Ollowain tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
»Habe ich dir schon Gondoran vorgestellt, den Bootsmeister meines Palastes?«, fragte Emerelle beiläufig. »Es war seine Idee, diesen Nachen zur Sänfte umzubauen.«
»Sehr originell«, entgegnete der Schwertmeister knapp. »Vielleicht wäre es doch besser, sich zu Pferde zum Hafen zu begeben.«
Gondoran funkelte Ollowain böse an. Zugleich wirkte er überrascht. Einen Augenblick lang zumindest. Vermutlich hatte der Vorschlag, Pferde zu nehmen, ihn aus der Fassung gebracht.
»Nein!«, sagte Emerelle leise, doch in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie nicht weiter über diese Entscheidung zu sprechen wünschte.
Der Anführer der Holden grinste triumphierend. Dann befahl er seinen Männern, die Spitze des Mastes umzulegen, damit die Sänfte durch den langen Tortunnel hinab zu den Kais getragen werden konnte.
»Im Schritt marsch!«, kommandierte der Kentaurenfürst. Er ging auf Höhe des Mastes neben ihnen her. Ollowain sah, wie die Last der Sänfte auf seine Schultern drückte. Orimedes drehte ihm den Kopf zu. Der Kentaur hatte eine breite Nase, die ihm offensichtlich schon mehrfach eingeschlagen worden war. Durch seine linke Braue lief eine weiße Narbe. Ein schlecht gepflegter, blonder Bart rahmte sein Gesicht. Um das Kinn herum war das Haar von vergossenem Wein verfärbt. Über die nackte Brust des Pferdemannes lief ein breiter, goldbeschlagener Schwertgurt, und um den linken Oberarm trug Orimedes einen Dolch gegürtet. Alle Kentauren stanken nach Wein, Schweiß und Pferdehaar.
Langsam setzte sich die Kolonne in Bewegung. Ein Trupp Reiter kam von einem der anderen Höfe herbei und schloss sich ihnen an, prächtig herausgeputzte junge Elfen, deren Rösser von Faunen am Zügel geführt wurden. Ollowain kannte die meisten von ihnen nur flüchtig. Sie waren Gäste des Palastes, und es hatte keine Möglichkeit gegeben, sie dort zurückzulassen.
Der Tunnel hallte wider vom Tritt der Hufe. Die Luft hier drinnen war stickig. Es roch nach verfaulten Pflanzen und altem Stein. An manchen Stellen wucherte grünlich leuchtendes Pilzgeflecht an den Wänden. Kleine Eidechsen suchten in den Mauerspalten Zuflucht, als die Reiterkolonne vorüberzog.
Das Rufen von Muschelhörnern begrüßte sie von allen Türmen der Stadt, als sie den Tortunnel schließlich hinter sich ließen. Die Straße war voller jubelnder Albenkinder, nur unmittelbar vor der Sänfte der Königin öffnete sich eine Gasse in dem Gedränge. Bocksbeinige Faune mit wilden Bärten trugen Koboldkinder auf den Schultern, die sonst zwischen all den trampelnden Beinen verloren gegangen wären. Am Ende der Straße sah Ollowain sogar einen Frostriesen, der ganz offensichtlich unter der Hitze litt und sich mit einem segelgroßen Fächer Kühlung verschaffte. Zwischen den zerbrochenen Säulen eines verfallenden Turms standen drei Oreaden, Bergnymphen, die nur sehr selten die Ioliden verließen. Wunderschöne Apsaras tanzten auf dem Wasser eines großen Brunnens wie auf Parkett. Sie waren ein wenig üppiger als Elfenfrauen. Ihre nackten Leiber hatten sie mit Bandag bemalt; schlangengleich wanden sich Glyphen auf ihrer Haut. Es hieß, sie schrieben sich ihre geheimsten Wünsche auf den Leib, und wer die arkane Schrift zu entschlüsseln vermochte, dem blieben sie treu, bis der Weg ins Mondlicht die Entrückten auf immer von den Suchenden trennte.
Eine Koboldkapelle brach aus der Phalanx der Schaulustigen hervor. Sie alle hatten weiße Lotosblüten an ihre Mützen gesteckt, was in Anbetracht der Launenhaftigkeit des kleinen Volkes einer Uniformierung gleichkam. Einige Takte lang folgten die Trompeten, Trommeln, Rasseln und Triangeln den Vorgaben des Kapellmeisters, bis dessen Bart plötzlich wild zu wuchern begann und er sich mit dem Taktstock darin verhedderte. Während der Kobold fluchend stürzte und die Melodie der Kapelle in lautstarkes Scheppern zerfloss, sah Ollowain zwei Lutins zwischen den Beinen einiger hünenhafter Minotauren verschwinden. Dieses fuchsköpfige Koboldvolk war berüchtigt dafür, dass sie keinen derben Scherz ausließen und ihre außergewöhnlichen magischen Kräfte stets nur nutzten, um damit Schabernack zu treiben. Besorgt blickte der Schwertmeister zur Sänfte der Königin. Die Holden richteten gerade die Mastspitze wieder auf und hissten das Elfenbanner, ein goldenes Ross auf grünem Grund. Die Sänfte schwankte wie ein Boot in leichter Dünung, während die Kentauren sich einen Weg durch die Schaulustigen bahnten.
