»Alle hier wissen um meine Neugier«, sagte Emerelle in aufgeräumten Plauderton. »Also überrasche mich!«
Der Schwertmeister bewunderte die Königin für ihren Mut. Sie wusste um die Gefahr, und doch machte sie gute Miene zum bösen Spiel. Hätte sie Shahondins Geschenk abgeschlagen, wäre allen Anwesenden offenbar geworden, dass sie sich vor dem Fürsten von Arkadien fürchtete. Das wäre einem Signal an alle Unzufriedenen gleichgekommen! Vielleicht war es auch einfach nur ein Geschenk? Gesten dieser Art waren nicht unüblich.
»Unten auf dem Kai wartet meine Enkelin, Lyndwyn«, sagte Shahondin, und ein leichter Tadel schwang in seiner Stimme.
»Deine Wachen haben ihr nicht gestattet, das Schiff zu betreten. Für ihre Jugend hat sie in der Kunst der Magie eine außerordentliche Meisterschaft erreicht. Niemand in Arkadien vermag sich mit ihr zu messen.«
»Spricht das nun für die Begabung deiner Enkelin oder gegen die Zauberer deiner Sippe?«, warf Hallandan von Reilimee ein und erntete zustimmendes Gelächter.
Shahondin wurde eine Spur blasser, versuchte seinen Zorn aber zu überspielen. »Urteilt selbst, wenn ihr gesehen habt, was Lyndwyn vermag.«
Emerelle gab Yilvina, die sich wieder bei den Posten zum Aufgang der Prunk-Liburne eingefunden hatte, ein Zeichen. Eine Elfe, gewandet in Schwarz und Silber, wurde an Bord gebracht. Lockiges schwarzes Haar wallte auf ihre Schultern hinab. Ihre blasse Haut war mit Bandag bemalt. Dunkle Schlangen schmückten ihre Arme, und der Kopf einer Kobra prangte auf ihrer Stirn. Hohe Wangenknochen betonten Lyndwyns schmales Gesicht. Ihre Augen waren lindgrün und mit goldenen Sprenkeln durchsetzt. Die schmalen Lippen deuteten zielgerichtete Verbissenheit an. Welche Opfer mochte die Elfe wohl gebracht haben, um schon so jung als Meisterin der magischen Künste zu gelten, fragte sich Ollowain. Ob sie ihm ähnlich war? Er dachte an den Preis, den er entrichtet hatte, um zum Schwertmeister Albenmarks zu werden.
Lyndwyn verbeugte sich formvollendet vor der Königin. »Ich danke dir, Herrin. Die Erlaubnis, unter deinen Augen Zeugnis meines Könnens abzulegen, ehrt mich.«
»Danke mir, nachdem dein Schaustück geglückt ist, Lyndwyn. Ich habe die besten Zauberer eines ganzen Zeitalters gekannt, und ich werde ihr Andenken nicht schmälern, indem ich dir applaudiere, wenn mich deine Kunst nicht überzeugt.«
Ollowains Hand ruhte noch immer auf dem Schwertgriff. Er war sich nicht sicher, ob Shahondin seine Enkelin ohne Hintergedanken geschickt hatte.
Lyndwyn schienen die abweisenden Worte der Königin nicht weiter zu beeindrucken. Mit einer Selbstsicherheit, die an Überheblichkeit grenzte, begann sie ihr Werk. Die Magierin hauchte ein Wort der Macht, und vor ihr erglomm ein schwebender Funke, kaum so groß wie ein Glühwürmchen. Eine knappe Geste, und der Lichtpunkt begann zu tanzen. Er zeichnete den Umriss eines Vogels gegen den dunklen Nachthimmel. Schneller und schneller wirbelte er umher, hob einzelne Konturen hervor und ließ das Bild immer plastischer werden. Bald schon war das Federkleid herausgearbeitet; ein langer gebogener Schnabel folgte. Der Vogel blähte sich auf, wurde groß wie ein Pferd. Er streckte die Flügel, wie um die Kraft seiner Schwingen zu erproben. Und noch immer fügte der wirbelnde Lichtpunkt dem lebendig werdenden Bild neue Konturen hinzu. Mal vertiefte er das Orange des glutfarbenen Gefieders, dann fügte er einen Lichtpunkt bei den dunkelroten Augen hinzu. Plötzlich ging von der Flammengestalt glühende Hitze aus. Aus den Reihen der Fürsten ertönte ehrfürchtiges Raunen. Mit befehlender Geste ließ Lyndwyn den Vogel höher in den Himmel steigen, um Emerelles Gäste vor dem Gluthauch zu bewahren.
Ollowain legte den Kopf in den Nacken. Das Zauberbild veränderte sich noch einmal. Es war nun kein Abbild mehr, es schien zum Leben erwacht zu sein und bäumte sich gegen den Willen der jungen Magierin auf. Nie zuvor hatte der Schwertmeister gesehen, wie aus nichts als einem Funken Licht etwas Lebendiges erschaffen worden war. Das Zauberkunststück hatte ihn ganz in den Bann geschlagen, und er vergaß für den Augenblick seine Sorge um Emerelle.
