»Aber Luth ist weise und nachsichtig. Ich bin mir sicher, er wird dir eine angemessene Antwort geben.«
Der Jarl blickte wieder zum Himmel. »Ich warte.« Schweigend saßen die beiden beieinander und beobachteten den Hund und das Kind. Es dauerte nicht lange, bis Alfadas sein Verhalten bereute. Es war albern! Und dennoch machte er keinen Rückzieher.
Gundar verspeiste grinsend einen zweiten Apfel, während Kadlin vom Wasser zurückkam. Müde rieb sich die Kleine die Augen. Blut lag lang hingestreckt im Gras und döste. Kadlin ging zu ihm hinüber und kuschelte sich an das zottelige, schwarze Fell. Bald war sie eingedöst.
Alfadas betrachtete lange den Hund. Dicke Muskelstränge verbargen sich unter dem Fell, die Blut unförmig erscheinen ließen. Die Schramme an der Schnauze war von dunklem Schorf bedeckt. Im hellen Morgenlicht sah der Jarl noch viele ältere Narben. Er dachte an die Peitsche, die Ole zurückgelassen hatte. Ein Marterinstrument, geschaffen, um tiefe Wunden zu reißen. Mistkerl! Er sollte ihm all seine Hunde abnehmen!
Gundar hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah einer einzelnen einsamen Wolke nach, die über den strahlend blauen Himmel zog. Der Priester sagte nichts, lächelte stumm in sich hinein, und doch war sein Schweigen beredter als alle Worte.
Alfadas war noch immer nicht bereit aufzugeben. Einer von beiden würde schon zum Wasser gehen! Inzwischen war ihm egal, ob es Blut oder Kadlin war. Der Jarl hing seinen Gedanken nach. Was würde er Asla sagen, wenn er mit dem Hund zurückkehrte? Würde sie ein Urteil von Luth annehmen? Vielleicht. Dass es seine Entscheidung war, den Hund nicht zu töten, würde sie sicher nicht hinnehmen. Im Grunde war es nicht schlecht, den Priester zum Zeugen zu haben. So könnte er es sich leicht machen.
Es war Gundar, der schließlich ihr Schweigen brach. »Es ist weit mehr als eine Stunde verstrichen, Jarl. Ich muss gestehen, dass ich inzwischen so durstig bin, dass ich mich versucht fühle, aus dem Fjord zu trinken. Wie lange willst du noch warten?«
»Bis wir ein Zeichen erhalten«, entgegnete Alfadas trotzig.
Der Priester seufzte. »Glaubst du nicht auch, dass Luth schon längst zu uns gesprochen hat? Wir können hier noch bis zur Abenddämmerung sitzen, und weder Kind noch Hund werden aus dem Fjord trinken. Bis heute habe ich dich immer für einen klugen Mann gehalten, Jarl. Du musst doch auch erkannt haben, was die Antwort ist. Der Schicksalsweber ist nicht bereit, dir deine Entscheidung abzunehmen.«
Alfadas hatte mit einem Spruch dieser Art gerechnet. Die wesentliche Eigenschaft, die man benötigte, um Priester zu werden, war die Gabe, alles, was geschah, zu Gunsten seines Gottes zu deuten. Gundar mochte manche Fehler haben, aber um eine gewandte Zunge war er nicht verlegen. »Was also, meinst du, teilt mir dein Gott mit?«
»Horche in dich hinein. Vergiss einen Augenblick alle anderen Menschen. Mich, dein Weib, sogar Kadlin. Mach dich frei von all den unsichtbaren Fesseln, die dich erdrücken. Nimm dir die Muße, über dein Leben und seine Zwänge nachzudenken, und dann tue das, was du für richtig hältst. Es wird auch der Wille Luths sein.« Alfadas griff nach der Axt und ging zu Blut. Dort schob er die Waffe in seinen Gürtel und nahm Kadlin auf den Arm. Einen Moment lang sah er den großen, hässlichen Hund an. »Komm, wir gehen frühstücken«, sagte er schließlich.
Das Schilfrohr
Er spürte wohlige Wärme auf seiner Wange. Ganz nah war das leise Knistern eines Feuers zu hören. Ollowain wollte die Augen öffnen. Seine Lider waren verklebt und zugeschwollen. Nur mit Mühe brachte er schließlich das linke Auge einen Spalt weit auf. Gerade genug, um das Feuer zu sehen. Es war ungefährlich. Ein Kreis aus faustgroßen, weißen Steinen umringte es. Das Holz war bleich wie Knochen. Manche der Flammen loderten grünlich. Treibholz! Ollowain versuchte sich aufzurichten, um besser zu sehen, wo er war. Doch seine Glieder verweigerten ihm den Dienst. Es war, als bestünde er nur noch aus seinem Kopf. Und ... Wieso roch er das Feuer nicht? Er konzentrierte sich ganz darauf, irgendeinen Geruch wahrzunehmen, doch da war nichts. Er spürte nicht einmal, wie er einatmete. Nicht in der Nase und nicht im Mund. Und doch hob und senkte sich seine Brust. Und ein fremdes, röchelndes Geräusch erklang. Panik packte ihn. War er tot? Er versuchte den Kopf zur Seite zu drehen. Unmöglich!
