Steve Whitton
Engelsblut
Im Gedenken an KHM.
Du fehlst mir, alter Knabe.
Prolog
Der Winter der Bestie
In Ancaria sagte man, im Königreich der Hoffnung gebe es keinen Winter. Doch solche Binsenweisheiten konnten nur von jemandem stammen, der daheim bei einem prasselnden Kaminfeuer im Warmen saß, vor sich auf dem Tisch einen dampfenden Braten und ein Maß Met, und sich keine Gedanken darüber machen musste, wie er die nächsten Tage und Nächte überstehen sollte. Davon war Svenja überzeugt. Hier draußen, inmitten des Krüppelmoors, wo einem bei jedem Atemzug feine weiße Wölkchen aus Mund und Nase quollen und klirrender Frost die Natur mit glitzerndem Weiß überzog, sah die Sache anders aus; hier gab es sehr wohl einen Winter, und einiges sprach dafür, dass er diesmal noch härter werden würde als in den vergangenen Jahren. Schon jetzt, Mitte November, blühten morgens große Eisblumen an den Fenstern der kleinen Hütte am Ortsrand von Moorbruch, in der Svenja zusammen mit ihrer Mutter, ihren drei Geschwistern und ihrer Großmutter lebte, und wenn man ohne dicke Socken oder wollene Untergewänder vor die Tür trat, forderte man geradezu heraus, sich den Tod zu holen. Vor allem, wenn man in einem fort Gefahr lief, sich nasse Füße zu holen. Zwar wusste die junge Torfstecherin genau, wo im Moor die Stellen waren, an denen sich nicht genügend Pflanzenmasse abgelagert hatte, um festen Boden zu bilden, doch zumeist reichte ein falscher Schritt, um bis zu den Knöcheln in eiskaltem Brackwasser zu stehen.
Das Krüppelmoor verdankte seinen Namen den verwachsenen Zwergkiefern, die hier und da zwischen den Wasserläufen und Torfablagerungen aufragten wie deformierte Wichtel. Besonders dann, wenn Nebel über dem Gebiet lag, wirkten die Bäume wie jene unglücklichen Sonderlinge, die Svenja vor ein paar Jahren auf dem Jahrmarkt gesehen hatte, der nach Moorbruch gekommen war: missgebildete Menschen und Tiere mit zwei Köpfen oder drei Armen, mit viel zu kurzen Beinen und überdimensional großen Schädeln. Damals, als sie mit ihren beiden jüngeren Schwestern Miri und Helena vor der Bretterbühne gestanden und den Aufmarsch verkrüppelter Männer und Frauen verfolgt hatte, die vom Schicksal mit offenen Hasenscharten, maskenähnlichen Knochenwülsten und Hautwucherungen geschlagen waren, hatte der Anblick sie zugleich abgestoßen und mit tiefer Trauer erfüllt. Was war das für ein Leben, vor aller Welt zur Schau gestellt, damit sich der gemeine Pöbel am Leid dieser armen Seelen ergötzen konnte? Sie war instinktiv froh darüber, selbst besser davongekommen zu sein.
Besonders beeindruckt hatte Svenja ein Dunkelelfen-Baby. Es war laut des Unglaublichen Maleeni – der so etwas wie der Leiter des Jahrmarkts und ein kleiner, ungeheuer dicker Mann mit lauter, tragender Stimme und Segelohren war – unmittelbar nach der Geburt von seiner eigenen Mutter getötet worden; angeblich taten das die Dunkelelfen mit jedem zweiten ihrer Nachkommen, um auf diese Weise noch mehr Seelen für ihren verderbten Totenkult zu sammeln. Das Baby schwamm in einem runden Glasbehälter mit gelblichem Alkohol, ein aufgedunsenes, graues nacktes Etwas mit winzigen Händen und Füßchen. Eigentlich sah es wie ein ganz normales Menschenbaby aus – wären da nicht die spitzen Ohren, die pupillenlosen nachtschwarzen Augen und der unnatürlich lange Unterkiefer gewesen, aus dem Dutzende und Aberdutzende kleiner, spitzer Zähne ragten wie bei einem Raubtier. Es war das erste Mal gewesen, dass Svenja einen Dunkelelfen zu Gesicht bekommen hatte, und sie hatte mindestens eine halbe Stunde dagestanden und das Baby angestarrt. Wochenlang danach hatte Svenja Alpträume gehabt, in denen sie dicht an den Behälter herantrat, sich vorbeugte, um genauer hinzusehen – und das Baby plötzlich mit weit aufgerissenem Maul vorwärts schoss, durch das zersplitternde Glas, um ihr seine kleinen, nadelspitzen Zähne ins Gesicht zu graben. Irgendwann hatten die Träume aufgehört, doch der Anblick des Dunkelelfen-Babys hatte sich in ihre Erinnerung gegraben wie ein glühend heißer Nagel in einen Kupferstich. Das Schlimmste dabei war jedoch nicht der Gedanke an das Baby selbst, das so menschlich aussah und doch von einer so vollkommen anderen Art war als sie selbst; viel schlimmer fand Svenja, dass dieses junge Leben ausgerechnet von seiner eigenen Mutter ausgelöscht worden war, von der Person, die es eigentlich lieben und behüten sollte – das war das wirklich Unmenschliche daran.
