Ollowain hörte die Worte der Königin kaum. Ein dumpfes Geräusch, fast verdeckt vom Lärm des Festes, ließ ihn herumfahren. Der Holde, der ihn eben noch verspottet hatte, war von einem Pfeil an den Mast genagelt worden. Das Geschoss zitterte noch von der Wucht, mit der es sich in das Holz gebohrt hatte. Dunkles Blut troff von der Brust des Toten und sammelte sich am Gürtel, der den Lendenschurz hielt. Der Pfeil, der den Spötter getötet hatte, war schwarz, seine Befiederung dunkelgrau und weiß gestreift.
Ollowain zog Emerelle dicht an sich. So wie der Pfeil im Mast steckte, musste er aus erhöhter Position von einem der Schiffe aus abgeschossen worden sein. Dass die Königin sich nach dem Weidenholz gebückt hatte, hatte ihr vermutlich das Leben gerettet.
»Die Sänfte nieder!«, befahl Ollowain dem Anführer der Kentauren.
Orimedes sah verwundert zu ihm auf. »Hier, mitten im Gedränge? Bist du verrückt geworden?« Auch Emerelle versuchte sich aus dem Griff des Kriegers zu winden. Die Schmetterlinge ihres Kleides waren aufgestoben, um nicht zwischen den Leibern zerdrückt zu werden. Sie bildeten eine dichte Wolke um die Herrscherin. Das würde dem heimtückischen Schützen das Zielen erschweren! Es waren nur wenige Augenblicke verstrichen, seit der Pfeil den Holden getroffen hatte. Doch ein geübter Bogenschütze vermochte drei Pfeile in die Luft zu bekommen, bevor der erste in seinem Ziel einschlug.
Wie als Antwort auf Ollowains Gedanken bohrte sich dicht neben ihm ein zweites Geschoss in eine der Ruderbänke. Der Pfeil hatte sie um kaum mehr als Handbreite verfehlt. Dass der Bogenschütze nicht getroffen hatte, war gewiss nur den Schmetterlingen zu verdanken. Zu hunderten schwirrten sie nun um die Königin herum.
»Herrin, du wirst sterben, wenn du darauf bestehst, auf der Sänfte zu bleiben«, sagte Ollowain ruhig. Jetzt, wo er endlich handeln konnte, war seine Anspannung gewichen.
»Küss sie!«, grölte jemand in der Menge, der Ollowains Handeln gründlich missverstanden hatte. Der Schwertmeister zog die Königin mit sich zur Reling.
Er packte sie bei den Hüften und sprang hinab. Schmetterlingsflügel streiften seine Wangen. Er konnte kaum etwas sehen.
»Schau zum Mast!«, rief er dem Kentaurenfürsten zu. »Jemand schießt auf uns!« Ollowain zog Emerelle unter den Rumpf des Bootes. Hier waren sie in Sicherheit. Rings herum erhob sich Geschrei. Wahrscheinlich hatten die ersten Schaulustigen den toten Holden gesehen.
»Wir müssen verheimlichen, was geschieht.« Emerelle machte sich aus Ollowains Umklammerung los. »Wenn jetzt eine Panik ausbricht, werden vielleicht hunderte zu Tode getrampelt.«
»Du darfst dich nicht zeigen!«, begehrte der Schwertmeister auf. »Bisher hast du Glück gehabt, Herrin. Schon der nächste Schuss könnte dich töten. Wir dürfen dem Mörder keine weitere Gelegenheit geben. Du musst zurück in den Palast!«
»Warum glaubst du, dass mich ein Mann töten will?«
»Ob Mann oder Frau, ist jetzt gleichgültig. Das Einzige, was zählt, ist deine Sicherheit, Herrin! Du musst zurück zum Palast!« Ollowain war sich nur allzu bewusst, warum er nicht darüber sprechen wollte, ob auch eine Frau geschossen haben könnte. Er hätte Silwyna nicht ins Vertrauen ziehen dürfen!
»Sagt den Elfen im Gefolge, sie sollen absteigen, und sorge dafür, dass die Holden den Toten vom Mast nehmen«, rief Ollowain dem Kentaurenfürsten zu.
Emerelle trat unter dem schützenden Boot hervor.
Sofort war der Schwertmeister an ihrer Seite. »Herrin, bitte ...« Er sah das Blinken von Stahl, dicht bei der Königin. Eine Klinge! Er stieß eine junge Elfe zurück und bemerkte erst dann, dass ihre polierte Gürtelschließe ihn genarrt hatte. Emerelle legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn zurück.
»Vergiss nicht, dass auch ich einmal eine Kriegerin war«, sagte sie. »Inmitten der Albenkinder wird mich der Bogenschütze nicht treffen können.«
»Und wenn es einen zweiten Mörder gibt? Wie soll ich dich hier vor einer Klinge schützen?« Die Antwort Emerelles ging in Jubelrufen unter. Eine Schar Kobolde entdeckte die Königin und drängte auf sie zu. Die Schmetterlinge vom Kleid der Augen flüchteten und tanzten hoch über der Herrscherin in der Luft. Bald war Emerelle ganz von schwitzenden Leibern eingekeilt. Ein Lamassu, ein riesiger, geflügelter Stiermann aus dem fernen Schurabad, pflügte durch die Menge und versuchte mit seiner Donnerstimme, den Lärm zu übertönen, um Emerelle in eine philosophische Diskussion über die Vergänglichkeit aller Dinge zu verwickeln. Endlich schaffte es Ollowain, die jungen Elfen aus dem Gefolge im Kreis um die Königin aufzustellen. Unversehens ließ das Gedränge etwas nach. In diesem kurzen Augenblick ging eine seltsame Veränderung mit der Königin vor sich. Plötzlich wirkte sie verletzlich wie ein Kind.