Seine Kehle brannte. Wieder war da dieses Röcheln. Er atmete! Warum fühlte er es nicht? Sein Körper atmete, aber nicht mehr durch Mund oder Nase!
Seine Zunge lag wie ein großes, taubes Stück Fleisch in seinem Mund. Sie war riesig! Er konnte sie kaum bewegen. Mit ihrer Spitze ertastete er dünne Fädchen zwischen seinen Zähnen. Ein bitterer Geschmack füllte seinen Mund. Jetzt erinnerte er sich. Die Bienen! Das waren keine Fädchen! Es waren Beine. Er hatte versucht, die Bienen, die in seinen Mund gedrungen waren, mit Zähnen und Zunge zu zermalmen. Er erinnerte sich an den Dolch. Lyndwyn! Sie hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Das war die Erklärung für alles. Er war tot!
»Ruhig«, ermahnte ihn eine vertraute Stimme. Etwas strich sanft über seine Stirn. »Er ist zu sich gekommen!« Von jenseits des Feuers drang eine Antwort, die er nicht verstand. Alle Geräusche waren gedämpft.
»Du solltest dich nicht bewegen, Schwertmeister.« Ein Kopf, gerahmt von kurzen, blonden Haaren, beugte sich über ihn, und ein Antlitz, entstellt von wuchernden roten Beulen, lächelte auf ihn hinab. Ollowain vermochte Yilvina allein an ihrer Stimme und an den Haaren zu erkennen. Auch ihre Augen waren zugeschwollen. Sie starrte ihn durch schmale Schlitze an, die es unmöglich machten, ihre Augenfarbe zu erkennen. »Wir sind gerettet. Lyndwyn hat uns hierher gebracht.«
Ollowain wollte fragen, wo sie waren, doch aus seiner Kehle drang nur ein Röcheln. Er versuchte es noch einmal. Nichts. Er wollte sich aufsetzen. Das Röcheln wurde heftiger. Sein Körper gehorchte ihm nicht. Er fühlte sein Herz rasen. Was war mit ihm geschehen?
Yilvina drückte ihn zurück. »Ruhig. Du wärst fast gestorben. Lyndwyn musste dir in die Kehle schneiden, damit du nicht erstickst.«
Ollowain wollte nach seinem Hals tasten. In die Kehle geschnitten! Was war mit ihm geschehen? Wieder brachte er nur ein Röcheln hervor. Hatte ihm diese verfluchte Magierin die Stimme geraubt?
Yilvina zog eines ihrer Kurzschwerter und hielt die Klinge so, dass er seinen Hals in dem spiegelnden Metall sehen konnte. Ein Schilfrohr war dort mit einem Gespinst dünner Lederriemen befestigt. Es schien tief in seinem Fleisch zu stecken. Ollowains Brust hob und senkte sich. Wieder war dieses seltsame Röcheln zu hören. Er atmete durch das Rohr! Wie war das möglich? Was hatte Lyndwyn mit ihm gemacht?
»Ganz ruhig.« Yilvina legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie wird dich heilen. Es dauert nur noch ein wenig.« Die Kriegerin senkte jetzt die Stimme. »Sie ist ungeheuer mächtig. Ihre Kräfte scheinen niemals zu versiegen. Sie hat Rauch erschaffen und damit die Gärtnerbienen aus der Nähe des Nachens verscheucht. Und dann hat sie das Bienengift aus unserem Blut verbannt. Für die meisten von uns kam ihre Hilfe jedoch zu spät. Nur Silwyna, Orimedes und Gondoran leben noch. Und die Königin. Die Bienen haben ihr nichts getan. Und doch ... Sie liegt da, als sei sie tot.« Yilvina schüttelte entmutigt den Kopf.
»Lyndwyn sagt, man soll sich keine Sorgen machen. Sie hat die Wunde in Emerelles Brust geschlossen.«
Wo ist Lyndwyn jetzt?, wollte Ollowain fragen. Und er wollte die Königin sehen. Doch sein Körper war ihm zum Gefängnis geworden. Er schloss das Auge und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Sicherlich kam es Lyndwyn gelegen, dass er so hilflos war. Sie würde sich Zeit damit lassen, ihn zu heilen. Unruhig lauschte er auf seinen rasselnden Atem. Das Geräusch veränderte sich. Es klang ... klebriger. Oder bildete er sich das ein? Er sollte schlafen! Seine Wunden waren stets gut verheilt, auch ohne die Hilfe von Zauberei.