Die Jägerin hob Köcher und Bogen hoch über ihren Kopf. Das Wasser reichte ihr bis zur Brust. Ohne sich noch einmal umzusehen, watete sie davon. Einige Herzschläge lang war sie noch als vager Schemen im Dunst zu erkennen, dann war sie verschwunden.
»Was für ein Miststück war das denn?«, fragte Orimedes empört.
»Eine Fremde«, sagte Ollowain nachdenklich. Warum hatte Silwyna ihn in den Köcher blicken lassen? War ihr nicht klar, dass er den Pfeil im Mast gesehen hatte? Oder war es vielleicht sogar eine Drohung? Sechs Pfeile steckten noch in ihrem Köcher. Und zwei davon hatten eine schwarz-weiß gestreifte Befiederung, so wie der Pfeil, den man auf Emerelle abgeschossen hatte. Es waren Würgeulenfedern. Angeblich ließen sie die Pfeile lautlos fliegen. Geschosse, geschaffen für Meuchler. Und für Jäger? Beklommen blickte er in die Richtung, in der Silwyna verschwunden war.
Fahles Morgenlicht dünnte den Nebel aus. Drei Lichtflecke bewegten sich vor ihnen. Es schien, als kämen sie den Kanal hinauf, dem die Gefährten mit ihrem Nachen folgten.
Auf ein Zeichen Gondorans hielten die beiden Holden, die das Boot mit langen Stangen vorangestakt hatten, inne. Die Lichter waren wieder im Nebel verschwunden. Doch es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie sich in ihre Richtung bewegt hatten.
»Wohin ist die Jägerin gegangen?«, fragte der Bootsmeister.
»Sie hält uns den Rücken frei.« Ollowain sah sich nach einer Bucht, einem Seitenkanal oder einem Dickicht aus Wurzeln um. Irgendetwas, das geeignet sein mochte, um den Nachen zu verstecken.
»Unsinn!«, murrte Gondoran. »Von ein paar Pfeilen werden sie sich nicht aufhalten lassen. Was ist dein Plan, Schwertmeister? Wie entkommen wir ihnen?« Der Holde sah ihn erwartungsvoll an. Alle blickten sie zu ihm! Er konnte doch keine Wunder vollbringen.
Wieder erklang das Horn, das ihnen seit der Flucht aus dem Wassergarten gefolgt war. Diesmal waren es drei kurze, atemlose Rufe. Ihre Jäger hatten sie gefunden, wie es schien.
»Dein Plan!«, drängte Gondoran.
»Ich entlasse euch aus den Diensten der Königin, Gondoran. Du und deine Männer, ihr kennt euch in den Mangroven aus. Ihr habt gute Aussichten zu entkommen.«
Nun erschollen rings herum Jagdhörner. Die Schlinge zog sich zu. Ollowain lockerte sein Schwert in der Scheide. Er war bereit!
»Du willst uns jetzt einfach fortschicken? So wie Feiglinge?«, fragte Gondoran empört. »Glaubst du, wir hätten Angst vor dem Tod? Meinst du, wir laufen jetzt fort, um uns in den Löchern von Sumpfratten zu verkriechen und darauf zu hoffen, dass die Trolle weiterziehen? In meinem Volk gelten wir drei als Krieger, Schwertmeister. Wir können alle Trolle töten, wenn wir es nur wollen!«
»Alle, jawohl!«, stimmte einer der anderen Holden zu. »Wir ersticken sie unter dem Stacheltuch!«
Orimedes lachte. »Auf jeden Fall habt ihr das Herz am rechten Fleck, Jungs.«
»Ich mache keine Scherze!«, entgegnete Gondoran feierlich. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zum dicht miteinander verwobenen Geäst der Baumkronen. »Hast du den Mut, deine Königin mit deinem Leib zu schützen statt mit deinem Schwert, Ollowain?«
»Was hast du vor?«
Gondoran deutete auf eine dicke Wucherung in einer Astgabel über ihnen. Im fahlen Licht sah es aus, als sei das Holz von einer Eiterbeule aufgebläht. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es ein Nest war. »Gärtnerbienen«, sagte der Holde leise, so als habe er Angst, das Bienenvolk im Nest über ihren Köpfen könnte sie belauschen. »Sie hegen die Blumen in den Mangroven. Jedes Bienenvolk hat einen eigenen Garten. Und sie vertreiben alle, die ihm zu nahe kommen.«
»Hu, da läuft es einem ja eiskalt den Rücken herunter. Und du Narr glaubst, sie würden die Trolle vertreiben«, spottete der Kentaurenfürst. Orimedes zog sein Schwert. »Das hier brauchen wir. Blanken Stahl, sonst nichts.«
»Du hast noch nie ein zorniges Bienenvolk erlebt, Pferdemann, sonst würdest du nicht so leichtfertig daherreden. Die Gärtnerbienen werden die Trolle nicht vertreiben, sie werden sie töten. Und uns werden sie auch umbringen, wenn wir sie erst einmal gerufen haben. Nur wer es schafft, seinen Mund nicht zu öffnen, wenn sie kommen, wird vielleicht überleben.«
»Was sollte daran so schwer sein?«, fragte Yilvina verunsichert.
