Ihr Führer brachte sie zu einer Fährte, die ein Stück von ihrem Landungsplatz entfernt den Strand hinauf lief. »Es waren ein Kentaur, ein Kobold oder Holder und drei Elfen, die selbst gelaufen sind«, erklärte der Kundschafter. »Dort drüben liegt ihr Nachen. Ein seltsames Boot. Es hat Holzscheiben im Rumpf, die man herausnehmen kann. Mir ist es ein Rätsel, wozu das gut ist. Vielleicht um den Nachen bei Gefahr schnell zu versenken?«
Orgrim dachte an die Geschichten über die eigentümliche Sänfte der Elfenkönigin, die er den Tag über aufgeschnappt hatte. Er blickte zu Skanga. Die alte Schamanin hatte jetzt etwas Wölfisches. Den Kopf vorgestreckt, wirkte sie wie ein Raubtier, das Witterung aufnahm. Gewiss hatte auch sie von der Sänfte der Königin gehört.
»Wann sind sie hier angekommen, Brud?«
»Mit dem höchsten Stand der Flut am frühen Nachmittag.« Der Kundschafter wies zu einem dunklen Höhleneingang.
»Dort drüben haben sie gelagert. Die Glut war noch nicht verloschen, als wir ankamen. Ich schätze, wir haben sie um höchstens eine Stunde verpasst, Ehrenwerte.«
Die Schamanin rieb sich über ihr breites Kinn. »Habt ihr das Schiff sofort zurückgeschickt?«
»Ja, Skanga. Ganz wie du es befohlen hast. Von der Höhle führt ein Tunnel zu einem Ort der Macht... Wir haben ihn nicht betreten, aber man konnte ihn auch vom Tunnel aus gut einsehen.« Der Kundschafter schlug ein Zeichen gegen Geister. »Der Fels dort leuchtet. Es ist ein unheimlicher Platz. Es führt nur ein Weg dorthin. Die eisenbeschlagenen Hufe des Kentauren haben feine Spuren auf dem Felsboden hinterlassen. Zumindest ist er zu diesem Ort der Macht gegangen und nicht zurückgekehrt. Es scheint, als habe ihn der Berg verschlungen und die übrigen mit ihm. Sie haben zwar keine Spuren auf dem Felsen hinterlassen, aber in der Zeit, in der wir auf dich warteten, Skanga, haben wir die ganze Insel abgesucht. Hier ist niemand mehr. Wir werden uns noch ein paar Küstenhöhlen ansehen, in die man nur bei Ebbe gelangt, doch ich bin mir sicher, dass unsere Beute auf und davon ist.«
Brud hatte sie inzwischen in eine niedrige Höhle geführt. Orgrim musste den Kopf einziehen, um nicht an die rußgeschwärzte Decke zu stoßen. Ihr Führer deutete auf die Feuerstelle und auf zwei flache Mulden im Sand. »Zwei der Flüchtlinge haben sich hier niedergelegt. Ich habe den Verdacht, dass sie zwei Verwundete dabei haben, die nicht aus eigener Kraft laufen können. Dann wären es also insgesamt sieben.«
»Eine magische Zahl«, murmelte Skanga. »Ein starker Bund. Nicht zu teilen.« Die Schamanin ging neben der kleineren der beiden Mulden in die Hocke und strich mit den Fingern durch den Sand. Orgrim fragte sich, ob sie die Macht hatte, mit den Sandkörnern zu reden. Den Blick in sich gekehrt, schien die Schamanin alles um sich herum vergessen zu haben. Bewegten sich ihre Lippen? Zauberte sie?
Plötzlich stutzte Skanga. Mit spitzen Fingern zog sie etwas aus dem Sand, das wie ein kleines Stück von einem welken Blatt aussah.
»Was ist das?«, fragte Brud.
Skanga lächelte und zerrieb ihren Fund zwischen den Fingern. »Ein Stück von einem verbrannten Schmetterlingsflügel. Bring mich jetzt zu dem magischen Ort und lass auch die Elflein und die Kiste im Boot dorthin schaffen.« Mit einem lang gezogenen Seufzer richtete sie sich auf. »Ach, Brud. Dies hier ist Orgrim. Ich denke darüber nach, ihn zum Rudelführer auf der Geisterwind zu machen.«
Der Kundschafter blickte kurz zu Orgrim. »Ich habe schon von ihm gehört«, war alles, was er sagte.
Orgrim fluchte stumm. Ja, alle hatten schon von ihm gehört! Von dem glücklosen Rudelführer, dem die Elfen das Schiff versenkt hatten. Er wünschte sich, er würde mit der Donnerer zusammen auf dem Meeresboden liegen. Und die Aussicht, zum Rudelführer auf der Geisterwind zu werden, stimmte ihn alles andere als glücklich. Das war kein Kommando. Das war der Abstieg zum Speichellecker der launischen Schamanin. Er sollte sehen, dass er so schnell wie möglich aus ihrer Reichweite kam!
