Der Schwertmeister stieß einen gurgelnden Laut aus und fluchte in sich hinein.
Orimedes brachte ihn zurück zur Höhle. Dabei hielt der Pferdemann ihn dicht an seine Brust gepresst. Ein dünner, klebriger Schweißfilm lag auf der Haut des Kentauren. In diesem Augenblick war Ollowain froh, dass er nichts riechen konnte.
Behutsam legte der Fürst ihn wieder auf den sandigen Boden. Der Schwertmeister versuchte sich aufzusetzen. Vergebens.
»Denkst du auch, dass wir die Insel verlassen sollten?«, fragte Lyndwyn.
JA, schrieb er in den Sand.
»Hier in der Höhle befindet sich ein großer Albenstern. Sieben Pfade laufen dort zusammen. Ich habe ihn bereits erkundet. Etwas Seltsames geht mit den Albenpfaden vor sich.« Die Magierin machte eine vage Geste in Richtung der Stadt. »Jemand ist im Netz der Wege und zertrennt alle Pfade, die zum Herzland führen. Wir können nicht zurück auf Emerelles Burg. Wer immer dort sein Unwesen treibt, muss über große Macht verfügen, wenn er das Werk der Alben zerstören kann. Ist es klug, das Wagnis einzugehen, die Albenpfade zu beschreiten? Und wohin sollten wir gehen?«
Ollowains Finger glitten über den Sand. Es gab einen Ort, an dem die Trolle nicht suchen würden.
Lyndwyn sah ihn erschrocken an. »Bist du dir sicher?«
»Wohin will er?«, fragte Silwyna scharf.
Ollowain wischte den Namen aus. Er dachte an die Pfeile, die er im Köcher der Maurawani gesehen hatte. Sie sollte nicht erfahren, wohin sie gingen! Sie mussten schnell aufbrechen. Niemand hier sollte Gelegenheit haben, ihren Verfolgern ein Zeichen zu hinterlassen. Warum waren ihre Feinde schon wieder so nah? Gab es einen Verräter unter ihnen? Oder lag es, wie Silwyna sagte, einfach nur daran, dass sie so gute Jäger waren? Er würde kein Risiko eingehen. Er musste sie alle beschäftigt halten, und vor allem mussten sie schnell aufbrechen. AUFBRUCH, schrieb er in den Sand.
Seine Finger verwischten das Wort.
ORIMEDES TRAG DIE KÖNIGIN
Er hoffte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Aber welche Wahl hatten sie? Sie konnten sich jetzt nicht den Trollen stellen! Sie mussten fliehen, und nur Lyndwyn konnte ihnen diesen letzten Weg eröffnen. Wieder war er gezwungen, ihr zu vertrauen. Sie brauchten jetzt Zeit, um ihre Wunden zu versorgen und der Königin zu helfen. Wenn es Emerelle erst einmal besser ging, würde sie schon wissen, was zu tun war.
»Dann lasst uns gehen«, sagte die Magierin mürrisch. Orimedes nahm die Königin auf die Arme. Die Jägerin und die Kriegerin stützten Ollowain. Gondoran lief neben ihnen her. Er wirkte niedergeschlagen.
Das Meer hatte den Fels ausgewaschen und einen tiefen Tunnel unter den Berg gegraben. Zersplitterte Muscheln knirschten unter ihren Schritten. Obwohl der Eingang schon weit hinter ihnen lag, war es immer noch hell. Der weiße Fels schien von innen heraus zu leuchten wie die Wände in Emerelles Palast. Er wirkte durchscheinend. Blassblaues Licht durchdrang ihn. Goldene Adern durchzogen das Gestein. Sie waren zu komplizierten Mustern verwoben. Spiralen und Knoten schienen dem Kundigen eine geheime Botschaft übermitteln zu wollen. Der Schwertmeister spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Er war nicht sehr begabt, was die Zauberei anging, doch selbst er fühlte die Kraft der uralten Magie, von der dieser Ort durchdrungen war.
Schließlich öffnete sich der Tunnel zu einer großen, runden Kammer. Hier mengten sich schwarze Adern unter das Gold in den Wänden. Lyndwyn trat in die Mitte der Felskammer und kniete sich auf den Boden. Die linke Hand presste sie flach auf den Stein, die Rechte legte sie auf ihre Brust. Sie schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich.
Ollowain war sich nur zu bewusst, wie sehr sie der Magierin ausgeliefert waren. Er musste ihr folgen, wenn sie die Gruppe über die Pfade des Lichts führte. Wohin Lyndwyn sie brachte, würden sie erst sehen, wenn sie durch das zweite Tor traten.
Ein Bogen aus Licht wuchs aus dem Boden. Mit ihm erhoben sich die schwarzen und goldenen Adern; wie lebendige Wesen tanzten sie im Stein. Das blaue Licht wurde immer heller. Der Fels war wie Glas. Man konnte durch ihn hindurch bis zum Meer sehen. Ein großer Schwarm Kormorane erhob sich aus dem Zeugenbaum am Eingang der Bucht und flog auf das Meer hinaus. Ein Zeichen? Es war Zeit zu gehen!
