»Wo ist der Fährmann?«, fragte Alfadas laut.
Der Blonde hob den Kopf. Er hatte wässrige blaue Augen. Seine hängenden Backen, der ungepflegte Schnauzbart und sein fliehendes Kinn ließen ihn mürrisch und selbstmitleidig erscheinen. »Heute geht keine Fähre mehr.«
»Kann ich das vom Fährmann selbst hören?«
Der Mann am Tisch zog eine Grimasse und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Er liegt hinter dem Haus begraben. Er wird dir sicher geduldig zuhören, wenn du dich beschwerst. Diesen Sommer hat ihn der Schlagfluss getroffen, als er am Steuer stand. Er ist über Bord gekippt und versunken wie König Osaberg in seiner goldenen Rüstung. Als sie ihn endlich aus dem Wasser hatten, war nichts mehr zu machen. Die Ältesten aus Honnigsvald haben mich und meine beiden Brüder zu neuen Fährleuten bestimmt, weil wir den verschuldeten Hof unseres Vaters nicht mehr halten konnten. Für ein elendes Kupferstück werde ich dich bei diesem Hundewetter nicht übersetzen.« Er deutete auf die Schlafnischen entlang der Wand. »Du kannst hier übernachten. Auf dem Feuer steht noch ein Rest Suppe. Morgen setz ich dich dann über.«
»Der König erwartet mich«, sagte Alfadas, bemüht, nicht drohend zu klingen. »Glaub mir, ich würde mich auch lieber ans Feuer setzen und warten, dass diese Regennacht endet.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Blonden. Ihm war klar, dass er jetzt keine andere Wahl mehr hatte, als den Fremden über den Fjord zu bringen. Aber er hatte die freundliche Geste zur Kenntnis genommen. Nun musterte er Alfadas neugierig. »Du bist der Elfenjarl, nicht wahr? An deiner Seite ... Das ist das berühmte Zauberschwert.«
Er war diese Geschichten so leid! »Ich bin einfach nur ein Jarl, den der König zu sich befohlen hat.« Der junge Fährmann grinste jetzt breit. Ihm fehlten die oberen Schneidezähne. »Nein, nein. Mir machst du nichts vor. Dieses prächtige Schwert ... Und du bist von Norden gekommen. Du musst der Elfenjarl sein! Man erzählt sich, die Königin der Elfen und ihr ganzer Hofstaat wären in Firnstayn zu Besuch. Sie haben goldene Zelte mitgebracht und wundersame Tiere. Und die Luft ist erfüllt von Zauberei und Bratenduft.«
Er sprang auf und ging zu den hintersten beiden Schlafnischen hinüber. »Torad, Mag! Los, raus aus dem Stroh! Wir setzen noch einmal über. Der Elfenjarl ist hier und verlangt, zum König gebracht zu werden.«
Alfadas seufzte. Wahrscheinlich hoffte der Blonde darauf, dass er am anderen Ufer einen Stein aufhob und als Lohn in Gold verwandelte. Die Brüder des Fährmanns zogen sich hastig an. Sie starrten ihn an, als sei er ein dreibeiniges Huhn oder irgendein anderes Wundertier. So wie ihr Bruder hatten sie zerzaustes blondes Haar. Sie schienen etwas jünger als er zu sein. Einem war ein halbmondförmiges, rotes Mal in die Wange gebrannt. Das Zeichen für Diebe. Als der Junge bemerkte, wie Alfadas ihn ansah, drehte er ihm trotzig den Kopf zu, sodass der Jarl die Narbe noch besser sehen konnte.
»Mag hat einen Laib Brot gestohlen, als wir drei Tage lang nichts mehr zu essen hatten«, sagte der Fährmann ungefragt.
»Er war so schwach, dass er nicht mehr schnell genug laufen konnte, als sie ihn verfolgten.« Alfadas bemühte sich, nicht mehr in Richtung des Jungen zu blicken.
Der Blonde legte dem Jarl den Arm um die Schultern und brachte ihn hinaus. »Ich heiße Kodran.« Regen schlug ihnen ins Gesicht.
Alfadas holte seinen Grauen, während die Brüder die Fähre bereit machten. Es war ein großes, flaches Boot. Zwei Fuhrwerke hätten darauf Platz oder ein ganzer Trupp Reiter. Der Jarl fühlte sich ein wenig verloren, als er an Bord ging. Es war nicht gerecht, dass sich die drei Brüder die ganze Mühe nur für einen Mann machten.
Sie stakten die Fähre vom Anlegeplatz fort. Dann griffen Torad und Mag nach zwei langen Rudern, während Kodran im Heck blieb. Erst als sie ein gutes Stück hinaus auf dem Wasser waren, konnte man am anderen Ufer ein paar Lichter erkennen.
Alfadas zog sich den nassen Umhang enger um die Schultern. Er war zu kurz im Fährhaus gewesen, als dass auch nur ein Faden hätte trocknen können. Aber lange genug, um nun umso mehr zu frieren.
