Orgrim hatte das Gefühl, dass diese Schattenwesen die Schamanin verstanden. Sie hielten inne, und auch wenn sie keine sichtbaren Augen oder Ohren hatten, schienen sie ihre Sinne auf den weißen Kreis zu richten. »Ich werde den Bann der Alben von euch nehmen, sodass ihr durch ihre Sterne schreiten könnt, ohne dass man euch gerufen hat. Und ich leihe euch zwei Körper, stark und von Magie durchdrungen, damit ihr das Leben fühlen könnt. Dafür verlange ich lediglich, dass ihr für mich Emerelle findet, bevor der nahende Winter vorüber ist. Ich will sie lebendig. Und ich selbst werde sie holen kommen. Euer Lohn wird das Licht von hundert Albenkindern sein. Ich werde euch ein unvergessliches Festmahl bereiten. Ihr werdet so viel Macht gewinnen, dass ihr fortan aus eigener Kraft auf die Jagd gehen könnt. Alle Fesseln, die euch jetzt noch halten, werden abgestreift sein.«
Eine der Gestalten wandte sich abrupt um. Sie strich um den roten Kreis. Dann schnellte eine Pfote vor. Dunkle Krallen glitten über eine unsichtbare Wand. Ein grässliches Knirschen erklang, so als ziehe man einen scharfkantigen Stein über eine Stahlklinge.
Orgrim hielt den Atem an. Der Schatten streckte eine zweite Pfote aus und zog sich an der unsichtbaren Barriere hoch. Orgrim kämpfte den Impuls nieder, einen Schritt zurückzuweichen. Wenn er den Bannkreis verließ, war er verloren. Ängstlich starrte er zu Boden. War die dünne, rote Linie wirklich lückenlos? Unter ihm pulsten die schwarzen Adern im durchscheinenden Fels. Sie waren zahlreicher geworden.
Das Schattenwesen ließ von ihm ab. Die beiden Kreaturen strichen nun wieder um den weißen Kreis. »Sind wir handelseinig?« fragte Skanga fordernd.
Orgrim konnte keine Antwort hören. Dennoch verwischte die Schamanin einen Teil des Bannkreises mit dem Fuß. Ein Schatten glitt durch die Lücke und schnupperte an den beiden wehrlosen Elfen. Der zweite pirschte in Skangas Rücken.
»Vorsicht!«, schrie Orgrim.
Die Schattengestalt hatte sich aufgerichtet und schnappte nach Skangas Nacken. Weißes Licht flackerte auf. Ein Geruch wie verbranntes Fell breitete sich aus. »Kinderchen, glaubt ihr, ich würde euch rufen, wenn ich mich nicht zu schützen wüsste?« Sie griff nach dem Schatten und zwang ihn ohne Mühe zu Boden. »Den Bannkreis habe ich nur gezogen, damit ihr euch nicht zu schnell an die Elflein heranmacht. Nun nehmt ihre Körper! Ihr wisst, was ich von euch erwarte!«
Die Schatten kauerten über den beiden Gefesselten. Orgrim brauchte eine Weile, bis er erkannte, was dort vor sich ging. Er hatte damit gerechnet, dass die widerlichen Kreaturen die Elfen zerreißen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Shahondin und sein Sohn atmeten die Schatten ein. In dünnen Schlieren drangen sie den beiden durch die Nase. Ganz langsam verblassten die Schattengestalten, bis sie schließlich ganz verschwunden waren. Die Elfen lagen wie tot. Skanga trat in den Bannkreis, durchtrennte ihre Fesseln und zog ihnen die Knebel aus den Mündern. »Du kannst jetzt zu mir kommen, Orgrim. Es besteht keine Gefahr mehr für dich.«
Die Worte waren Skanga kaum über die Lippen gegangen, als sich Vahelmin mit einem Schrei aufsetzte. Er griff nach seinem Gesicht. Sein Antlitz verformte sich so, als stecke etwas unter seiner Haut, das ihm mit Gewalt ein neues Aussehen geben wollte. Die Kiefer drückten sich nach vom. Seine Hände krallten sich in das zuckende Fleisch. Die Stirn des Elfen wurde flacher und wich zurück. Vahelmins feines Seidenhemd zerriss. Muskelstränge, dick wie Schlangen, wanden sich unter der Haut seiner Schultern. Aus seinen Fingerspitzen brachen Krallen. Er warf sich herum und kauerte nun auf allen vieren wie ein Tier. Sein Rücken krümmte sich. Arme und Beine wurden dünner und länger. Inzwischen hatte auch Shahondin begonnen sich zu verändern. Wie bei seinem Sohn verwandelte sich sein Leib. Lange Kiefer mit weißen Reißzähnen schoben sich aus seinem Gesicht. Sein verlorenes Auge füllte sich mit einer blutig roten Kugel.
