tropfen hier ist durch tiefe Filtergruben geflossen. Die Normirga, das Volk, dem unsere Königin entstammt, haben einst Vahan Calyd erbaut. Sie haben magische Pumpen erschaffen, die das Wasser in Bewegung halten wie riesige Herzen. Wasser ist dazu geschaffen zu strömen, zu pulsieren und aus großer Höhe zu stürzen. So hältst du es lebendig, Pferdemann. Es atmet, wenn es aus den Speiern im Saal der fallenden Wasser hinabstürzt. Und mein Volk hegt dieses großartige Werk.«
»Ich fürchte, ich habe mich gerade eben an deinem Wasser vergangen. Ich streue Asche auf mein Haupt und tue Buße, doch ich konnte nicht länger an mich halten und habe mich erleichtert.«
Die anderen Kentauren prusteten los, doch Gondoran starrte den Fürsten einfach nur mit weit aufgerissenen Augen an.
»Du hast was?«
»Ich fürchte, ich habe zu schwer zu Mittag gegessen. Und dann die Aufregung. Das Feuer. Die Flucht. Das alles hat meine Verdauung angeregt.«
»Das ist ein Scherz, nicht wahr?«, sagte der Holde flehend.
»Bitte sag, dass das ein Scherz ist.«
»Ich scherze niemals, wenn es um meine Äpfel geht«, entgegnete der Kentaurenfürst grinsend. »Wir können nicht lange an uns halten, wenn es so weit ist. Das hat mich auf manchem Fest der Elfen schon in arge Verlegenheit gebracht. Wir sind, wie uns die Alben erschaffen haben.« Er zuckte mit den Schultern.