Gleichwohl, jetzt, als sie mit weit ausholenden Schritten durch das Moor marschierte, in der rechten Hand eine Schaufel, auf dem Rücken einen Riemenkorb mit frisch gestochenem Torf, schalt Svenja sich eine Närrin, weil sie damals so gedacht hatte. Dunkelelfen waren keine Menschen, sondern bösartige Kreaturen einer anderen, uralten Rasse, beseelt von Mordlust und Barbarei, und es war töricht zu glauben, dass sie imstande waren, Gefühle wie Liebe oder Mitgefühl zu empfinden; wie konnten diese Ungeheuer sonst so grausam zu ihren eigenen Nachkommen sein?
Svenja versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, und obwohl sie wie alle anderen wusste, dass die Dunkelelfen die Dunklen Gebiete im Nordosten des Königreichs seit Jahrhunderten nicht verlassen hatten, beschleunigte sie unwillkürlich ihre Schritte, als sie im dichten Unterholz unversehens ein leises Rascheln vernahm, wie von einem Rattenbiber, der sich ins schwarze Wasser des Torfmoors gleiten ließ, um sich sein Abendessen zu fangen.
Svenja fröstelte. Bei Tage hielt der matte, milchige Schein der Sonne die Kälte zumindest halbwegs zurück, doch jetzt, in der Dämmerung, blies ihr der nahende Winter seinen eisigen Atem ins Gesicht, sodass Svenjas Vorfreude auf einen warmen Platz am Feuer mit jedem Schritt in Richtung Moorbruch zunahm. Vermutlich wartete ihre Familie schon ungeduldig auf ihre Rückkehr, denn Svenja hatte sich an diesem Nachmittag ins Moor begeben, um Torf zum Heizen zu stechen; das war für sie als Frau nicht ganz so anstrengend wie mit der Axt in den Wald zu gehen und Brennholz zu schlagen, zumal es im Moor in Hülle und Fülle Torf gab.
Leider war Torf so ziemlich das Einzige, an dem es in dieser abgelegenen Region von Ancaria nicht mangelte – Torf und jede Menge Brennereien, in denen der berühmte Moorbrucher Whiskey destilliert wurde, der durch die Verwendung des Moorwassers beim Brennen seinen ganz eigenen, erdigen Geschmack erhielt. Er wurde im ganzen Königreich geschätzt. Davon abgesehen jedoch lagen die Zeiten, in denen diese Gegend für das Reich von Bedeutung war, lange zurück. Ja, mehr noch: Längst stellten die kleinen Torfstechersiedlungen inmitten der ausgedehnten Moore das Armenhaus Ancarias dar. Wer hier lebte, tat das nicht freiwillig, sondern weil ihm keine andere Wahl blieb.
Svenja war da keine Ausnahme. Ihr größter Traum war, von hier wegzugehen und anderswo ein neues, besseres Leben zu beginnen, doch was hatte eine ungebildete junge Frau wie sie in einer Stadt wie Burg Hohenmut oder Burg Krähenfels schon zu gewinnen? Allenfalls ein Dasein als Straßenmädchen, doch selbst dabei konnte sie nur versagen, weil Svenja noch nie mit einem Mann das Nachtlager geteilt hatte – nicht, weil sie hässlich war oder niemand etwas von ihr wissen wollte, sondern weil sie nach dem Tod ihres Vaters vor einigen Jahren den Großteil der Verantwortung für ihre Familie trug. Bei all der Plage, genügend Essen auf den Tisch zu bekommen, um alle hungrigen Mäuler zu stopfen, war für Herzensangelegenheiten schlichtweg keine Zeit – ganz zu schweigen davon, dass kein Mann, der auch nur halbwegs klaren Verstandes war, sich aus freien Stücken mit einer Frau abgeben würde, die gleich ihre gesamte Sippe mit in die Verbindung brachte. Dabei sehnte sie sich danach, jemanden zu haben, mit dem sie die Last ihres Daseins teilen konnte, der ihr das Gefühl gab, eine Frau zu sein, nicht nur ein Arbeitstier. Doch insgeheim hatte sich Svenja bereits damit abgefunden, dass ihr Leben irgendwann ebenso jungfräulich zu Ende gehen würde, wie es neunzehn Winter zuvor begonnen hatte. Da tröstete es sie kaum, dass sie nicht die Einzige in Moorbruch war, der es so erging ...