»Vier Schiffe! Jedes mit mehr als zweihundert Kriegern an Bord! Das ist ja ein ganzes Heer. Und sie alle sind in Brand geraten?«
»Ja, mein König«, bestätigte der Alte.
»Nie wieder will ich diese dreimal verfluchten Feuerkugeln an Bord eines Trollschiffes sehen. Und auch die Katapulte werdet ihr morgen über Bord werfen. Wir sind Trolle! Niemand kommt uns an Stärke gleich. Ich verfüge hiermit, dass von nun an und für alle Zeit Steine geworfen werden und Feuer nichts mehr an Bord von Trollschiffen verloren hat.« Er zog die Nase hoch und spuckte Orgrim vor die Füße. »Es gibt nur eins, was noch dümmer ist! Sich von einem Elfenschiffchen versenken zu lassen. Du warst doch gewarnt? Oder hat man dir etwa nicht von den Stahlspornen an ihren Schiffen erzählt? Du hättest besser auf die Donnerer Acht geben müssen, Welpe!«
Auf der Enterbrücke erschien eine gebeugte Gestalt. Mit gichtkrummen Fingern hielt sie sich am Geländer fest.
Alle Gespräche verstummten. Orgrim hatte Skanga, die große Schamanin seines Volkes, noch nie leibhaftig gesehen. Behutsam stieg sie die steile Holzbrücke hinab. Die Schamanin trug ein derbes Kleid, das mit so vielen Flicken besetzt war, dass man unmöglich seine ursprüngliche Farbe erraten konnte. Jeder ihrer Schritte wurde von Rascheln und leisem Klicken begleitet. Um ihren faltigen Hals hingen dutzende von Amuletten und Glücksbringern: kleine Figuren, aus Knochen geschnitzt, steinerne Ringe, Federn, ein vertrockneter Vogelkopf und etwas, das aussah wie ein halber Rabenflügel. Zahllos waren die Geschichten über ihre Macht. Es hieß, allein ihr Blick könne töten und sie lebe seit den Tagen, als die Alben noch unter ihren Kindern weilten. »Ich hoffe, du hattest einen guten Grund, mich rufen zu lassen.« Die Schamanin sprach mit leiser, ein wenig heiserer Stimme. Und doch war jedes ihrer Worte deutlich zu verstehen.
»Der Rudelführer Orgrim glaubt, die Leiche der Tyrannin gefunden zu haben.« Branbart zog wieder die Nase hoch, doch diesmal spuckte er nicht aufs Deck, sondern trat kurz an die Reling.
Skanga wandte sich Orgrim zu. Ihre Augen waren von dünnem weißen Schleim überzogen. Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Bring mich zu Emerelle, Welpe.«
Es fühlte sich an, als streife ihn ein vertrockneter Ast. Die Finger der Schamanin waren hart und wirkten wie abgestorben. Ihre Nägel krümmten sich wie Bärenkrallen. Skanga sah zu ihm auf und blinzelte. »Ich kenne dich, Welpe. Komm zu mir, wenn die Kämpfe beendet sind.« Sie kicherte leise. »Orgrim ist also jetzt dein Name.« Dem Rudelführer zog sich der Magen zusammen. Er hatte davon gehört, dass sich die Schamanin manchmal junge, kräftige Krieger zuführen ließ. Es hieß, sie stahl von ihrer Lebenskraft.
Er brachte sie zum Lager der Königin. Skanga schien trotz ihrer milchigen Augen nicht wirklich blind zu sein. Ohne dass er sie gewarnt hätte, machte sie einen weiten Schritt über den Leichnam des Schwertmeisters hinweg. Warum hatte sie seine Hand halten wollen? Um herauszufinden, ob er das rechte Opfer für ihre Blutmagie war?
Die Schamanin legte der toten Königin ihre knotige Hand auf die Brust und tastete über das zerrissene Kleid. Dann stieß sie ein ärgerliches Grunzen aus und befühlte Emerelles Stirn. Die langen Nägel schnitten in das verbrannte Fleisch. Skanga murmelte leise vor sich hin. Orgrim verstand einzelne Worte. Sie befahl der Elfe zurückzukehren. Dabei hatte ihre Stimme etwas Dunkles, Widernatürliches. Der Rudelführer erschauderte. Plötzlich war es kühler geworden. Eine Bö eilte von der offenen See heran und rüttelte an der Takelage. Die Lippen der toten Königin zitterten. Ihr Mund klappte auf. Licht troff in zähen Fäden, so wie Honig, von ihren Mundwinkeln und strahlte durch die geschlossenen Augenlider. Ein herzerweichendes Wimmern war zu hören. »Widersetze dich nicht«, hauchte Skanga. »Ich habe dein Licht zurückgerufen, Elfe. Ich kann es halten, so lange ich will. Du spürst jetzt wieder die Qual des Augenblicks deines Todes. Dein verbranntes Fleisch. Die zerschmetterten Knochen in deinem Leib.«
Das Wimmern wurde schriller. Die Augenlider der Toten flatterten. Orgrim wich einen Schritt zurück. In diesem Augenblick war er sich ganz sicher, dass alles stimmte, was er jemals über Skanga gehört hatte. »Jeder hat mir bisher gesagt, was ich wissen wollte. Es ist unnütz zu kämpfen. Am Ende redet ihr alle. Gib nach. Sag mir, wie du heißt. Nur dein Name, und ich lasse dich los.« Die Augen der toten Königin öffneten sich. Da waren keine Augäpfel oder Pupillen mehr. Nur gleißendes Licht, so hell, dass der Rudelführer den Blick abwenden musste.