Ollowain bewegte den Kopf in Richtung des Lichtbogens. Yilvina trat nicht zum ersten Mal durch einen Albenstern. Mit ihr war er in Aniscans gewesen. Jahrelang hatten sie die Welt der Menschen bereist. Doch die Schwertkämpferin wirkte angespannt. Sie hatte ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Gemeinsam traten sie durch die Pforte. Finsternis legte sich wie ein alles erstickender Mantel um sie. Nur ein schmaler, goldener Pfad leuchtete zu ihren Füßen.
»Weicht nicht vom Weg ab!«, hörten sie die Stimme der Magierin hinter sich. »Wer den Pfad verfehlt, ist auf immer verloren.«
Das Geschenk der Freiheit
Die Leiche der falschen Königin war mit zwei Stricken auf den Schild Branbarts gebunden worden. Ihr Kopf hing leicht zur Seite. Damit die Krone nicht herabfiel, hatte man sie mit dünnen Nägeln an ihren Schädel geheftet. Der Schild lehnte an der rußgeschwärzten Säule, die sich in der Mitte des Muschelfischermarktes erhob. Jeder, der vorüberging, konnte die Schwanenkrone deutlich erkennen. Und glaubte man Skanga, sollte die Krone allein reichen, jedes Auge zu blenden. Die verbrannte Tote sah Emerelle ähnlich genug. Die Albenkinder sollten in einigen Schritt Abstand an der vermeintlichen Leiche vorbeigeführt werden. Zu ihren Füßen lagen der falsche Ollowain und andere, wahrhaftige Fürsten Albenmarks.
Orgrim fand diesen Betrug eines Trolls unwürdig. Er vermutete, dass die alte Schamanin die Intrige ersonnen hatte. Dass er zu den Wachen gehörte, die bei der Königin standen, war allerdings gewiss Branbarts Idee gewesen. Von hier aus sah er all die Herzöge und Rudelführer, die sich zum Siegesfest um den König geschart hatten. Deutlicher konnte man ihm seinen Fall nicht vor Augen führen. Auch Gran und Boltan gehörten zu den Wächtern der Leichen. Süßlicher Verwesungsgeruch ging von den Toten aus. Die Hitze und die unzähligen Fliegen hatten den Kadavern bereits übel mitgespielt.
Auf dem weiten Platz herrschte ängstliche Stille. Alle Albenkinder, welche die Eroberung Vahan Calyds überlebt hatten, waren hier zusammengetrieben worden. Nur ihre Fürsten wurden an einem anderen Ort gefangen gehalten. Viele waren verwundet und am Ende ihrer Kräfte. Manche warteten schon seit Stunden in der Hitze. Im Morgengrauen hatten die Trolle damit begonnen, die Überlebenden hierher zu treiben.
Auf Branbarts Geheiß hatte man Wasserfässer und Brot gebracht. Doch dem König war es nicht gelungen, durch diese freundliche Geste die Angst zu vertreiben. Kaum jemand wagte es, dem Blick eines Trolls zu begegnen. Wie hatten diese Wichte sie einst besiegen können, fragte sich Orgrim.
Der Ruf von Hörnern durchbrach die Stille. Branbart trat aus der Gruppe seiner Anführer hervor und stellte sich neben die Tote mit der Schwanenkrone. Geräuschvoll zog er die Nase hoch und spuckte aus.
»Albenkinder!«, rief er mit lauter Stimme. »Ich bin gekommen, euch die Freiheit zu schenken. Die Tyrannin ist tot!« Er wandte sich halb zu Emerelle herum, und plötzlich rammte er der Toten die Faust in die Brust. Ihre dünnen Rippen zerbarsten. Stinkende bräunliche Flüssigkeit troff von der Wunde. Branbarts Finger wühlten in der Brust der Toten. Dann riss er den Arm hoch und streckte den Albenkindern einen fauligen klumpen Fleisch entgegen. »Ein verrottetes Herz hat Albenmark vergiftet!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.
»Ich habe es herausgerissen, damit das Land wieder gesunden kann. Die Alben haben nie gewollt, dass eines ihrer Kinder über allen anderen steht. Dass einer von uns allein entscheidet, was Recht und was Unrecht ist. Dass eine allen sagt, wie sie leben sollen, und jene, die ihr nicht gehorchen, davonjagt oder gar ermordet. In der letzten Nacht haben wir Trolle altes Unrecht gesühnt. Doch wir führen keinen Krieg gegen Albenmark. Wir kämpfen allein gegen Emerelle und gegen alle, die der Tyrannin treu ergeben sind. Deshalb seid ihr frei zu gehen. Kommt her, seht der toten Königin ins Antlitz und tragt die Kunde in alle Winde hinaus. Die Völker Albenmarks sind frei. Ich bin der König meines Volkes, doch die Schwanenkrone wird niemals mein Haupt krönen. Und niemand wird sich mehr vor ihr verbeugen.«