Die Fahrt über den Fjord schien eine Ewigkeit zu dauern. Alfadas hatte ein schlechtes Gewissen, die drei Brüder in die Nacht hinausgejagt zu haben. Er tastete nach seinem Geldbeutel. Das Leder war vom Regen ganz glitschig geworden. Mit spitzen Fingern nestelte er daran herum, bis er endlich die Riemen aufhatte. Dann angelte er eines der schweren Silberstücke aus Aniscans heraus. Es waren schöne Münzen mit einem Pferdekopf auf einer Seite. Sie gehörten zu seiner Beute aus dem letzten Sommer. Asla würde es sicher nicht gut heißen, wenn sie wüsste, wie großmütig er mit dem Geld umging. Aber eifersüchtig seine Münzen zusammenzukratzen, gehörte zu den Dingen, die ihn die Elfen nicht gelehrt hatten.
Der Fährkahn stieß gegen die tauumwickelten Holzstreben des Landungsstegs. Mag sprang von Bord und vertäute das schwere Boot. Dann machte er sich an einem Flaschenzug zu schaffen und klappte eine Zugbrücke auf das flache Deck der Fähre hinab.
Dicke, quer genagelte Bretter sorgten dafür, dass sein Grauer Halt fand, als Alfadas die Rampe hinaufstieg. Der Hengst war sehr nervös. Vom stundenlangen Regen war das Holz so rutschig geworden, als habe man es mit Tran eingeschmiert. Die Hufe des Grauen trommelten schwer auf der Zugbrücke.
Kodran griff in die Zügel und half dem Jarl, das Pferd auf den Landungssteg zu bringen. »Wirst du morgen zurückmüssen?«, fragte der Fährmann, als sie es geschafft hatten.
Der Jarl nickte.
»Dann bleiben wir hier. Wir schlafen in einem der Bootsschuppen.« Alfadas drückte dem Fährmann das Silberstück in die Hand. »Ich habe nicht genug Geld, um das zu wechseln«, sagte Kodran mürrisch.
»Dann sagen wir einfach, dass ich für morgen schon mitbezahlt habe.«
»Selbst dann ...«
Alfadas machte eine abwehrende Geste. »Ich habe deinen Bruder mit meinem Blick beleidigt und euch drei aus der warmen Stube gescheucht. Gewähre mir die Gnade, euch nicht nur Ärger zu machen. Ich schätze, das Silber wird für genug Branntwein und Braten reichen, um die Kälte wieder aus euren Knochen zu vertreiben. Und für ein Nachtlager, das bequemer als ein Bootsschuppen ist.«
Kodran grinste breit. »Ich hoffe, du wirst noch öfter nach Honnigsvald gerufen, Elfenjarl.«
Alfadas umfasste das rechte Handgelenk des Fährmanns im Kriegergruß. Kodran zuckte erschrocken zurück, doch der Jarl hielt ihn fest. »Für mich ist dies ein Gruß unter Männern, die ihre Arbeit gut machen. Ganz gleich, ob auf dem Schlachtfeld oder an einem Ruder. Wir sehen uns morgen, Kodran.« Er griff nach den Zügeln des Grauen und schritt den Landungssteg hinauf zur Stadt. Die Pferdehufe machten einen Lärm wie Donnergrollen. »Wer da?«, rief jemand aus einem Verschlag am Ende des Stegs. Die Blende einer Holzlaterne wurde zurückgezogen. Ein Streifen goldenes Licht schnitt durch die Dunkelheit.
»Jarl Alfadas Mandredson!«
»Du bist noch gekommen? Hier hat keiner mehr mit dir gerechnet.« Ein alter Mann trat aus dem Unterstand. »Ich bin der Hafenwächter«, erklärte er stolz und ohne sich darum zu scheren, dass wohl niemand außerhalb von Honnigsvald einen einzelnen Holzsteg einen Hafen nennen würde. »Jetzt bringe ich dich hinauf zur Festhalle. Sei vorsichtig, Jarl. Der Regen hat die Wege aufgeweicht. Tritt bloß in keine Pfütze. Manche sind knietief.« Der Nachtwächter führte ihn durch das hölzerne Hafentor ins Weberviertel und dann den Hügel hinauf zur Festhalle der kleinen Stadt. Schon von weitem konnte man den Lärm eines Gelages hören.
Alfadas bestand darauf, seinen Hengst selbst zu den Ställen zu bringen. Erst als er das Pferd gut versorgt wusste, ließ er sich hinauf zum Festsaal führen.
Ein großes Feuer brannte in der Mitte der Halle, und ein Ochse drehte sich auf einem eisernen Spieß. Ringsherum drängten sich auf einfachen Bänken und Tischen dutzende Männer und zechten. Für den König hatte man eine lange hölzerne Plattform errichtet. So saßen er und einige ausgewählte Krieger seines Gefolges höher und waren von überall in der Halle gut zu sehen. Alfadas hatte noch nie Gefallen an Feiern gefunden, bei denen man sich besinnungslos besoff, um am nächsten Morgen in seinem eigenen Erbrochenen zu erwachen. Die ersten Opfer der Freudennacht lagen schon unter den Bänken.