»Hinaus auf die See mit dir!«, befahl Lyndwyn.
Der Feuervogel stieß einen schrillen Schrei aus. Dann flog er den Hafentürmen entgegen. Auch sie waren in dieser Nacht in fahles, blauweißes Zauberlicht getaucht. Ollowain erschienen sie wie zwei einsame Schildwachen am Rand der Finsternis. Jenseits der Türme waren nicht einmal Sterne zu sehen. Wolken hatten ihr Licht verschluckt.
Kaum hatte der Vogel die Türme hinter sich gelassen, verschwand er.
Lyndwyn schien verwirrt. Sie machte eine zögerliche Geste und blickte gebannt in die Finsternis. Einer der Fürsten klatschte in die Hände, dann fiel ein Zweiter in den Applaus ein und ein Dritter. Die meisten jedoch blickten zur Hafeneinfahrt. Sie alle schienen noch etwas zu erwarten. Das konnte nicht das Ende von Lyndwyns Auftritt gewesen sein!
Und tatsächlich erglommen dicht über dem Wasser kleine Lichtpunkte. Zunächst noch vereinzelt, wurden es binnen weniger Augenblicke Dutzende. Und dann stiegen die ersten der leuchtenden Punkte in steilem Bogen dem Himmel entgegen. Manche zerbrachen dabei und stürzten zurück in die See. Die meisten jedoch stiegen höher und höher.
Das Spektakel war ungewöhnlich anzuschauen. Wo der Vogel als einzelne, vollkommene Gestalt überzeugt hatte, war es hier die Masse, die beeindruckte. Als der erste der Lichtpunkte den Zenit seiner Flugbahn überschritten hatte und, langsam größer werdend, dem Hafen entgegenstürzte, begriff der Schwertmeister, was er da sah. Feuerkugeln! In der Finsternis jenseits der Hafentürme musste eine Flotte liegen! Und sie hatte angefangen, Vahan Calyd zu beschießen.
Fauchend zerbarst eine Feuerkugel zwischen den Masten der Wellentänzer, des Flaggschiffs Hallandans von Reilimee. Sofort waren die gerefften Segel in Brand gesetzt. Einer der Masten neigte sich zur Seite und zerfetzte das Takelwerk. Eine weitere Kugel zerbarst auf einem nahe gelegenen Kai.
»Schildwachen zu mir!«, befahl Ollowain, doch die jungen Krieger starrten wie gelähmt auf das Inferno. Wütend fuhr er herum. »Herrin, du musst ...« Eine Feuerkugel schlug auf das Achterdeck, ihr Gluthauch versenkte Ollowains Haar. Wirbelnde Funken und beißender Rauch erfüllten die Luft. Fauchend schlugen Geschosse ins Wasser. Steuerbord stand ein großer Segler in hellen Flammen. Die Luft war erfüllt von Schreien. Wie betäubt starrte der Schwertmeister dorthin, wo eben noch Emerelle gesessen hatte. Doch der Thron war verschwunden – hinweggefegt von einer Feuerkugel. Beiläufig bemerkte Ollowain, dass der Ärmel seines Hemdes schwelte. Doch er fühlte keinen Schmerz. Es war wie in einem Traum.
»Herrin?« Ollowain ging in den Rauch. Überall auf Deck lagen Klumpen aus gepresstem Stroh. Was waren das für Geschosse? Er trat auf etwas Weiches. Eine abgerissene Hand! Er ging in die Knie und versuchte, mit den Armen wedelnd, den Rauch zu vertreiben. Vor ihm lag Sansella. Ihr Kopf war in groteskem Winkel verdreht, das Gesicht ein blutiger Klumpen. Er erkannte sie allein an dem schwelenden Kleid. Noch während er das Mädchen anstarrte, ging der Stoff in Flammen auf.
Überall an Deck wanden sich Schmetterlinge. Mit verbrannten oder zerdrückten Flügeln versuchten sie vergebens, den Flammen zu entkommen, die sich immer weiter ausbreiteten. Scherben eines groben Tonkrugs lagen herum. Sie waren bedeckt von einer zähen, klebrigen Masse.
Geistesabwesend schlug der Schwertmeister auf sein Hemd und erstickte den Schwelbrand. Er spürte nicht, wie sich Funken in sein Fleisch fraßen.
»Emerelle?« Ollowain stieg über einen toten Krieger der Leibwache hinweg. Und dann sah er die Königin. Sie war halb unter schwelendem Stroh begraben. Kleine Brandnarben wie Pocken zeichneten ihr Antlitz. Mit bloßen Händen mühte sich Ollowain, das glimmende Stroh zur Seite zu stoßen.
»Wachen zu mir!«, rief er verzweifelt.
Endlich kam Bewegung in die jungen Soldaten. Sie halfen dem Schwertmeister, bis alles Stroh entfernt war. Das Untergewand der Königin war halb verbrannt, ihr Körper von großen, nässenden Wunden gezeichnet. Unter ihrem Rippenbogen steckte der Splitter eines zerschlagenen Tongefäßes.