»Dein Name!«
»Sa... San...«
Tränen aus Licht troffen von den Augen Emerelles. Ihre Stimme erstickte in unartikuliertem Wimmern. Immer lauter wurde das gemarterte Kreischen. Orgrim hatte schon oft das Geschrei Sterbender gehört. Aber eine Tote noch weiter gequält zu sehen, wühlte ihn zutiefst auf. Es gab also keinen Frieden. Nicht einmal im Grab. Nie. »Sansella!«, stieß die Königin hervor. »Ich heiße Sansella! Sansella!«
Skanga zog ihre Hand zurück. Das unheimliche Licht verschwand augenblicklich. Die Leiche lag völlig still. Orgrim starrte die Tote erschrocken an. Konnten Leichen lügen? War dies eine letzte List der Tyrannin?
»Ich kann mir vorstellen, was du jetzt denkst.« Skanga hielt ihn mit ihren milchigen Augen fixiert. »Die Antwort ist: nein!«
Branbart zog die Nase hoch und spuckte Orgrim vor die Füße.
»Dafür hast du dein Schiff verschenkt, Welpe. Du bist es nicht wert, ein Rudelführer zu sein. Ich nehme dir dein Rudel. Du bist nur mehr Krieger. Und vermutlich ist das noch zu viel!«
Orgrim sah fassungslos von der Toten zum König und dann wieder zu Skanga. Die Elfenwichte hatten ihm alles genommen! Er war zu überrascht und erschüttert, um überhaupt etwas sagen zu können. Seit Tagen hatten all seine Gedanken darauf gezielt, wie er Herzog werden könnte, und nun war er nicht einmal mehr Rudelführer. Die Schamanin hielt die Schwanenkrone in der Hand und streichelte über das kalte Metall.
»Ihr Band zerreißt«, sagte sie leise. »Die Königin hat die Krone so lange getragen, dass es eine Verbindung zwischen diesem Stück Metall und ihr gibt. Doch es wird immer schwächer. Sie scheint im Sterben zu liegen.« Skanga hatte die Augen geschlossen und presste die Krone fest auf ihre Brust. »Sie ist am Rand der Baumsümpfe auf der anderen Seite der Stadt.«
»Holt sie mir!«, rief Branbart. »Wer Emerelle bringt, wird Herzog sein! Schickt Schiffe, damit sie aus dem Sumpf nicht aufs Meer entkommt. Kreist sie ein! Hetzt sie wie Wölfe ein verwundetes Reh. Ihr habt es gehört, sie liegt im Sterben. Bringt sie mir! Wenn uns Emerelle entkommt, dann ist dieser Sieg nur einen Dreck wert!«
Unter dem Stacheltuch
Ein toter Lamassu trieb mit weit ausgebreiteten Flügeln an Ollowain vorbei. Die Strähnen seines geölten Bartes umspielten sein dunkles Antlitz wie tanzende Wasserschlangen. Die riesigen Schwingen und der Stierleib waren von wuchtigen Schlägen zerschmettert worden. Nur sein sonnengebräuntes Antlitz mit der klassischen Nase, den edel geschwungenen Brauen und den sinnlichen, vollen Lippen war unversehrt gewesen. Der Lamassu trieb inmitten des breiten, roten Lichtstreifens, der durch das Tor unter der Zisternendecke aufs Wasser fiel. Und er war nicht der einzige Tote, den man hier herabgeworfen hatte.
Ollowain schwamm zu der Anlegestelle und klammerte sich an einen der goldenen Ringe, die in die Mauer eingelassen waren, um daran Boote zu vertäuen. Es war totenstill. Nichts regte sich. Weder im Wasser noch auf der Treppe oder auf dem Weg hinauf zum roten Licht.
Lautlos glitt der Schwertmeister aus dem Zisternenbecken. Geduckt lief er zur Treppe hinüber. Der weiße Marmorboden war mit Blut verschmiert. Ollowain zog sein Schwert. Mit langen Sätzen eilte er dem Licht entgegen.
Auch hier führte eine geheime Tür von den Zisternen in einen prächtigen Saal. Ein schwarzer Fries mit Bäumen aus Perlmutt war der einzige Schmuck des Marmors. Die meisten der Öllampen auf der Treppe hinauf zur Stadt waren zertreten. Blut war an den Wänden und auf dem Boden. Das schwere goldene Tor war zerschlagen. Es sah aus, als habe ein zorniger Riese mit Fäusten darauf eingehämmert. Dahinter erstrahlte der Himmel in flackerndem Purpur.