Das Lärmen rings herum verebbte. Eine Gasse bildete sich vor ihnen. Fischer, Fernhändler und Weise standen in stummem Staunen. Es schien, als schreckten sie davor zurück, diese zerbrechliche Gestalt zu sehr zu bedrängen. Nun kamen sie leichter voran. Immer wieder blieb die Königin stehen, um durch das Spalier ihrer Wachen hindurch Hände zu schütteln oder ein paar Worte zu wechseln. Sie durchquerten einen Park, in dem Magier Figuren aus Blütenblättern durch die Luft tanzen ließen.
Ollowain hatte keinen Blick für die Schönheit des Zaubers. Argwöhnisch musterte er die dichten Bäume und suchte nach einem weiteren verborgenen Schützen. Der Weg hinab zum Hafen zog sich in qualvolle Länge. Emerelle hingegen gab sich unbeschwert. Sie genoss es, bejubelt zu werden, und versprühte einen Liebreiz, dem selbst die stierköpfigen Minotauren nicht zu widerstehen vermochten, obwohl sie allgemein für ihre griesgrämige Religiosität verschrien waren, die kein Lächeln oder gar lauten Jubel duldete.
Unbehelligt gelangte die Herrscherin bis zu dem Kai, an dem die Mondschatten vertäut lag. Selbst Ollowain, der Emerelle täglich so nahe kam wie kaum ein Zweiter in ihrem Gefolge, fühlte sich ergriffen von der Aura seiner Königin. War es ein Zauber? Oder war es das wahre Gesicht der Herrscherin, das sich auf einmal zeigte? Er vermochte es nicht zu sagen.
Die Wachen der königlichen Prunk-Liburne bildeten ein Spalier, als ihre Gebieterin an Bord kam. Auf dem Hauptdeck standen entlang einer festlichen Tafel die bedeutendsten Fürsten Albenmarks. Kein Platz war leer geblieben. Ollowain musterte die stolzen Gesichter. Die Mehrheit der Fürsten waren Elfen. Sie vertraten die Völker der Meere und Ebenen, der fernen Inseln und der Eisebenen aus der Snaiwamark.
Sie alle verbeugten sich vor Emerelle, als sie das Schiff betrat, selbst Shahondin von Arkadien. Manche der Edlen lächelten ironisch, wie um der altüberlieferten Geste der Ehrerbietung etwas von ihrem Pathos zu nehmen. Doch keiner wagte es, Emerelle offen herauszufordern, indem er ihr die Verbeugung verweigerte. Die Schmetterlinge hatten sich wieder auf Emerelles Gewand niedergelassen. Das Bad in der Menge hatte der Königin nichts von ihrer majestätischen Erscheinung genommen. Gemessenen Schrittes stieg sie zum Achterdeck hinauf, wo alle Gäste sie sehen konnten.
Eine junge Elfe trat an Ollowains Seite. Yilvina. Ollowain hatte sie zur Kommandantin der Elfengarde auf der Mondschatten bestimmt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie leise.
»Nein«, murrte der Schwertmeister. »Sieht es so aus? Welche Vorkehrungen hast du zur Sicherheit der Königin getroffen?«
»An Bord stehen zweiundsiebzig Krieger unter Waffen. Die Mastkörbe sind mit Armbrustschützen besetzt. Auf dem Achterdeck stehen meine zuverlässigsten Kämpfer. Sie alle sind mit Turmschilden gewappnet, so wie du es befohlen hast. Und sollte es zum Schlimmsten kommen, sind drei verschiedene Fluchtwege vorbereitet.« Ollowain entspannte sich ein wenig. Er hatte mit Yilvina gemeinsam in vielen Schlachten gekämpft. Selbst beim Massaker in Aniscans, als sie von einer Übermacht von Barbaren eingekreist worden waren, hatte sie einen kühlen Kopf bewahrt. Der Schwertmeister besah sich, wie die Wachen postiert waren, und nickte zufrieden. Die Krieger auf dem Achterdeck hatten altmodische Rüstungen mit Brustplatten aus polierter Bronze angelegt. Prächtige Federbüsche wehten von ihren silbernen Helmen. Sie trugen große, ovale Schilde, die mit wunderbaren Bildern bemalt waren. Auf den arglosen Betrachter wirkten sie nicht bedrohlich, sondern wie ein Teil einer großartigen Kulisse bei einem Fest, das so alt wie die Elfenvölker selbst war. Und doch mochten ihre Schilde binnen eines Herzschlags zu einer hölzernen Mauer werden, die sich zwischen die Königin und jeden Feind schob.