Als die unheimliche Verwandlung beendet war, kauerten zwei riesige Bestien in dem Kreidekreis. Die Schatten waren keine körperlosen Schemen mehr, doch sie waren nicht wirklich Gestalten aus Fleisch und Blut geworden. Die Geschöpfe sahen ein wenig aus wie Wölfe, nur dass sie groß wie Pferde, jedoch viel hagerer waren. Sie hatten kurzes weißes Fell, sehr lange Schnauzen, und ihre Ohren erinnerten ein wenig an Elfenohren. Blauweißes Licht umspielte sie, und man konnte durch sie hindurchsehen, so wie durch die Felswände dieser Höhle. Orgrim fragte sich, ob die Magie dieser Höhle Einfluss gehabt hatte auf ihre Erscheinung.
»Weder Klaue noch Zahn kann euch etwas anhaben«, sagte Skanga feierlich. »Noch der Silberstahl der Elfen. Doch hütet euch vor dem Eisen der Kobolde. Ihre Waffen vermögen euch zu verletzen.« Die Schamanin wandte sich zu Orgrim um. »Sind sie nicht hübsch geworden, meine Kinderchen?«
»Sie sehen gefährlich aus«, entgegnete der Troll ausweichend.
Skanga lachte. »Gefährlich! Das sind reißende Bestien. Sie zerren dir dein Licht aus dem Körper, die Essenz deines Seins, das, was wiedergeboren werden kann. Wenn sie dich anfallen, schlagen sie keine Wunden. Doch am Ende wirst du aussehen wie Maruk.« Sie deutete auf den Kadaver aus Haut und Knochen, der noch im Bannkreis lag. »Sie zerstören nicht deine fleischliche Hülle wie andere Raubtiere. Sie vernichten dich gänzlich. Vor allem die Elfen, die häufiger wiedergeboren werden als alle anderen Albenkinder, fürchten sie. Sie nennen diese Ausgeburten der Finsternis Shi-Handan, das heißt Seelenfresser, Wer immer so dumm ist, Emerelle Zuflucht zu gewähren, der wird es bereuen.« Sie bedachte die beiden Bestien mit einem herzlichen Lächeln. »Tötet aus ihrem Gefolge, wen immer ihr mögt. Nur die Königin ist euch verboten.«
»Shahondin und Vahelmin sind ihre ersten Opfer?«
»Nein!« Die Schamanin schüttelte so entschieden den Kopf, dass die Amulette auf ihrer Brust leise klapperten. »Sie können uns hören. Ihr brennender Hass treibt die Shi-Handan an. Sie leben weiter in ihnen. Ich kann ihnen sogar ihre Gestalt zurückgeben.« Skanga lächelte keck. »Hört ihr? Im Grunde habe ich euch einen Gefallen getan. Ihr könnt Tod und Verderben unter das Gefolge der Königin tragen und Emerelles Untergang bewirken, ohne dass euch jemand erkennen würde. Niemand weiß um euren Pakt mit mir. Tut, was ihr schon immer tun wolltet. Und als Lohn erhaltet ihr eure Körper zurück. Die Seelenfresser werden euch nicht mehr brauchen, wenn ich sie mit dem großen Opfer belohne. Schau dir ihre Augen an, Orgrim. An ihnen kann man erkennen, dass jetzt zwei Seelen in den Shi-Handan leben.« Sie winkte die Seelenfresser zu sich heran.
Der Troll musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um vor den Ungeheuern nicht zurückzuweichen. Ein eisiger Luftzug streifte ihn, als die beiden Kreaturen um ihn strichen. Eine hatte ein blaues und ein blutrotes Auge. Und aus jedem Auge starrten ihn zwei schwarze Pupillen an.
»Geht nun, meine Kinderchen. Ich wünsche euch eine gute Jagd!« Skangas Geschöpfe gehorchten ihr wie gut abgerichtete Jagdhunde. Ohne zu zögern, stürmten sie in die Dunkelheit jenseits der goldenen Pforte.
»Wirst du Shahondin und Vahelmin wirklich zurückverwandeln können?« Die Schamanin zuckte leichthin mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich glaube eher nicht, dass eine Trennung möglich ist. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig war nur, dass die beiden Elflein mir glauben. Auch die Sache mit dem Auge habe ich nur getan, um sie zu verängstigen. Im Grunde schätze ich lauwarme Augen nicht als kleinen Happen zwischendurch. Aber wer sich fürchtet, der ist umso eher bereit zu glauben. Shahondin war ein harter Bursche. Und er verstand etwas von Magie. Unter anderen Umständen hätte er sich nicht gefügt. Er lebt tatsächlich in dem Shi-Handan weiter. Deshalb war es wichtig, dass er glaubt, es gäbe noch einen Weg zurück. Sein Geist wird die Bestie im Zaum halten, wenn sie Emerelle finden. Er wird es sein, der dafür verantwortlich ist, dass wir sie lebend fangen. Und nun folge mir, Rudelführer. Sobald der Stand der Flut es erlaubt, will ich zurück an Bord der Geisterwind. Dort wartet ein neues Schiffskommando auf dich.«