»Du wirst es erleben! Nichts hier in den Mangroven ist so tödlich wie die Gärtnerbienen. Nicht die grüne Baumviper und auch nicht die großen Meereskaimane, die manchmal mit der Flut in die Sümpfe kommen. Sie fallen zu tausenden über jeden Eindringling her. Deshalb gibt es hier keine Vögel oder Affen. Nichts. Nicht einmal mehr Wasserratten. Sie alle sind tot oder geflohen. Und wir Fischer wagen uns nur noch nachts hinaus in die Mangroven, solange die Bienenvölker schlafen. Wenn wir drei oder vier der Nester zerstören, dann werden sich alle Bienen erheben. Und dann beginnt das Sterben.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein paar Bienen einen Troll töten sollen«, sagte Orimedes. »Das sind doch Holdenmärchen.« Wieder tauchten die drei Lichter im Nebel auf. Sie waren ein gutes Stück näher gekommen. Ein paar Augenblicke noch, und die Trolle würden geradewegs in sie hineinlaufen.
»Wie können wir Emerelle beschützen?«, wollte Ollowain wissen. Er war nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, die Königin vielleicht doch noch zu retten.
»Indem du dich über sie legst. Am besten wird sie sich jedoch selbst beschützen. Ich sagte doch schon, man darf sich nicht rühren und auf gar keinen Fall den Mund öffnen. Dann wird man vielleicht überleben.«
»Ruf die Bienen, Gondoran.« Ollowain zog sich ins Boot. Hastig deckte er das Gesicht der Königin mit einem Tuch ab. Noch immer ruhte Lyndwyns Hand auf der Brust der Königin. Es war rührend, mit anzusehen, wie sie selbst ohnmächtig noch Emerelle beschützen wollte. Doch er sollte sich nichts vormachen! Sie tat das gewiss nicht aus Mitgefühl, sondern allein, um ihr eigenes Leben zu schützen.
Die Holden nahmen ihre Stirnbänder ab, und Gondoran holte ein kleines Ledersäckchen mit Kieselsteinen unter einer der Bänke hervor.
»Heho, wer da?« Die Trolle hatten sie entdeckt!
Der Bootsmeister legte einen Stein in sein Stirnband und ließ es über seinem Kopf kreisen. Mit dumpfem Knacken durchschlug sein Geschoss die Hülle des Bienennestes. Gondorans Kameraden zielten auf andere Nester. Das Wirbeln der Stirnbänder verursachte ein leises, zischendes Geräusch.
Ollowain hielt den Atem an. Aus dem beschädigten Nest quoll eine dunkle Masse. Dann war die Luft erfüllt von dumpfem Summen. Eine grauschwarze Wolke löste sich vom Bienennest.
Kaltblütig legten die Holden neue Steine in ihre Schleudern.
Der Schwertmeister kniete nieder und beugte sich schützend über die Königin.
Aus Richtung der Trolle erklang ein Schrei. Ollowain konnte sehen, wie die Bienen auf das Geräusch reagierten. Eben noch waren sie eine ziellos durch das Geäst tanzende Wolke. Jetzt zog sich der Schatten in die Länge und wurde im nächsten Augenblick wieder zu einem dichten Klumpen. Der ganze Schwarm flog den Trollen entgegen.
Erleichtert atmete Ollowain aus. Im Nebel vor ihnen erklang lautes Fluchen. Etwas platschte durch das Wasser. Zu sehen war jedoch nichts. Zwei weitere Bienenvölker erschienen über ihnen im Dickicht der Äste. Plötzlich war eine riesige Gestalt neben dem Nachen. Hilflos mit den Armen rudernd, stolperte sie dahin, stürzte und wälzte sich schreiend im brackigen Wasser. Ollowain erkannte den Troll an seiner Größe, doch der Körper des Hünen hatte alle Konturen verloren. Tausende von Bienen hatten sich auf ihm niedergelassen und verwandelten ihn in eine formlose, zuckende Masse. Die Luft war erfüllt vom Summen, laut wie das Donnern der Hufe bei einer Reiterattacke.
Ollowain versuchte wie versteinert zu stehen. Einzelne Bienen ließen sich auf ihm nieder. Die Gärtnerbienen waren ungewöhnlich groß. Fast so lang wie die oberen beiden Glieder seines kleinen Fingers. Ihre Bewegungen kitzelten unangenehm. Der Schwertmeister spürte, wie sich ein dicker Schweißtropfen auf seiner Stirn bildete. Jetzt waren auch überall auf Emerelles Decke Bienen. Gondoran starrte ihn vom Heck her an. Auf der Nasenspitze des Holden turnte eine große Biene, doch er schien sie kaum zu bemerken. In den Augen des Bootsmeisters lag ein stummes Flehen, sich nur nicht zu bewegen.