»Orgrim?« Sie winkte ihm. »Wir sehen uns jetzt diesen Ort der Macht an, wo unsere Jagdbeute im Felsen verschwunden ist. Du hast doch keine Angst, nicht wahr?«
Der Troll straffte sich und stieß mit dem Kopf leicht gegen die Höhlendecke. »Ich habe mein Schiff durch das Nichts geführt. Warum sollte ich eine Höhle fürchten?«
»Tja, warum solltest du?« Skanga lachte leise und auf eine Art, die dem Troll Schauder über den Rücken jagte. »Nur eine Höhle, nicht wahr? Was sollte da schon geschehen?«
Orgrim fand schneller Gelegenheit, seine Worte zu bereuen, als er sich hätte träumen lassen. Brud führte sie in einen Tunnel, in dem man nur noch gebückt gehen konnte. Sie waren umschlossen von weißem Gestein. Zunächst brauchten sie noch Fackeln, um sich zurechtzufinden. Doch bald schon veränderte sich das Gestein auf unheimliche Weise. Es begann von innen heraus zu leuchten. Die Grenze zwischen Luft und Stein schien zu verschwimmen. Der Fels wurde blassblau und durchscheinend. Er hatte eine Farbe wie der Himmel an einem klaren Sommertag. Doch er war noch da, wie Orgrim schmerzhaft feststellen musste, wenn er vergaß, den Kopf einzuziehen. Er konnte weit in den Felsen hineinsehen. Goldene Adern durchzogen das lichte Gestein. Sie alle strebten einem Punkt entgegen, der irgendwo am Ende des Tunnels lag.
Je länger Orgrim hinsah, desto mehr bekam er das Gefühl, dass die Adern im Stein sanft vibrierten. Ganz so, als seien sie lebendig. Seine Nackenhaare sträubten sich. Die Vorstellung, sich nicht durch einen Tunnel im Felsgestein zu bewegen, sondern inmitten von etwas Lebendem zu sein, jagte ihm Angst ein. Das war, als seien sie gefressen worden. Mit jedem Schritt konnte er Brud besser verstehen, der es nicht gewagt hatte, die Höhle am Ende dieses Tunnels zu betreten. War sie so etwas wie ein steinerner Magen? Und würde von ihnen nichts bleiben als ein Rülpser, der durch den Tunnel hinaus zum Strand hallte, wenn sie die Höhle betraten? Orgrim schalt sich stumm einen Narren. Skanga würde sich niemals herwagen, wenn hier eine tödliche Gefahr lauerte. Oder hatte sie sich durch einen Zauber geschützt?
Am Ende des Weges lag nur ein Albenstern, redete sich Orgrim ein. Ein magischer Ort, ja, aber von ihm ging keine unmittelbare Gefahr aus. Es war eine Pforte zu den Pfaden der Alten. Er kannte das doch! Er hatte sein Schiff sicher über einen Albenpfad gebracht! Nur, dass das Tor auf See völlig anders ausgesehen hatte. Da war nichts gewesen, bis Skanga einen Bogen aus Wasserdampf hatte aufsteigen lassen, der in allen Regenbogenfarben geglänzt hatte. Groß genug war er gewesen, dass selbst das Schiff Branbarts hindurchgepasst hatte und noch viele Schritt Raum zwischen den Mastspitzen und dem Scheitel des Bogens geblieben waren.
Orgrims Schritte wurden unsicherer. Er erkannte zwar noch vage den Boden der Höhle, aber auch dort war der Fels durchscheinend geworden, und er hatte das Gefühl, als laufe er durch den Himmel. Unter ihm lag eine bodenlose Tiefe, während er durch die Felswände bis hinaus zur mondbeschienenen See blicken konnte.
Magischer Schnickschnack, sagte sich der Troll. Das haben die Elfen ersonnen, um Trollen wie mir Angst einzujagen. So leicht würde er es ihnen nicht machen. Trotzig reckte er das Kinn vor und stieß sich wieder den Kopf. Jetzt heftete er seinen Blick fest auf den Rücken Skangas, die unmittelbar vor ihm ging. Endlich weitete sich der enge Tunnel, und sie traten in eine Höhle. Hier waren auch schwarze Adern im durchscheinenden Felsgestein zu sehen. Sie waren wie Zöpfe mit den goldenen Adern verflochten.
»Bringt die Elfen hierher«, kommandierte Skanga die Ruderer. »Und schafft die Kiste heran.«
Brud und seine Kundschafter setzten keinen Fuß in die Höhle. Wussten sie es besser?, fragte sich Orgrim. Neugierig sah er sich um. Er spürte ein seltsames Prickeln auf der Haut wie kurz vor einem Sommergewitter. Ein unangenehm metallischer Geruch lag in der Luft. Und der Duft von Salz, Tang und Meer.