Ollowain hielt sich dicht bei der Königin. Ruhelos hetzte sein Blick über die Menge und dann wieder zu den Terrassen der anderen Paläste, an denen sie vorbeikamen. In dem Nachen schwebten sie hoch über den Köpfen all der Schaulustigen ringsherum. Es war ein Albtraum! Die Königin bot ein kaum zu verfehlendes Ziel für den Mörder, der irgendwo hier draußen lauerte.
Ollowain versuchte ein weiteres Mal, sich in den Meuchler hineinzuversetzen. Wie würde er es anstellen, wenn er Emerelle töten wollte? Von diesem Auftritt in der Sänfte hatte der Mörder unmöglich wissen können. Ollowain selbst hatte erst am Nachmittag davon erfahren. Nur den Holden, die das Boot vorbereitet hatten, war die Absicht der Königin schon länger bekannt. War es denkbar, dass jemand von ihnen das Geheimnis verraten hatte?
Ollowain ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Es war aussichtslos. Der Attentäter würde ihm immer einen Schritt voraus sein. Er konnte nur reagieren, während der Mörder tausend Möglichkeiten hatte.
Ein Schwarm kleiner Auenfeen stieß aus dem Nachthimmel hinab. Kaum größer als Libellen, umschwirrten sie die Königin und bestäubten ihr Haar mit parfümiertem Blütenstaub. Hunderte Schmetterlinge lösten sich aus dem Kleid der tausend Augen und stiegen auf, um mit den Auenfeen in schillerndem Farbenreigen zu tanzen. Emerelle lachte und winkte der Menge zu.
Blütenblätter wurden von den Terrassen der Paläste geworfen. Die Luft war erfüllt von Wohlgerüchen. Überall wehten Seidenbanner, und auf den hohen Palasttürmen hatten die Elfenmagier mit ihren Zaubern begonnen. Kristalle brachen Licht in schillernde Regenbogen. Goldene Fontänen schossen in den Himmel und öffneten sich zu vielfarbigen Blüten. Selbst die einfachen Häuser, die über keine Zauberer geboten, erstrahlten in goldenem Licht. Dort hatte man hunderte von Öllämpchen aufgestellt, um an der Nacht der Lichter teilzuhaben.
Der warme Klang von Schilfrohrflöten drang an Ollowains Ohr. Kurz erhaschte er einen Blick in eine enge Gasse, in der Minotauren tanzten. Sie hatten goldene Räucherfässer an ihre Hörner gebunden und wanden sich in ekstatischem Reigen zum Klang der Flöten. Dabei zogen sie weißblaue Rauchschlangen hinter sich her.
Aus dem Augenwinkel sah Ollowain etwas Längliches auf die Königin zurasen. Er stieß Emerelle zur Seite. Scheppernd schlug das Geschoss gegen die Brustplatte, die unter seinem Wams verborgen war. Erschrockene Rufe erklangen.
Die Königin war sofort wieder auf den Beinen und winkte der Menge zu. »Du bist zu nervös, Ollowain«, flüsterte sie und deutete auf den geschälten Ast, der vor ihm auf dem Boden des Nachens lag. In das helle Holz waren schwarze Runen eingebrannt. Ein Frauenname?
Hinter ihnen kletterten zwei Holde den glatten Mast hinauf und spähten der Königin neugierig über die Schultern. Einer hatte sein Haar zu fett glänzenden Zöpfen geflochten. Er grinste den Schwertmeister frech an und begann plötzlich zu singen:
»Der Ollowain, das Ritterlein, der hat wohl Angst, bepisst sein Bein.«
Emerelle brachte den Spötter mit einer harschen Geste zum Schweigen. Dann ließ sie den Blick suchend über die Menge schweifen. Schließlich deutete sie auf eine Kentaurin mit kurz geschorenem schwarzen Haar. Das Pferdeweib stieg auf die Hinterbeine und versuchte wild rufend die Aufmerksamkeit der Königin zu erhaschen. Emerelle bückte sich nach dem Stab, führte ihn an die Lippen und hauchte einen Kuss auf das helle Holz. Dann warf sie ihn in weitem Bogen der Kentaurin entgegen. »Ein Amulett«, erklärte sie. »Die Kentauren glauben, wenn ihre Frauen einen Stab aus Weidenholz bei sich tragen, den ich berührt habe, dann werden sie in der nächsten Liebesnacht einen Sohn empfangen.«